Grundschule

Ganztagsschulsysteme. Wohlgemerkt: gut gemachte; nicht, wenn nachmittags ein Rentner ein paar Hausaufgaben nachguckt, sondern wenn die Lehrer alle da sind.

(Beifall)

Ein gut gemachtes Ganztagsschulsystem kann den Kindern mit den hohen Begabungen das anregungsreiche Lernmilieu bieten kann, das sie zu Hause eben nicht vorfinden. Und daran haben wir einiges zu tun.

Die Kovariate werden die Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer in den nächsten Jahren immer besser in den Griff bekommen, aber längst nicht in einem ausreichenden Maße. Bei all den Zeitfaktoren, nach denen Sie auch gefragt haben: Wir haben es hier mit großen Schiffen zu tun, und da kriegt man keine Änderung im rechten Winkel, wenn man den Kurs verändern will, sondern das sind große Bögen. Wenn ich hier von Veränderungsprozessen spreche, habe ich Prozesse von 10 bis 15 Jahren vor Augen.

Das deckt sich mit den Erfahrungen in entsprechenden anderen Ländern; die Skandinavier haben ungefähr 30 Jahre gebraucht, das System entsprechend auszutarieren, von der Input- zur Outputsteuerung hin. Also: Unter fünf bis zehn Jahren wäre es schon verwegen, zu meinen, man würde fundamental etwas ändern können; in der Hinsicht sind sich alle Bildungsexperten natürlich einig.

Heterogenität hatten Sie noch, glaube ich, als Nebenfrage an alle Experten und mich dann auch gestellt. Ich denke, es wird einer der wichtigsten Bereiche sein, den Umgang mit Heterogenität unserer Lehrerschaft nahezubringen. Da rede ich aber in erster Linie von der Sekundarstufe I, denn die Grundschule ist ja die modernste Schule, die wir in Deutschland haben; unsere Lehrerinnen und Lehrer werden seit vielen Jahren darin ausgebildet, mit Heterogenität umzugehen. Die Grundschullehrer haben keine Möglichkeit, die Kinder nach unten durchzureichen. Das ist ein Problem der Sekundarstufe I; da hat der Lehrer das falsche Kind, und dann packt er das irgendwo anders hin. In der Grundschule weiß die Lehrerin: Das Kind habe ich, ob mir das nun gefällt oder nicht; die nächsten vier Jahre muss ich damit umgehen. Das müssen wir mehr in die Sekundarstufe I einbringen.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Das waren gerade Hinweise zur Strukturfrage gerade!)

­ Ja, das habe ich auch nicht tabuisiert. Ich habe nur davor gewarnt: Wenn man sagt: Morgen führen wir ein Gesamtschulsystem ein, und dann wird bei uns alles besser, dabei kommt nichts herum, wenn wir in der Gesamtschule den gleichen schlechten Unterricht machen wie wir das bis jetzt machen.

Frau Hendricks, Sie hatten gefragt: Was ist mit den suboptimalen Schulzuweisungen?

Wir finden das Phänomen, dass die unterschiedlichen Schulformen sehr differentielle Entwicklungsmilieus bieten. Wir haben sehr klare empirische Befunde darüber, dass Kinder, die mit den gleichen Kompetenzen und bei gleicher Intelligenz einmal auf die Hauptschule und einmal auf das Gymnasium überwiesen werden, sehr unterschiedliche Entwicklungen durchmachen. Diejenigen, die auf das Gymnasium gekommen sind, machen erheblich höhere Lernfortschritte als diejenigen, die mit gleicher Kompetenz und Intelligenz auf die Hauptschule gekommen sind. Es sind insbesondere die Untersuchungen von Baumert aus dem Max-Planck-Institut, die diese differentiellen Lernmilieus so wunderschön nachweisen und beschreiben.

Das heißt: Wenn ich von meinem Kind reden würde, würde ich das im Zweifelsfall immer auf das Gymnasium schicken wollen; das ist doch ganz klar, da findet es doch das bessere Entwicklungsmilieu vor. Das ist eine vollkommen menschliche Angelegenheit, dass man das so macht. Diese differentiellen Entwicklungsmilieus, mit denen wir es zu tun haben, darf man nicht ausblenden; das sind einfach Fakten, die man zur Kenntnis nehmen muss.

Frau Pieper-von Heiden: Ich würde den Prognoseunterricht immer so sehen, dass er eine zusätzliche Information im Gesamtinformationskanon liefert. Das ist das Gleiche, als wenn ich zum Arzt gehen würde, eine Operation stünde an; Ich würde mehrere Meinungen einholen. Dann wäre es vermutlich leichter zu entscheiden, was wirklich gut sein soll. Der Prognoseunterricht wird das Problem nicht lösen, sondern er wird ein zusätzliches gutes Kriterium sein können, um zu Entscheidungen zu kommen ­ sei es nun mit oder ohne Einbezug der Eltern; das ist eine politische Angelegenheit.

Auf jeden Fall wird der Prognoseunterricht eher nutzen als schaden; das ist ganz klar.

An dieser Stelle zusätzliche Informationen einzuholen, kann nur eine sinnvolle Angelegenheit sein. Wo dann die Entscheidung hingeht, das ist eine politische Angelegenheit; das habe ich als Wissenschaftler nicht zu entscheiden. Das sollen Sie machen.

Herr Kaiser, die Diagnosekompetenz unserer Lehrkräfte ist noch weniger als suboptimal. Ich denke, außer den Sonderschullehrern hat überhaupt kein Lehrer bei uns in der Ausbildung diagnostische Verfahren kennen gelernt; das findet in Deutschland schlicht und ergreifend nicht statt. Die Sonderschullehrer gehen mit diagnostischen Verfahren um, alle anderen nicht. An den meisten Universitäten gibt es innerhalb der Pädagogischen Psychologie überhaupt keine Professuren für pädagogische Diagnostik. Das ist ein Riesendesaster, das fehlt schlicht und ergreifend.

In Deutschland hat man sich lieber über Humboldt unterhalten, als pädagogische Diagnostik zu betreiben. Humboldt schadet nichts, aber pädagogische Diagnostik ist schlicht und ergreifend an dieser Stelle zwingend vorgeschrieben. Haben wir aber nicht.

Das bedeutet: Wir müssen unsere Lehrer in pädagogischer Diagnostik optimal ausbilden. Das wird mehrere Jahre dauern. Man kann das nicht per Brief machen und anordnen: Ab morgen machen Sie besseren Unterricht, ab morgen acht Uhr machen Sie gute pädagogische Diagnostik. Das geht nun einmal so nicht, sondern man wird das mit den Lehrerinnen und Lehrern, die da sind, einüben müssen. Da wird man in der Lehrerfortbildung eine ganze Menge machen müssen. Das sehe ich dann durchaus als zielführend. Man kann die pädagogische Diagnostik ein ganzes Stück verbessern; das will ich gar nicht anzweifeln.

Über Noten hatten Sie noch etwas gesagt. Bei der Notengebung haben wir das Problem, dass sie in den Schulen in der Bezugsgruppe stattfindet.

(Zuruf: Zu viele Daten!)

­ Ja, und deswegen brauchen wir zusätzlich einen Kriterienkatalog. Die Standards der Kultusministerkonferenz können der erste Weg dazu sein, damit man dann auch wirklich weiß: Wir haben hier Kompetenzstufe 3; bei einem Kind, das in der Regel Kompetenzstufe 3 erreicht, können wir prognostizieren, dass dies eine gute

Voraussetzung ist, um einen gymnasialen Weg zu gehen. Da kann das hilfreich sein.

Die Kriterien brauchen wir zusätzlich, denn im Moment können wir bei den unterschiedlichen Noten auf Noten-Grundlage keine vernünftige Prognose erstellen, ohne dass wir zusätzlich diese Kriterien haben. Daran wird in der Kultusministerkonferenz gearbeitet. Das ist auch, denke ich, eine ganz sinnvolle Sache.

Wir werden, wie ich das vorhin auch schon sagte, wenn wir diese Maßnahmen laufen lassen, den Fehler minimieren können. Wir werden ihn aber nicht ausräumen. Er ist einfach systemimmanent; an dieser Stelle muss man einen Fehler begehen, das geht gar nicht anders. Wir können ihn minimieren. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir einen nachträglichen Ausgleich schaffen; das halte ich für vollkommen zentral.

Udo Beckmann (VBE NRW): Ich bin zuerst von Frau Beer angesprochen worden mit der Frage Auswirkung verbindlicher Grundschulgutachten auf die Professionalität.

Wenn wir verbindliche Grundschulgutachten haben, dann löst das in den Köpfen etwas aus: nämlich dass ich bestimmte Schülerinnen und Schüler zugeführt bekommen muss.

Entweder passen diese Schülerinnen und Schüler in mein System oder nicht. Die Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, ist gerade von Prof. Bos sehr deutlich dargestellt worden: nämlich der Umgang mit Heterogenität, ganz gleich, in welcher Schulform ich mich befinde.

Dazu gehört für mich auch die Diagnosefähigkeit, und zwar die Diagnosefähigkeit nicht nur bezogen auf den Bereich Grundschule, sondern in allen Schulformen. Ich erwarte zum Beispiel auch, dass ein Realschulleiter, der einen Schüler aufnimmt, eine Diagnosefähigkeit hat; denn wenn er ihn aufnimmt, muss er davon ausgehen, dass er auch seine Schullaufbahn erfolgreich beenden wird. Von daher ist Diagnosefähigkeit eine Grundvoraussetzung für alle Bereiche, um immer wieder zu gucken: An welchen Stellen muss ich individuell nachlegen und individuell fördern? Ohne das geht es nicht.

Prognoseunterricht wurde von Frau Pieper-von Heiden angesprochen. Ich habe mich zum Prognoseunterricht in meinem Statement geäußert und habe auch darauf hingewiesen, dass ich es nicht für sinnvoll halte, in einem dreitägigen Verfahren in einer fremden Lerngruppe mit fremden Lehrern zusätzliche Erfahrungen zu sammeln. Ich glaube nicht, dass man sich in diesen drei Tagen ein besseres Bild machen kann als der Grundschullehrer oder die Grundschullehrerin in vier Jahren. Wenn wir schon so sehr auf die Grundschule setzen, dann sollte man auch in diesem Bereich auf die Langzeitbeobachtung der Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer setzen.

Damit bin ich bei der Frage von Frau Kastner. Ich habe an keiner Stelle gesagt, dass ich Grundschulempfehlungen als nicht sinnvoll empfinde. Ich habe auch an keiner Stelle gesagt, dass die Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer nicht mitsprechen sollen.

Den Hinweis, der vom Kollegen Brambach kam, dass aufgrund des jetzigen Verfahrens die Diagnosefähigkeit von Grundschullehrern zu verkümmern droht, halte ich schlichtweg für eine Frechheit. Es tut mir Leid; da muss ich mich vor die Lehrerinnen und Lehrer stellen; das kann ich so nicht stehen lassen.

Frau Kastka hat sehr deutlich gemacht, welche Verfahren in den Grundschulen laufen, um sich über die Schulzeit hinweg von dem einzelnen Schüler ein Bild zu machen.