Linksextremismus

Das breit gefächerte linksextremistische Spektrum in der Bundeshauptstadt wuchs im Jahr 1996 bezogen auf sein personelles Reservoir weiter an. Insgesamt sind hier 2 650 (1995: 2 200) Personen linksextremistischen Bestrebungen zuzurechnen. Die Anzahl militanter Aktivisten stieg auf 1 450 Personen (1995: 1 350) an. Von den Autonomen geht, gemessen an anderen linksextremistischen Bestrebungen, die nachhaltigste Gefahr für die innere Sicherheit Berlins aus. Autonome Aktivisten bestätigten diese Einschätzung auch im Berichtszeitraum, indem sie zahlreiche Gewalttaten verübten, die von einer kompromißlosen Bekämpfung des demokratischen Rechtsstaates zeugen.

Wie in den Jahren zuvor konzentrierten sie ihre Aktivitäten auf die beiden Hauptthemen „Antifaschistischer Kampf" und „Umstrukturierung" infolge der Umgestaltung Berlins zur Hauptstadt und zum Regierungssitz. Berlin bildet mit etwa 1 200 SzeneAngehörigen nach wie vor die Hochburg der autonomen „Bewegung" in Deutschland. Die Anzahl der Straftaten gewaltbereiter Linksextremisten hat sich im Vergleich zu 1995 mehr als verdoppelt. 188 Gewalttaten im Berichtszeitraum stehen 74 derartigen Rechtsverstößen im Vorjahr gegenüber.

Die „Rote Armee Fraktion" (RAF) verzichtete im Berichtszeitraum weiterhin auf terroristische Aktionen, nachdem sie bereits 1992 einen Neuorientierungsprozeß in Gang gesetzt hatte. Die seit 1993 erkennbare Spaltung ihres Unterstützungspotentials und die Zerstrittenheit der inhaftierten früheren Terroristen in zwei ­ den neuen RAF-Kurs ablehnende bzw. befürwortende ­ Lager dauerte an. In Berlin werden noch ca. 15 Personen (gegenüber ehemals bis zu 50) zu den Unterstützern der RAF-Kommandoebene gezählt. Der größere Teil des ehemaligen (Gesamt)RAF-Umfeldes wurde von der kommunistisch und antipatriarchal ausgerichteten Personengruppe „Antiimperialistischer Widerstand" (AIW) absorbiert.

Nach der Festnahme zweier Hauptverdächtiger der „Antiimperialistischen Zelle" (AIZ) Anfang 1996 konnten keinerlei Aktivitäten dieser terroristischen Gruppe mehr festgestellt werden.

Die Gruppe „KLASSE GEGEN KLASSE" (KGK) ging auch 1996 mit Sprengstoff- und Brandanschlägen gegen das Eigentum ihr mißliebiger Personen vor. Ziele der durchgeführten Anschläge waren das Wohnhaus eines Professors der Freien Universität Berlin (Sprengstoffanschlag) sowie mehrere Kraftfahrzeuge (Brandanschläge). Marxistisch-leninistische Parteien wie DKP, KPD ­ Sitz Berlin ­ und MLPD bzw. andere revolutionäre-marxistische Organisationen wie z. B. „Marxistische Gruppe" und „Revolutionäre Kommunisten" entwickelten 1996 kaum nennenswerte öffentlichkeitswirksame Aktivitäten.

Im Berichtszeitraum gerieten auf Grund ihrer orthodox-kommunistischen Ausrichtung die linksextremistischen Gruppierungen „Marxistisches Forum" und „Forum West" und erstmalig auf Grund ihrer engen Verbindung zu militant-anarchistischen Gruppierungen die „Bezirksorganisation Kreuzberg" als Untergliederung der PDS in das Blickfeld des Verfassungsschutzes. Der Landesverband der PDS ist weiterhin kein Beobachtungsobjekt, jedoch die linksextremistischen Zusammenschlüsse innerhalb der PDS, die militant-anarchistische und orthodox marxistischleninistische Inhalte als Dogma ihres politischen Handelns ansehen.

Rechtsextremismus:

Die Berliner rechtsextremistische Szene besteht ­ wie in den Jahren zuvor ­ weiterhin aus einzelnen, nebeneinander existierenden Gruppen und Parteien. Eine Zusammenarbeit ist lediglich bei den alljährlich wiederkehrenden Ereignissen ­ wie bei der Reichsgründungsfeier im Januar, dem „Führergeburtstag" am 20. April, zur Sommer- und Wintersonnenwende, an den Gedenktagen an Rudolf Hess und bei der „Heldengedenkfeier" im November ­ zu beobachten.

Im Jahr 1996 wurden 530 gewaltbereite Rechtsextremisten, insbesondere rechtsextremistische Skinheads, und 280 Neonazis vom Verfassungsschutz festgestellt. Gegenüber dem Vorjahr ist das neonazistische Potential leicht zurückgegangen. Hierzu haben die organisationsverbote und die sich auch auf Erkenntnissen des Verfassungsschutzes stützenden Exekutivmaßnahmen der Berliner Polizei und die daraus resultierenden Strafverfahren beigetragen. All diese Maßnahmen haben in der Szene zur Verunsicherung geführt und zumindest in Teilbereichen der Berliner Neonaziszene Resignation hervorgerufen. Die Aktionsfähigkeit einzelner Neonazis ist jedoch weiterhin uneingeschränkt gegeben. Das Risiko, dass neonazistische Aktionen mit Gewaltanwendung verbunden sind, ist unvermindert groß. Gegenwärtig gibt es keinen Nachweis für rechtsextremistischen Terrorismus in Berlin, aber es liegen Indizien vor, wonach sich Personen aus der Neonazi-Szene mit rechtsterroristischen Überlegungen befassen. So wurden u. a. Handlungsanleitungen zum bewaffneten Kampf ­ Bau von Brandbomben und Sprengvorrichtungen ­ anläßlich von Durchsuchungen bei Neonazis gefunden sowie Waffen- und Sprengstoffdepots entdeckt.

Auch im Berichtszeitraum verübten Rechtsextremisten, insbesondere Neonazis, Straftaten mit fremdenfeindlichem und antisemitischem Hintergrund.

Nach Jahren organisierter Mitgliedschaft in neonazistischen Organisationen trat 1996 verstärkt eine Anhängerschaft „autonomer" bzw. „unabhängiger Kameradschaften in Berlin auf. Die 120

Anhänger propagierten weiterhin neonazistisches Gedankengut.

Darüber hinaus versuchte die Szene, durch Fortentwicklung der informationellen Vernetzung den Zusammenhalt und die anlaßbezogene Bündnisfähigkeit der autonomen Neonazi-Szene bundesweit zu fördern.

Die Parteien des organisierten Rechtsextremismus konnten im Berichtszeitraum keinen Mitgliederzuwachs verzeichnen. Sie befanden sich weiterhin im politischen Abwind.

Allein die „jungen Nationaldemokraten" (JN), die Jugendorganisation der NPD, entfaltete bemerkenswerte Aktivitäten. Durch Öffnung der Organisation auch für Neonazis wurde sie zum bundesweit wichtigsten Bindeglied zwischen parteiförmigen Organisationen und dem Neonazi-Spektrum.

Ausländerextremismus:

Der Verfassungsschutz beobachtete 1996 gewaltorientierte, terroristische und staatsterroristische Bestrebungen militanter ausländischer Organisationen, Gruppen oder Einzelpersonen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland oder ihre innere Sicherheit gefährdet hatten.

Gefährdungspotentiale gingen 1996 von der PKK, den zahlreichen türkischen extremistischen Organisationen und den arabischen bzw. palästinensischen Vereinigungen aus.

5 400 in Berlin ansässige Ausländer gehörten 1996 extremistischen bzw. extremistisch beeinflußten Ausländerorganisationen an. Die größte Gruppe bildeten die türkischen Organisationen mit 4 070 Personen, gefolgt von kurdischen und arabischen/palästinensischen.

Im Jahr 1996 konnten in Berlin keine Gewalttaten registriert werden, die der PKK zugerechnet werden müßten. Auch bundes weit ging die Zahl im Vergleich zu 1995 deutlich zurück. Letztmalig verübten mutmaßliche Anhänger der PKK massive Gewalttaten im März 1996 am Rande mehrerer verbotener Demonstrationen und Veranstaltungen aus Anlaß des kurdischen Neujahrs(„Newroz")-Festes.

Für die Sicherheitslage Berlins sind die gewaltorientierten Organisationen der türkischen Neuen Linken von besonderer Bedeutung. Ziel dieser Organisationen ist die Beseitigung des gegenwärtigen Regierungssystems in der Türkei und die Errichtung einer Gesellschaftsordnung auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus. Zu den Organisationen zählen „Devrimci Soll", „Devrimci Yol", TKP/M-L und TDKP. Anhänger der extrem-nationalistischen türkischen Organisationen traten 1996 in Berlin nicht mit öffentlichen Aktivitäten in Erscheinung. Am 27./28. Juli war allerdings ­ vermutlich im Zusammenhang mit dem Hungerstreik in den türkischen Gefängnissen ­ die Moschee der TÜB in Berlin-Kreuzberg Ziel eines Brandanschlages.

Die „Islamische Gemeinschaft ­ Milli Görüs" (IGMG), die eine islamisch-fundamentalistische Ideologie verfolgt, gehört zu den islamisch-extremistischen türkischen Organisationen. Die Organisation vertritt das Gedankengut der türkischen Refah-Partei, deren Hauptziel die Ablösung der laizistischen Staatsordnung, in der Türkei durch einen ausschließlich auf dem Koran und der Scharia (islamisches Rechtssystem) basierenden, als „gerechte Ordnung" umschriebenen „islamischen Gottesstatt" mit dem Fernziel einer weltweiten Islamisierung ist.

Arabische Islamisten, darunter die „Muslimbruderschaft" (MB), arbeiten konspirativ und traten 1996 öffentlich nicht in Erscheinung. Ihre Mitglieder sind vorwiegend bei den Freitagsgebeten in der TU Berlin und in einer Moschee in Berlin-Neukölln anzutreffen.

Die palästinensische „Bewegung des islamischen Widerstandes" (HAMAS) hat auch in Berlin handlungsfähige Strukturen zur Betreuung, Schulung und Rekrutierung im Ausland lebender Palästinenser aufgebaut. Auf Grund ihrer konspirativen Arbeitsweise und ihrer Fähigkeit zu (zumindest logistischer) Unterstützung von Terroroperationen stellten die in Berlin festgestellten Strukturen eine ernstzunehmende Bedrohung der Sicherheit der Stadt dar.

Der Verfassungsschutz rechnete 1996 50 in Berlin ansässige Iraner extremistischen Organisationen zu. Zu den Organisationen gehören die islamistisch ausgerichtete „Union Islamischer Studentenvereine in Europa" und die islamisch mit sozialrevolutionärer Prägung versehene „Organisation der Volksmojahedin Iran".

Spionageabwehr:

Im Berichtszeitraum 1996 haben die Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste in der Bundesrepublik Deutschland weiter zugenommen. Dies trifft ­ in besonderem Maße ­ für Berlin zu.

Mit dem Umzug von Parlament und Regierung und dem Ausbau Berlins zur Wirtschafts- und Wissenschaftsmetropole werden weitere Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste erwartet.

Fremde Nachrichtendienste betätigen sich nicht nur in den Zielbereichen Politik und Militär sowie Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Sie sind ebenso auf dem Gebiet der Beschaffung sogenannter sensitiver Güter ­ Produkte, die zivile wie militärische Verwendung finden ­ hochaktiv. Dies gilt auch für den Proliferationsbereich, d. h. die Beschaffung Und Verbreitung von Waren und Gütern, die der Herstellung von Massenvernichtungsmitteln dienen. Die Nachrichtendienste einiger Länder spielen bei der Ausspähung und Kontrolle der in Deutschland lebenden Oppositionellen und Dissidenten eine maßgebliche Rolle. Insbesondere bei den vom islamischen Fundamentalismus geprägten Staaten sind in diesem Bereich die Grenzen zwischen nachrichtendienstlicher Aufklärung und staatsterroristischen Aktionen, die im Extremfall bis zur Ausschaltung von Regimegegnern gehen, fließend.

Über staatliche Institutionen oder Tarnfirmen und mittels technischer und menschlicher Quellen betreiben fremde Nachrichtendienste ihre Ausspähung. Säulen der russischen Auslandsaufklärung sind u. a. der „Zivile Auslandsnachrichtendienst" (SWR), der „Föderale Dienst für Sicherheit" (FSB), die „Föderale Agentur für Regierungsfernmeldewesen und Information" (FAPSI) und der „Militärische Nachrichtendienst" (GRU). Die russische Auslandsaufklärung verfügt gegenwärtig in Berlin über einen ähnlich großen nachrichtendienstlichen Apparat wie in Bonn.

Offiziere des russischen Nachrichtendienstes unterhalten intensive Kontakte zu Berliner Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Russische Nachrichtendienste verfügen auf Grund ihrer starken Präsenz in der ehemaligen DDR und ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit dem damaligen MfS über einen enormen Fundus an personenbezogenen Informationen.

Nachrichtendienste des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens („Krisenländer") unterhalten u. a. in Berlin neben legalen Residenturen zahlreiche Stützpunkte in offiziellen und halboffiziellen Einrichtungen ihrer Heimatländer, z. B. in Büros von Fluggesellschaften, Nachrichtenagenturen oder Firmen. Ein Schwerpunkt des iranischen Nachrichtendienstes ist die Ausforschung, Überwachung und Beeinflussung hier lebender Regimegegner.

Dem Informationsschutz in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft sollte in Zukunft insgesamt größere Bedeutung beigemessen werden. Der Berliner Wirtschaft sollte durch gezielte Aufklärungsmaßnahmen verdeutlicht werden, dass die Sicherheitsbehörden mit den von nachrichtendienstlicher Ausforschung bedrohten Unternehmen eine Gefahrengemeinschaft bilden. Eine fortschreitende „informationelle Ausplünderung" durch Nachrichtendienste fremder Staaten würde sonst zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und damit zum Verlust vieler Arbeitsplätze führen.