Erziehung

Es handelt sich hierbei um die zentrale Diversionsbestimmung, da sie der Jugendstaatsanwaltschaft ermöglicht, bereits erfolgte erzieherische Maßnahmen (durch die Eltern, die Schule, die Polizei, usw.) entweder den weiteren Entscheidungen zugrunde zu legen oder einen Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) durchführen zu lassen oder ein Ermahnungsgespräch mit dem Jugendlichen zu führen, um danach das Verfahren einzustellen. Eine Umschreibung des Anwendungsbereichs wurde nicht als sinnvoll angesehen; immerhin gilt die Bestimmung als Steigerung gegenüber § 45 Abs.1 JGG insoweit, als sie erst zur Anwendung kommen soll, wenn dessen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Die Erwartung geht dahin, dass der Staatsanwalt bzw. die Staatsanwältin in geeigneten Fällen persönlich den Jugendlichen vorlädt und mit ihm, ggf. im Beisein der Personensorgeberechtigten, ein eindringliches, die Missbilligung der Normverletzung wie deren Konsequenzen betonendes Ermahnungs- oder Belehrungsgespräch führt.

Die Verfügung des Leitenden Oberstaatsanwalts sieht, von der Anregung eines TOA abgesehen, eine darüber hinausgehende Anregungskompetenz des einzelnen Dezernenten bzw. der einzelnen Dezernentin ausdrücklich nicht vor. Dies überrascht, da sie im Schrifttum nahezu einhellig bejaht wird (und übliche Praxis ist), wobei lediglich strittig ist, ob die Jugendstaatsanwaltschaft die gleichen Anregungsbefugnisse wie das Jugendgericht gemäß § 45 Abs.3 JGG hat (Arbeitsleistungen, Wiedergutmachung, Entschuldigung beim Opfer, Täter-Opfer-Ausgleich, Verkehrsunterricht, Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung) oder darunter bleiben muss.

- § 45 Abs. 3 JGG (Einstellung nach erzieherischem Gespräch mit dem Jugendrichter, ohne oder mit weiteren Maßnahmen). Diese Bestimmung sieht die rechtlich stärkste Intervention im Vorverfahren vor, da hier das Jugendgericht durch die Jugendstaatsanwaltschaft eingeschaltet wird. Ebenfalls geht es hierbei um interaktive Problemerörterung und Normverdeutlichung. Auf einen Kriterienkatalog wurde auch hier verzichtet, doch ist dem systematischen Aufbau der Bestimmung und den darin enthaltenen erzieherischen Interventionen zu entnehmen, dass es sich hier um einen Mehrfachtäter handeln muss, auf den die Maßnahmen des § 45 Abs. 1 und 2 JGG regelmäßig schon angewendet worden waren, wenn freilich immer noch auf eine Anklage verzichtet werden soll. Verlangt wird hier laut Gesetz und entsprechend von der Verfügung ein Geständnis.

Alle Diversionsmaßnahmen sind gesetzlich dem Jugendlichen gegenüber Angebote und Anregungen, die bei Nichtbefolgung keine Zwangsmaßnahmen zur Folge haben können; wohl aber kommt dann eine Anklageerhebung in Betracht. Daher bestehen auch keine zwingenden Einwände, der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren die gleiche Anregungskompetenz zuzubilligen wie dem Jugendgericht.

Die Praxis der Hamburger Diversion

Das Vorverfahren

Das seit 1985 geltende, wiederholt modifizierte Hamburger Diversionsmodell, das eine Vereinbarung der Jugendstrafjustiz, der Polizei und der insoweit betroffenen Sozialen Dienste, d.h., Jugendgerichtshilfe und Jugendbewährungshilfe, darstellt (Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft „Neue Bewältigungsformen von Jugenddelinquenz - Diversion im Jugendstrafverfahren -", vom 17.12.1985), hat in Hamburg zu einer außerordentlich großen Zunahme der Verfahrenseinstellungen gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden vor allem in den Vorverfahren geführt. Misst man die Quote dieser Einstellungen am Gesamt aller anklagefähigen Verfahren (also nach Abzug solcher Verfahren, die gemäß § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts, wegen fehlenden Strafantrags oder fehlender Schuldfähigkeit, § 3 JGG, eingestellt wurden), lag Hamburg diesbezüglich zwar schon seit langem an der Spitze der ­ damals alten ­ Bundesländer mit 75% im Jahre 1981 (zusammen mit Bremen), doch ist der Abstand inzwischen größer geworden: im Jahre 1996 wurden in Hamburg bei zunächst unkritischer Betrachtung 93,7% der Verfahren diversionsmäßig behandelt, bei einem Bundesdurchschnitt von 68,0% (Saarland 59,5%, Bayern 61,5%; Bremen 84,7%. Vgl. Heinz, W., 1998, S. 245-257).

Was die jugendstaatsanwaltschaftliche, sich also auf das Vorverfahren beziehende Hamburger Diversionspraxis auf der Grundlage des § 45 JGG betrifft, so ergaben verschiedene Statistiken und Berechnungen erhebliche Diskrepanzen, so dass von einer verlässlichen Datenbasis, jedenfalls bis in die jüngste Zeit hinein, nicht gesprochen werden konnte. Villmow hat drei zum Teil völlig voneinander abweichende Zahlenwerke für das Jahr 1996 gegenübergestellt (Arbeitsunterlage Staatsanwaltschaften des Statistischen Bundesamts (a.); Drucksache 16/991 vom 10.6.1998, S. 13 der Hamburger Bürgerschaft zur „Situation der Hamburger Staatsanwaltschaften" (b); Erhebung diversionsspezifischer Daten der Hamburger Jugendstaatsanwälte (c), die in der statistischen Auswertung Hamburger Justizdaten des Jahres 1997 durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen Verwendung fanden.

Im Jahre 1997 wurden nach Abzug von Verfahren, die wegen anderweitig geplanter oder durchgeführter Maßnahmen gegenüber dem Tatverdächtigen eingestellt wurden (§ 154 StPO), 9.

Verfahren nach §§ 45 JGG, 153 StPO eingestellt. Wird § 153 StPO als eine vermutlich Heranwachsenden gegenüber angewendete Diversionsentscheidung dem § 45 Abs. 1 JGG zugeschlagen, wurden 93,9% nach diesen beiden Bestimmungen eingestellt (8.374 Verfahren oder 88,2% gemäß § 45 Abs. 1 JGG, 546 Verfahren oder 5,7% gemäß § 153 StPO). Auf Einstellungen nach § 45 Abs. 2 JGG entfielen 4,4% (421 Verfahren), auf Einstellungen nach § 45 Abs. 3 JGG 1,6% (155 Verfahren), zusammen also 6,1% (576 Verfahren). Bei einem Viertel von ihnen wurden weder von der Staatsanwaltschaft noch vom Gericht noch von der Jugendgerichtshilfe ein Ermahnungsgespräch mit dem Jugendlichen geführt oder eine erzieherische Maßnahme mit ihm verabredet (147 Verfahren), was bedeuten kann, dass der Dezernent Kenntnis von vorangegangenen erzieherischen Maßnahmen hatte, die bei der Entscheidung zugrunde lag.

Immerhin blieben auf diese Weise 95,5% der tatverdächtigen Jugendlichen ohne Kontakt zur Justiz.

Wird nach Vorauffälligkeiten differenziert, können keine wesentlichen Unterschiede in den genannten Verteilungen festgestellt werden. Von Einstellungen gemäß §§ 45 Abs. 1 JGG, 153 StPO wurden zu 95,6% bei Ersttätern, zu 93,1% bei Zweittätern und zu 91,9% bei ­ in diesem Sinne ­ Mehrfachtätern Gebrauch gemacht, was umgekehrt einer Zunahme der Einstellungen gemäß § 45 Abs. 2 und 3 JGG von 4,4% bei Ersttätern über 6,9% bei Zweittätern auf 8,1% bei Mehrfachtätern entsprach.

Werden die im 1. KFN-Gutachten ausgewerteten Daten für die Jahre 1990, 1993, 1995 und 1996 hinzugenommen (gleiche Datenbasis, vgl. Tabelle 5, S. 49; alle Neuberechnungen ohne § 154 StPO), ergibt sich ein merklicher Anstieg der Einstellungen gemäß §§ 45 Abs. 1 JGG, 153 StPO: von 82,3% über 93,1%, 92,7%, 91,4% auf 93,9% (1997). Entsprechend nahmen diese Einstellungen ab, von 17,7% (1990) auf 6,1% (1997). Hier muss freilich offen bleiben, inwieweit (so informelle Erkundigungen) Dezernenten bzw. Dezernentinnen bei jugendlichen Verdächtigen mit mehreren vorgeworfenen Straftaten die weniger schwerwiegenden Fälle nicht nach § 154 StPO, sondern nach § 45 Abs. 1 JGG einstellen, um auf diese Weise eine möglichst lückenlose Erfassung im Erziehungsregister zu erreichen (da nur Einstellungen nach Jugendstrafrecht, nicht aber nach allgemeinem Strafrecht eingetragen werden). Dies wäre dann eine Erklärung für den hohen Anteil dieser Einstellungsart bei den sogen. Mehrfachtätern.

Das KFN hatte im weiteren versucht, Faktoren zu ermitteln, die derartige Entwicklungen außerhalb der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsprozesse hätten erklären können, also beispielsweise ein vermehrter Anstieg von Bagatelldelikten etwa im Sinne von geringerer Schadensverursachung oder von Jugendlichen/Heranwachsenden, die für die Begehung der sogen.

Katalogdelikte in Betracht gekommen wären. Beide Gründe hätten dann wenigstens teilweise den Anstieg der folgenlosen Einstellungen erklären können. Solche Faktoren wurden indes nicht gefunden (1. KFN-Gutachten, S. 52 f.), ihre Erwartung war angesichts der Erledigungspolitik gegenüber den sogen. Mehrfachtätern auch nicht plausibel. Während sich nämlich 1990 unter den Einstellungen nach §§ 45 Abs. 1 JGG, 153 StPO 16% Jugendliche und Heranwachsende befanden, die mindestens zum dritten Mal einer Straftat hinreichend verdächtigt worden waren, waren es 1997 33%. Deshalb kamen überwiegend Faktoren in Betracht, die mit der Erledigungspraxis der Jugendstaatsanwaltschaft selbst zu tun hatten, also (sieht man von dem genannten, nicht weiter aufklärbaren Gebrauch der Einstellung gemäß § 45 Abs. 1 JGG statt gemäß § 154 StPO ab), mit ihrer Fallbelastung. Hier fand in den letzten Jahren offensichtlich ein Bedeutungswandel statt, in dessen Gefolge der Aspekt der Verfahrensökonomie den Erziehungsaspekt erheblich überlagerte. Sie wirkten sich ganz besonders auf die Ermahnungsgespräche aus, die zwischen 1990 und 1997 von 892 Fällen auf 340 Fälle, also um 62% zurückgingen (einschließlich § 45 Abs. 3 JGG).

Die durchschnittliche - monatliche - Fallbelastung eines Jugenddezernenten hat folgende Entwicklung genommen (Tabelle 1):

Die kapazitären Engpässe wurden in den Anhörungen daher auch als wichtigster Grund für den hohen Anteil folgenloser Einstellungen gemäß § 45 Abs. 1 JGG genannt.