Sicherstellungsauftrag

Laut Presseberichten vom 16. Dezember 2006 gibt es in Hessen einen akuten Versorgungsengpass im Bereich von Magenspiegelungen, da sich offenbar eine Vielzahl von Ärzten weigert, solche Leistungen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen vorzunehmen. Der Pressebericht legt nahe, dass es sich hierbei um eine abgesprochene Aktion handelt, um finanzielle Interessen in einer Auseinandersetzung mit der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen durchzusetzen.

Diese Vorbemerkung des Fragestellers vorangestellt, beantworte ich die Kleinen Anfragen wie folgt:

Frage 1. Worauf bezieht sich der sog. "Sicherstellungsauftrag" der Kassenärztlichen Vereinigung in Bezug auf:

a) Umfang der medizinischen Leistungen (nur Notfallversorgung oder alle notwendigen, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Leistungen)?

b) Zeitraum ihrer Erbringung?

c) räumliche Erfüllung (irgendwo in Deutschland oder bezogen auf welche regionalen räumlichen Einheiten)?

Gemäß § 75 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V haben die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen die vertragsärztliche Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 SGB V bezeichneten Umfang sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Die Sicherstellung umfasst auch die vertragsärztliche Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten (Notdienst), nicht jedoch die notärztliche Versorgung im Rahmen des Rettungsdienstes, soweit Landesrecht nichts anderes bestimmt.

Die vertragsärztliche Versorgung umfasst die

1. ärztliche Behandlung,

2. zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz; kieferorthopädische Behandlung nach Maßgabe des § 28 Abs. 2,

3. Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten,

4. ärztliche Betreuung bei Schwangerschaft und Mutterschaft,

5. Verordnung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation,

6. Anordnung der Hilfeleistung anderer Personen,

7. Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankentransporten sowie Krankenhausbehandlung oder Behandlung in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen,

8. Verordnung häuslicher Krankenpflege und häuslicher Pflegehilfe,

9. Ausstellung von Bescheinigungen und Erstellung von Berichten, die die Krankenkassen oder der Medizinische Dienst (§ 275) zur Durchführung ihrer gesetzlichen Aufgaben oder die die Versicherten für den Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts benötigen,

10. medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach § 27a Abs. 1,

11. ärztliche Maßnahmen nach den §§ 24a und 24b,

12. Verordnung von Soziotherapie (§ 73 Abs. 2 SGB V).

Aus dem Sicherstellungsauftrag ergibt sich vor allem die Verpflichtung der Kassenärztlichen Vereinigung, eine ausreichende Zahl von Ärzten ärztlich geleiteten Einrichtungen zuzulassen, damit den Versicherten eine bedarfsgerechte und gleichmäßige dem allgemeinen Stand der medizinischen Versorgung entsprechende ärztliche Versorgung in zumutbarer Entfernung zur Verfügung gestellt wird.

Was zumutbar in räumlicher und zeitlicher Hinsicht bedeutet, kann nur im konkreten Einzelfall ermittelt werden, allgemein gültige gesetzliche Vorgaben bestehen diesbezüglich nicht.

Frage 2. Gibt es eine Auseinandersetzung zwischen Kassenärztlicher Vereinigung und Ärzten, die Magenspiegelungen durchführen, um die Honorierung und wenn ja, worauf beruht dieser Streit, wie ist er entstanden und um welchen Gegenstand geht es?

Ja, es gibt eine Auseinandersetzung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KVH) und Gastroenterologen und gastroenterologisch tätigen Internisten.

Streitgegenstand ist die Bewertung gastroenterologischer Leistungen nach dem seit dem 1. April 2005 geltenden Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM 2000plus) und dem in Hessen angewandten Honorarverteilungsvertrag (HVV). Nach Aussage der betroffenen Fachärzte hätten diese Umstellungen zu einem Honorarverlust von ca. 30 bis 40 v.H. geführt.

Frage 3. Welche rechtlichen und faktischen Möglichkeiten hat die Kassenärztliche Vereinigung, um durch Verhandlungen, Sanktionen oder Ersatzvornahme die Versorgung der hessischen Bevölkerung mit Magenspiegelungen sicherzustellen, und welche Maßnahmen hat die Kassenärztliche Vereinigung bisher ergriffen, um diesen Zustand zu beenden?

Weigert sich ein Arzt, seinen sich aus der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung ergebenden Verpflichtungen nachzukommen, so kann die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH) entsprechend disziplinarrechtlich gegen einzelne Ärzte vorgehen.

Sicherstellungsproblemen kann die KVH z. B. durch Ermächtigungen von Krankenhausärzten begegnen.

Ebenso können Probleme der Vergütung von vertragsärztlichen Leistungen im Rahmen der Verhandlungen zur Gesamtvergütung oder im Rahmen der Verhandlungen zum Honorarverteilungsvertrag thematisiert werden.

Die KVH führt aktuell Gespräche mit den betroffenen Berufsverbänden, über deren Inhalt die Hessische Landesregierung nicht informiert ist.

Zugleich werden auch mit den Landesverbänden der Krankenkassen sowie den Verbänden der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich Verhandlungen über einen neuen Honorarverteilungsvertrag geführt.

Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen geht zudem den Weg, dass sie mittels eines Rundschreibens die niedergelassenen Internisten in Hessen aufgefordert hat zu überprüfen, ob sie bereit und in der Lage sind, gastroenterologische Leistungen auch dann anzubieten, wenn sie nicht über den Schwerpunkt Gastroenterologie verfügen. Gleichzeitig hat die Kassenärztliche Vereinigung Hessen Schritte unternommen zu prüfen, ob und in welchem Umfange ggf. Ermächtigungen erforderlich werden könnten, um ein etwaiges Sicherstellungsproblem zu lösen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere aus dem Bereich der hausärztlichen Internisten, die aufgrund des neuen Einheitlichen Bewertungsmaßstabes, der vom Bewertungsausschuss auf Bundesebene in eine haus- und fachärztliche Versorgung gegliedert worden ist, derzeit gastroenterologische Leistungen in der vertragsärztlichen Versorgung nicht anbieten dürfen, Bereitschaft signalisiert wurde, ggf. diese Leistungen zu erbringen.

Frage 4. Ist es möglich, dass durch die Weigerung, Magenspiegelungen nicht als reguläre kassenärztliche Leistung durchzuführen, schwere Folgen für Patienten eintreten, wie unnötige Schmerzen, aber auch beispielsweise verspätet erkannte Krebserkrankungen oder schwere Komplikationen anderer, wegen fehlenden Ausschlusses einer Magenerkrankung nicht operierbarer Erkrankungen und wenn ja, wer haftet in solchen Fällen

a) zivilrechtlich für den eingetretenen Schaden?

b) strafrechtlich für eine mögliche Unterlassungsstraftat?

Bisher liegen der Hessischen Landesregierung keine Informationen vor, dass Magenspiegelungen erst mit so einer langen zeitlichen Verzögerung erbracht werden, dass hieraus gesundheitliche Beeinträchtigungen für die Patienten resultieren würden (soweit ein solcher kausaler Zusammenhang zu belegen ist). Jeder Patient kann sich, sofern er keinen zeitnahen Behandlungstermin für eine medizinisch notwendige Magenspiegelung erhält, an die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH), seine Krankenkasse oder das Hessische Sozialministerium mit der Bitte um Unterstützung wenden.

Sowohl die zivil- als auch die strafrechtlichen Haftungsansprüche würden sich gegen den behandelnden Arzt richten.

Frage 5. Trifft es zu, dass sich in Hessen derzeit eine Vielzahl von Ärzten weigert, Magenspiegelungen als reguläre kassenärztliche Leistung durchzuführen?

Ja. Auf die Ausführungen zu dem dringlichen Berichtsantrag der Fraktion der SPD betreffend Sicherstellung der medizinischen Versorgung in Hessen,

Drucksache 16/6935, wird insoweit verwiesen.

Seit Einführung des neuen Einheitlichen Bewertungsmaßstabes EBM 2000plus am 1. April 2005 sieht eine Vielzahl von Praxen mit gastroenterologischem Schwerpunkt ihre vertragsärztlichen Leistungen als nicht mehr angemessen vergütet an. Vor diesem Hintergrund hat diese Fachgruppe angekündigt, die Erbringung gastroenterologischer Leistungen auf die Notfallbehandlung zu beschränken.

Nach entsprechender Aufforderung durch das Sozialministerium hat die KV Hessen daher mit Rundschreiben vom 16. März 2007 alle internistischen Praxen mit Schwerpunkt Gastroenterologie angeschrieben und um Mitteilung gebeten, ob diese Praxen Magenspiegelungen im notwendigen Umfang erbringen werden. Die angeschriebenen Praxen haben gegenüber der KV Hessen schriftlich bestätigt, dass sie die Leistungen im notwendigen Umfang anbieten.

Weder dem Sozialministerium noch - soweit dies kurzfristig zu erfahren war - den Krankenkassen liegen Beschwerden von Patienten vor, die auf einen Rechtsverstoß gegen den Sicherstellungsauftrag schließen lassen.

Frage 6. Welche rechtlichen und faktischen Möglichkeiten hat die Landesregierung, um durch Verhandlungen, Sanktionen oder Ersatzvornahme die Versorgung der hessischen Bevölkerung mit Magenspiegelungen sicherzustellen?

Kann sie dabei insbesondere ambulant tätige Ärzte oder stationäre Einrichtungen verpflichten und welche Maßnahmen hat die Landesregierung bisher ergriffen, um die Versorgung sicherzustellen?

Die Hessische Landesregierung kann im Rahmen der Rechtsaufsicht über die KV Hessen darauf hinwirken, dass diese ihren Verpflichtungen aus dem Sicherstellungsauftrag nach § 75 Abs. 1 SGB V nachkommt. Hierfür stehen der Hessischen Landesregierung die verschiedenen Maßnahmen des § 89 Abs. 1 SGB IV zur Verfügung.

Soweit die Voraussetzungen des § 72a SGB V erfüllt sind, geht der Sicherstellungsauftrag auf die Krankenkassen und ihre Verbände über.

Es besteht aktuell ein Schriftwechsel mit der KV Hessen zur Frage der Sicherstellung der gastroenterologischen Versorgung in Hesssen.

Frage 7. Wer kontrolliert die Erfüllung des Sicherstellungsauftrages und welche Möglichkeiten der Beeinflussung, Sanktion oder Ersatzvornahme bestehen, wenn eine Erfüllung

a) nicht möglich ist,

b) möglich wäre, aber durch das Verhalten einzelner Ärzte nicht gelingt,

c) möglich wäre, aber durch kollektive Absprache einer Vielzahl von Ärzten bewusst und willentlich nicht erfüllt wird?

Grundsätzlich kontrolliert die Hessische Landesregierung die Erfüllung des Sicherstellungsauftrages durch die KV Hessen. Als aufsichtsrechtliche Maßnahmen stehen ihr hierzu die in § 89 Abs. 1 SGB IV genannten Maßnahmen (= Beratung, Verpflichtung, Durchsetzung der Verpflichtung mit den Mitteln des Verwaltungsvollstreckungsrechts, ggf. mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung) zur Verfügung.

Im Falle eines kollektiven Zulassungsverzichtes der Vertragsärzte oder im Falle der Leistungsverweigerung geht der Sicherstellungsauftrag gemäß § 72a SGB V auf die Krankenkassen und ihre Verbände über.

Frage 8. Im Rahmen der aktuellen Gesundheitsreform soll die Möglichkeit eröffnet werden, sehr viel einfacher sogenannte Kostenerstattungsverfahren zu wählen. Teilt die Landesregierung die Befürchtung, dass damit zukünftig einzelne oder zahlreiche Ärzte bei solchen inneren tariflichen Auseinandersetzungen der Ärzteschaft Patienten nur noch gegen Kostenerstattung behandeln, dabei möglicherweise dies nur zu erhöhten Preisen tun und damit alle Verfahren zur Kostenkontrolle wie zum Schutz der Patienten vor Übervorteilung unterlaufen, und wenn ja, welche Schritte hat die Landesregierung ergriffen oder wird sie ergreifen, um Patienten vor diesem Risiko zu schützen?

Gemäß § 13 Abs. 2 Sätze 1 bis 3 SGB V in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbes in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWSG) können die Versicherten anstelle der Sach- und Dienstleistungen Kostenerstattung wählen. Hierüber haben sie ihre Krankenkasse vor Inanspruchnahme der Leistung in Kenntnis zu setzen. Der Leistungserbringer hat die Versicherten vor Inanspruchnahme der Leistung darüber zu informieren, dass Kosten, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, von dem Versicherten zu tragen sind. Der Versicherte hat die erfolgte Beratung schriftlich zu bestätigen. Eine Einschränkung der Wahl auf den Bereich der ärztlichen Versorgung, der zahnärztlichen Versorgung, den stationären Bereich oder auf veranlasste Leistungen ist möglich. Die Kostenerstattung nur für einzelne ärztliche Leistungen zu wählen, ist dagegen nicht zulässig.

Unter Berücksichtigung dieser gesetzlichen Neuregelung, die am 1. April 2007 in Kraft getreten ist, ist der Patientenschutz hinreichend gewährleistet.