Kinderlärm in Wohngebieten ist erwünscht!

Betreff: Kinderlärm in Wohngebieten ist erwünscht! ­ Erlass einer Rechtsverordnung gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 2 Satz 1 Bundes-Immissionsschutzgesetz

In Hamburg sind mehrere Nachbarschaftsstreitigkeiten über die Zulässigkeit von Lärmemissionen von Kindertagesstätten, Schulen, Jugendheimen und anderen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche vor den Gerichten sowie in Widerspruchsverfahren anhängig bzw. anhängig gewesen (vgl. Drs. 18/2808). Das Landgericht Hamburg hat jüngst in einem Fall die von einem Kindergarten in einem Wohngebiet ausgehenden Immissionen als unzulässig bewertet (Urteil vom 8. August 2005, Az. 325 O 166/99).

Sollte die Beurteilung des Landgerichts zum Maßstab der Lösung zukünftiger ähnlicher Konflikte werden, so könnte dies ohne gesetzgeberische Intervention zu einer Verlagerung von Kindertagesstätten, Kinderspielplätzen, Schulen, Jugendhäusern und ähnlichen Einrichtungen in weniger lärmempfindliche Gebiete wie Gewerbegebiete führen. Ein solcher Verlagerungseffekt muss vermieden werden ­ und ist auch nach der Wertung des Bundesgesetzgebers nicht erwünscht, der entsprechende JugendEinrichtungen in der Baunutzungsverordnung auch in Wohngebieten zulässt. Eine wohnortnahe Versorgung mit Kindertagesstätten, Schulen und Kinder-Freizeiteinrichtungen ist nicht nur im Interesse kleinerer Kinder und ihrer Familien sondern auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Hamburg ist eine Stadt, in der Kinder willkommen sind und nicht per se als „Störer" behandelt werden sollen.

Natürliche Lebensäußerungen von Kindern dürfen auch nicht an den gleichen Maßstäben gemessen werden wie Gewerbelärm. Die von Kindern ausgehenden ­ mitunter auch lauten ­ Lebensäußerungen sind für die persönliche Entwicklung von Kindern unabdingbare Voraussetzung und gehören zum Kernbereich des Rechts eines jeden Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist der Senat aufgefordert, auf Landesebene für eine Privilegierung von Kinderlärm gegenüber anderen Lärmquellen zu sorgen. Das Bundesrecht ermächtigt in § 23 Abs. 2 Satz 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) die Landesregierung dazu, besondere Regelungen für bestimmte nicht genehmigungsbedürftige Anlagen zu treffen, soweit der Bundesgesetzgeber keine Regelungen getroffen hat. Im Fall des von sozialen Einrichtungen wie Kitas und Spielplätzen ausgehenden Lärms hat der Bund keine Regelung getroffen, sondern in Nr. 1 der TA Lärm (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm [neue Fassung] Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum BundesImmissionsschutzgesetz vom 26. August 1998, GMBI. Nr. 26 vom 28.08.1998 S. 503) soziale Einrichtungen ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich der TA Lärm ausgeklammert.

Andere Länder haben in bestimmten Bereichen ihre landesrechtlichen Möglichkeiten zur Privilegierung sozial erwünschter Lärmarten ausgeschöpft: In Nordrhein-Westfalen regelt der Runderlass zur „Messung, Beurteilung und Verminderung von Geräuschimmissionen bei Freizeitanlagen" (RdErl. d. Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz NRW, ­ V ­ 5 ­ 8827.5 ­ (V Nr. 1/04) vom 15. Januar 2004 ausdrücklich, dass die mit der Nutzung von Kinderspielplätzen unvermeidbar verbundenen Geräusche sozialadäquat sind und deshalb von den Nachbarn hingenommen werden müssen. Die Bayerische Staatsregierung hat eine Sonderregelung für Biergärten getroffen, die gegenüber anderen Lärmquellen erheblich privilegiert werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat hinsichtlich der (ersten) bayerischen Biergarten-Verordnung in seiner Entscheidung vom 28. Januar 1999

(7 CN 1.97 dort Tz. 21) dargelegt, dass die Frage der Zumutbarkeit von Lärm in besonderem Maße von Wertungen geprägt ist und darum sehr unterschiedlicher Bedeutung im Einzelfall unterliegen kann. Der Landesverordnungsgeber sei daher befugt, „die im Gesetz allgemein umschriebene Schwelle zumutbarer Lärmeinwirkungen (§ 3 Abs. 1 BlmSchG) aufgrund abstrakt-genereller Abwägung der widerstreitenden Interessen dergestalt verbindlich festzulegen, dass für eine einzelfallbezogene Beurteilung der Zumutbarkeit nur ausnahmsweise Raum ist." Eine solche Landesregelung müsse dabei voraus setzen, dass sie ausreichend differenziert ist bei atypischen Sonderlagen Abweichungen zulasse. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung hat die Bayerische Staatsregierung aufgrund von § 23 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 1

BlmSchG eine (zweite) Bayerische Biergartenverordnung (vom 20. April 1999, GVBI. S. 142) erlassen, die gegenüber den Immissionsrichtwerten der Nr. 6 TA Lärm um 5 dB höhere Werte festlegt und damit mehr als eine Verdoppelung des Lärms erlaubt.

Vor diesem Hintergrund erscheint es zwingend geboten und rechtlich zulässig, eine Landesregelung zu treffen, die Kinderlärm grundsätzlich als zumutbar definiert und lediglich für solche Fälle eine Sonderfallprüfung vorschreibt, wenn gegenüber der TA Lärm um 5 dB erhöhte Immissionsrichtwerte überschritten werden. Hierdurch würde sichergestellt, dass in aller Regel der von Kindereinrichtungen ausgehende Lärm auch in Wohngebieten von den Gerichten als rechtlich zulässig zu beurteilen ist.

Die Bürgerschaft möge beschließen:

Der Senat wird aufgefordert, den Erlass folgender Rechtsverordnung zu prüfen: „Verordnung zur Regelung von Immissionen durch Kinder- und Jugendeinrichtungen (Kinderlärm-Verordnung) Einziger Paragraph

Die von Kindertagesstätten, Kinderspielplätzen, Schulen und ähnlichen Einrichtungen ausgehenden Emissionen sind grundsätzlich sozialadäquat und auch in Wohngebieten hinzunehmen. Die zuständige Behörde hat zu prüfen, ob die von diesen Einrichtungen ausgehenden Immissionen ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände als unzumutbar zu beurteilen sind, wenn tagsüber folgende Immissionsrichtwerte überschritten werden:

­ in Misch-, Kern-Und Dorfgebieten 65 dB(A),

­ in allgemeinen Wohngebieten und Kleinsiedlungsgebieten 60 dB(A),

­ in reinen Wohngebieten 55 dB(A).

Ein Überschreiten dieser Immissionsrichtwerte ist insbesondere regelmäßig dann unerheblich, wenn die Einrichtung gegenüber anderen Lärmquellen lediglich geringfügig zum Überschreiten des Wertes beiträgt.

Als Grundlage für die Ermittlung und Beurteilung der von den in Satz 1 genannten Einrichtungen ausgehenden Geräusche nach dieser Verordnung sind die Bestimmungen der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) vom 26. August 1998 (GMBI S. 503) sinngemäß heranzuziehen. Ein Zuschlag für Tageszeiten mit erhöhter Empfindlichkeit (Nummer 6.5 TA Lärm) erfolgt nicht."