Beamte

Zwar hat der zuständige Einsatzleiter der Polizeiinspektion Lüchow-Dannenberg, POR Friedrich Schmidt, seiner Aussage zufolge erwogen, zusätzliche Kräfte anzufordern. Er habe jedoch aus unterschiedlichen, in erster Linie polizeitaktischen Erwägungen hiervon abgesehen.

Diese Lagebeurteilung hat der Zeuge Schmidt gemeinsam mit seinem Stellvertreter, EPHK Rolf Burmester, getroffen, der in seiner Vernehmung die Aussage des Zeugen Schmidt bestätigte, dass es nur zu einer Abfrage der Kräftelage gekommen sei.

Weiterhin haben die Zeugen PHK Liane Helsper, Kommissarin vom Lagedienst beim Niedersächsischen Innenministerium, und der Zeuge PHK Reinhard Vormann, Kommissar vom Lagedienst bei der Bezirksregierung Lüneburg, ausgesagt, auch durch die Bezirksregierung Lüneburg sei keine Kräfteanforderung erfolgt. Der Zeuge Vormann habe nur vorsorglich die Kräftelage abklären, jedoch keine Einsatzkräfte anfordern wollen.

Diesen Bekundungen steht jedoch die Aussage des Leitenden Beamten vom Dienst der Landesbereitschaftspolizei Niedersachsen, PHK Hans-Wilhelm Müller, gegenüber, daß der diensthabende Kommissar vom Lagedienst bei der Bezirksregierung Lüneburg, PHK Vormann, eine konkrete Kräfteanforderung und nicht nur lediglich eine vorsorgliche Abklärung der bestehenden Kräfte an ihn gerichtet habe.

Gestützt wird diese vor dem Untersuchungsausschuß bekundete Aussage des PHK Müller durch die von ihm bereits unter dem 19.06.1998 abgegebene dienstliche Stellungnahme. In dieser dienstlichen Stellungnahme führt der Zeuge PHK Müller aus, dass am 05.06.1998 um 16.57 Uhr der diensthabende Kommissar vom Lagedienst des BezirksLage- und Führungszentrums „Luna" (Bezirksregierung Lüneburg/Herr Vormann) in einem über Handy geführten Telefonat bei ihm eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei angefordert habe. Als Anforderungsgrund habe Herr Vormann laut dienstlicher Stellungnahme von PHK Müller die Besetzung des Infohauses der Gorlebener Zwischenlagerbetreibergesellschaft in Gorleben genannt.

Bereits zu diesem Zeitpunkt war PHK Müller bekannt, dass keine einsatzungebundenen Kräfte der Landesbereitschaftspolizei Niedersachsen für den Anforderungstag, also den 05.06.1998, zur Verfügung standen. Gleichwohl erfolgte durch Polizeihauptkommissar Müller gemäß seiner dienstlichen Stellungnahme die fernmündliche Kontaktaufnahme mit Polizeikommissar Rahn ­ Sachbearbeiter im Dezernat 11 der Bereitschaftspolizei in Hannover. Herr Rahn bestätigte den Erkenntnisstand von Polizeikommissar Müller, daß die Landesbereitschaftspolizei Niedersachsen über keine zusätzlich verfügbaren Einsatzkräfte am 05.06.1998 verfügte und somit der Kräfteanforderung der Bezirksregierung Lüneburg nicht entsprochen werden konnte.

Damit steht der Aussage der Zeugen Vormann und Helsper die Aussage des Polizeihauptkommissars Müller, gestützt durch seine dienstliche Stellungnahme und darin bestätigt durch die Kontaktaufnahme mit Polizeikommissar Rahn entgegen, dass tatsächlich eine Kräfteanforderung durch die Bezirksregierung Lüneburg beim Lagezentrum des Innenministeriums erfolgt ist.

Angesichts der sich damit widersprechenden Aussagen steht entgegen der unter 5.3. vorgenommenen Bewertung keinesfalls fest, dass es keine Kräfteanforderung am 05.06. gegeben hat.

Die in dem Untersuchungsbericht vorgenommene Würdigung der Zeugenaussagen der Zeugen Schmidt und Burmester bzw. Vormann und Helsper sind durchaus zutreffend.

Jedoch hat der Zeuge Müller ebenso wie die eben genannten Zeugen widerspruchsfrei ausgesagt.

Es sind keinerlei dienstliche Gründe ersichtlich, warum der Zeuge Müller in seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuß am 9. Juli 1998 die Unwahrheit gesagt haben sollte. Herr Müller schildert die Ereignisse im Zusammenhang und in sich schlüssig.

Unterstützt wird die Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen Müller durch die von ihm bereits unter dem 19.06.1998 abgegebene dienstliche Stellungnahme, in der der Zeuge Müller bereits wenige Tage nach dem eigentlichen Ereignis nach seiner Erinnerung den von ihm geführten Gesprächsablauf festhält. Er schildert den Ablauf detailreich und zeitlich in sehr genauem Umfang.

Darüber hinaus sind weder dienstliche noch persönliche Gründe ersichtlich, warum der Zeuge Müller in seiner dienstlichen Stellungnahme, die er freiwillig von sich aus gefertigt hat, den Tatsachen zuwider die Unwahrheit gesagt haben sollte. Gerade die Tatsache, daß der Zeuge Müller vor seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuß den Weg einer dienstlichen Stellungnahme wählt, um über die Ereignisse aus seiner Sicht Stellung zu beziehen, spricht für den Wahrheitsgehalt seiner Aussage und für die Richtigkeit der von ihm angegebenen Tatsachen.

Hiergegen spricht auch nicht, dass es an den verfahrensmäßigen, formalen Voraussetzungen einer Kräfteanforderung fehlte, als der Zeuge Vormann an die Bereitschaftspolizeidirektion Hannover herantrat. Allein dieses nur formale Argument ist lediglich ein Indiz, kann jedoch nicht mit letzter Gewißheit ausschließen, dass der Zeuge Vormann - zwar formell nicht in korrekter Form - tatsächlich Kräfte der Bereitschaftspolizei angefordert hat.

Nach alledem steht fest, dass aufgrund der sich widersprechenden Aussagen, die jedoch durchgängig widerspruchsfrei und in sich schlüssig sind, nicht geklärt werden kann, ob am 05.06.1998 durch den Zeugen Vormann als diensthabender Kommissar vom Lagedienst bei der Bezirksregierung Lüneburg eine Kräfteanforderung durch die Bezirksregierung Lüneburg erfolgt ist oder nicht. Unstreitig ist jedoch, dass gravierende Kommunikationsprobleme bestanden, die eine rechtzeitige Beendigung der Besetzung und Plünderung des Informationshauses der Brennelementlager-Gesellschaft in Gorleben am 5. oder 6. Juni 1998 verhindert haben.

Trotz der aufgezeigten Kommunikationsprobleme ist jedoch festzuhalten, dass der Kern des Sachverhaltes dem Innenministerium bereits ab 16.30 Uhr bekannt war, so dass von diesem Zeitpunkt an das Innenministerium der Sache selbst hätte nachgehen können und müssen, um das konkrete Ausmaß der Ereignisse abzuklären. Wäre dies geschehen, so hätte völlig unabhängig davon, ob eine Kräfteanforderung im Laufe des 05.06.1998 erfolgt ist oder nicht, eine Verpflichtung des Innenministeriums bestanden, tatsächlich Niedersächsischer Landtag - 14. Wahlperiode Drucksache 14/400 weitere Kräfte zur Räumung des Informationshauses der Brennelementlager-Gesellschaft einzusetzen.

Zu Punkt 5.4 des Untersuchungsberichts: Kommunikationsprobleme

Die deutlich gewordenen Informations- und Kommunikationsdefizite im Innenministerium, aber auch bei der polizeilichen Führung, wiegen deswegen um so schwerer, weil gerade das Innenministerium das Ressort ist, das auf schnelle Entscheidungen und funktionierende Informationsabläufe eingestellt sein muß. Effektive Polizeiarbeit wird behindert, wenn die zwischen den Führungsebenen der Polizei ausgetauschten Informationen nicht eindeutig und unmißverständlich übermittelt werden bzw. übermittelt werden können. Hier besteht eine unmittelbare Organisationsverantwortung des Innenministers und unmittelbarer Handlungsbedarf.

Mißverständnisse, angebliche Übermittlungsfehler oder Unsicherheiten mangels ausreichender Anweisungen müssen für die Zukunft definitiv ausgeschlossen werden. Die Informationsstränge müssen effizient, klar verständlich und nachvollziehbar sein. Für jeden Polizeibeamten muss in jeder Handlungslage deutlich sein, an wen er welche Tatsache mitzuteilen hat, wer zu informieren ist, wer die Entscheidungen zu treffen hat. Nur durch klare Informationsstränge, nur durch eindeutige Strukturen in den Organisationssträngen kann eine eindeutige Entscheidungsfindung herbeigeführt werden. Hinzu kommt, dass nur durch eindeutige Handlungsanweisungen Verantwortlichkeiten festgelegt und im Nachhinein festgestellt werden können.

Der Untersuchungsausschuß hat gezeigt, dass diese Voraussetzungen am 5. und 6. Juni 1998 nicht gegeben waren. Es ist daher nicht hinnehmbar, dass gerade diese Versäumnisse, die vom Innenminister selbst zu verantworten sind, später vom Innenminister als „Begründung" herangezogen werden, um jegliche Verantwortung von sich zu weisen nach dem Motto: Wenn ich nichts weiß, kann ich auch keine Verantwortung tragen. Nur infolge der genannten Versäumnisse ist es dem Innenminister möglich gewesen, jegliche Verantwortung für die Vorkommnisse am 5. und 6. Juni 1998 in Gorleben abzustreiten.

Zu Punkt 13 des Untersuchungsberichts: Einsatzfähigkeit der Landesbereitschaftspolizei Niedersachsen nach der „Polizeireform Niedersachsen"

Im Zuge der Polizeireform wurde die Personalstärke der niedersächsischen Bereitschaftspolizei von 1 648 auf 1 061 Polizeibeamte reduziert. Damit hat sich die Personalstärke gegenüber 1994 um rund 30 % verringert. Die damit einhergehende Verkleinerung der tatsächlich verfügbaren Kräfte der Bereitschaftspolizei durch die Polizeireform hat dazu geführt, dass insbesondere im Fall von Mehrfachereignissen elementare Verfügbarkeitsprobleme der Bereitschaftspolizei in Niedersachsen zutage treten.