Wohlfahrt

Beobachtungen sehr viele gegenseitige Vorbehalte, aber auch zahlreiche Heilserwartungen dahin gehend, was das jeweils andere System kann, die nicht bedient werden können. Dem könnte man durch gemeinsame Fortbildungen ­ und auch durch gemeinsame Arbeitskreise, die Herr Noeker nun nicht haben möchte ­ begegnen; denn ein gemeinsam abgestimmtes Handeln kann erst dann erreicht werden, wenn man sich besser kennt.

Susanne Drews (Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen, Dortmund): Ich bin nicht direkt angesprochen worden. Auch ist alles, was ich hätte sagen können, schon gesagt worden. Deshalb verzichte ich.

Matthias Seibt (Landesverband Psychiatrie-Erfahrener NRW e. V., Bochum): Die durchschnittlich 25 Jahre geringere Lebenserwartung kommt nicht daher, dass jemand mal ein paar Orangen isst, der dann doch noch gerettet wird. Das war eine eher kabarettistische Einlage. Angesichts der Ernsthaftigkeit dieses Themas finde ich es unverschämt, so damit umzugehen. Frau Ott hat ja zugegeben, dass diese Aussage für die Diagnose Psychose stimmt und dass sie nicht mehr ausschließlich von den Psychiatrie-Erfahrenen vorgetragen wird. Ich kann die Vertreter der Politik nur auffordern, einmal die Todesfälle zu zählen, und zwar nicht nur während des stationären und teilstationären Aufenthalts, sondern auch zwölf Monate danach. Aus der hier immer wieder angesprochenen nicht behandelten Population können Sie die Vergleichsgruppe bilden. Dann werden Sie sehen, wie gefährlich und tödlich Psychiatrie ist. Im Übrigen gibt es sehr wenige Leute, die unter Neuroleptika arbeiten. Das Ganze ist auch gut untersucht. Diagnose Psychose ­ kein Medikament: um den Faktor 1,3 erhöhte Sterblichkeit; ein Medikament: um den Faktor 2 erhöhte Sterblichkeit; zwei Medikamente: um den Faktor 3 erhöhte Sterblichkeit; drei Medikamente: um den Faktor 6 erhöhte die Sterblichkeit. Die Beweise sind eineindeutig.

Warum wird das Ganze trotzdem gemacht? Die Ärzteschaft ist mit der Pharmaindustrie total verfilzt. Das wurde heute noch gar nicht angesprochen. 40 % des Pharmaumsatzes... Vorsitzender Günter Garbrecht: Das wollen wir jetzt auch nicht mehr ansprechen, Herr Seibt.

Matthias Seibt (Landesverband Psychiatrie-Erfahrener NRW e. V., Bochum): Okay. Dann lasse ich es weg und komme zu einem anderen Thema.

Vorsitzender Günter Garbrecht: Sie haben jetzt noch die Gelegenheit, kurz auf die Frage einzugehen, die Herr Dr. Romberg speziell an Sie gerichtet hat.

Matthias Seibt (Landesverband Psychiatrie-Erfahrener NRW e. V., Bochum): Gut. ­ Vor der Diagnose kommt die Anamnese, also die Aufnahme des Istzustands.

Dafür nehme ich mir immer sehr viel Zeit. Die Leute fragen mich fast immer: Haben Sie denn jetzt noch Zeit? ­ Natürlich muss ich diese Zeit haben. Wenn ich nicht weiß, was los ist, kann ich auch nicht raten ­ es sei denn, im Sinne eines Ratespiels. Zu der genauen Analyse dessen, was los ist, gehört zum Beispiel auch, herauszufinden, wie viel Geld zur Verfügung steht. Können die Betroffenen es sich leisten, aus Bochum zu einem guten Arzt nach Duisburg zu fahren? Können sie sich Kinobesuche und so etwas leisten?

Die Leute rufen mich an, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Dann haben sie schon psychiatrische Behandlung gehabt und waren damit nicht zufrieden. Vorher ruft niemand an; so bekannt sind wir nicht. Was ich ihnen dann rate, hängt von ihrer jeweiligen Situation ab. Man kann zum Beispiel raten, das Kind zu einem Onkel oder einer Tante zu geben, wenn die Familienverhältnisse zwischen Sohn bzw. Tochter und Eltern kaputt sind. Ein anderer Ansatz ist, nach Möglichkeiten zu suchen, um Perspektiven zu schaffen. Oft resultieren psychiatrische Probleme aus brutalem Mobbing in der Schule. Es ist ein Versagen der Lehrer, dass das nicht bemerkt wird.

Oft sagen die Eltern auch: Mein Sohn bzw. meine Tochter wird gemobbt, und die Lehrer machen nichts. ­ Um so etwas ignorieren zu können, ist das Gehalt zu gut.

Wenn das über Monate und Jahre gegangen ist ­ meistens braucht es ein Jahr bis zwei Jahre, bis jemand so weit ist ­, fängt die Psychiatrisierung an. Leider ist es nicht einfach, wieder dort heraus und zurück in die Schule zu kommen. Es gibt auch Eltern, die sich zu sehr in das Leben ihrer Kinder einmischen. Ihnen rate ich natürlich: Halten Sie sich heraus; lassen Sie Ihren Sohn bzw. Ihre Tochter selber erwachsen werden.

Bevor man überhaupt Diagnosen stellt, sollte man zwei Drittel oder drei Viertel der Zeit in die Anamnese stecken. Dieses Wort ist heute nicht gefallen. Das wundert mich auch überhaupt nicht.

Markus Schnapka (Stadt Bornheim): Erstens: Prävention. Wenn man etwas vom Elementarbereich fordert, muss man ihn auch entsprechend ausstatten. Derzeit ist er aber der ärmste Sektor in unserem Bildungssystem und verfügt über die am wenigsten qualifizierten Fachkräfte. Will man dort wirklich mehr Früherkennung erreichen, muss man also investieren. Auf jeden Fall brauchen wir auch eine Rückkehr zu etwas Altem, was wir schon einmal hatten. Die U-Untersuchungen sollten nämlich bitte wieder im Kindergarten stattfinden. Der Kindergarten erfasst immer mehr und auch jüngere Kinder. Es ist richtig, die U-Untersuchungen dort durchzuführen, um damit auch in dieser Institution Früherkennung zu haben.

Zweitens: steigende Fallzahlen bei den Hilfen zur Erziehung. Die Armut frisst sich fest. Das kann man quantitativ ablesen. Erforscht ist dieses Thema überaus reichlich.

Noch ein weiteres Forschungsprojekt draufzusetzen, wäre wirklich ein Drama. Dieses Thema ist durch. Es ist klar, woran es liegt und womit es zusammenhängt. Nicht klar ist, wie man dagegen vorgeht oder was man tun kann, damit sich die Institutionen auf die Menschen zubewegen. Dazu sind hier verschiedene Beispiele genannt worden; das möchte ich nicht noch weiter ausführen.

Drittens: Modell oder kein Modell? Die Etablierung eines Modells sehe ich auch skeptisch. Ich bin eher für verlässliche Strukturen. Selbstverständlich können Kommunen ­ je nach Größe ­ nicht das interdisziplinäre Spektrum an Professionen vorhalten, das für diese Fälle notwendig ist. Deswegen wäre eine überörtliche Instanz sinnvoll, von der Servicefunktionen angeboten werden, die abgerufen werden können. Wir würden das als Kommune nutzen.

Vierter Punkt: Gendergedanke. Das Ganze ist überwiegend ein Jungenthema ­ zumindest quantitativ; qualitativ sieht es natürlich anders aus. In unseren Einrichtungen haben wir aber zu 60 % Jungen. Auch die Suizidforschung zu diesem Bereich kommt zu dem Ergebnis, dass bei ihnen eine besondere Auffälligkeit besteht. Den Gendergedanken würde ich in anderen Zusammenhängen gerne noch einmal aufgreifen.

Jetzt bleibt mir nicht die Zeit dazu.

Dr. Falk Burchard (Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik, LWL-Klinik Marsberg): Ich bin auf die Stichworte Bindung und Kontinuität angesprochen worden. Leider haben wir diskontinuitäre Strukturen, die zum einen Reibungsverluste mit sich bringen und sich zum anderen auch auf die Zufriedenheit bei der Arbeit auswirken. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir im Einzelfall erst einmal die Reibungsverluste aller aufarbeiten müssen, sind wir nicht mehr zufrieden.

Dort gibt es also viele Verbindungen miteinander.

Darüber hinaus ist es wichtig, die gesellschaftliche Verantwortlichkeit für die Jugend aufrechtzuerhalten, also die Sorge für die Gesundheit unserer Jugend nicht weiter zu privatisieren. Vielleicht können die Landschaftsverbände mit ihren Landesjugendämtern doch noch eine etwas verbindlichere Klammer werden, die dann für das ganze Land wirksam werden könnte.

Dr. Khalid Murafi (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und psychotherapie, Psychotherapeut für Erwachsene, Lüdinghausen): Ähnlich wie Herr Weglage möchte auch ich Sie einladen, und zwar in eine Jugendhilfeeinrichtung nach Aachen. Dort haben wir das umgesetzt, was Herr Schnapka in Bezug auf die Voraussetzungen gerade gut formuliert vorgegeben hat: auf Augenhöhe miteinander zu kooperieren und Klienten gemeinsam mit Vertretern der unterschiedlichen Professionen anzuschauen. Im Kreis Coesfeld haben wir vor Kurzem auch ein entsprechendes Modellprojekt auf den Weg gebracht. Sie sind herzlich eingeladen, sich das anzuschauen.

Erreichen konnten wir in den letzten zwei Jahren eine klare Verringerung der stationären Aufnahmen und eine deutliche Reduktion des Wechsels von Einrichtungen sowie im Besonderen ein Angleichen von sehr befremdlichen gegenseitigen Bildern voneinander und mehr Vertrauen. Das kommt letztendlich den Klienten zugute; denn es führt dazu, dass plötzlich auch Klienten Vertrauen haben. Im Gegensatz zu anderen Jugendhilfeeinrichtungen, aus denen man oft hört, dass der Zugang zu Therapie nicht gewünscht ist und dann Zwangsmaßnahmen usw. die Folge sind, konnten wir mittlerweile erreichen, dass von den Jugendlichen selbst angefragt wird: Wann kommen wir in diesen Prozess? Wann dürfen wir mit Sinn und Verstand, mit Anamnese und mit all dem angeschaut werden? Wann bekommen wir eine Rückmeldung über unsere Situation? Wann wird uns adäquat geholfen? ­ Ich denke, dass Qualität in gewisser Weise auch daran deutlich wird, dass die Klienten selbst positive Rückmeldungen geben.

Dr. Birgit Lambertz (LVR-Landesjugendamt Rheinland, Köln): Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass es hier um Kooperation geht und nicht um die Frage, wer das Primat über ein bestimmtes System hat. Kooperation besteht ja darin, die Vorteile und Stärken der einen Seite mit den Vorteilen und Stärken der anderen Seite zu verbinden. In der Vergangenheit ­ schon ab den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts ­ hat es tatsächlich eine ganze Reihe von Projekten gegeben. Gute Projekte beginnen nach meiner Erkenntnis damit, dass man sich erst einmal erfolgreich auf gemeinsame Ziele verständigt, und enden damit, dass sie nachhaltig sind. Wenn Sie ein Projekt anstoßen wollen, sollten Sie also etwas tun, was kein Strohfeuer ist, sondern auch mit einem langen Atem verbunden ist.

Vorsitzender Günter Garbrecht: Der Hinweis, dass die zu treffenden Maßnahmen mit einem langen Atem verbunden sein sollten, ist ein sehr gutes Schlusswort. Das wollen wir bei der Auswertung dieser Anhörung und der Weiterberatung der beiden vorliegenden Anträge auch erreichen.

Das Protokoll wird Ihnen zugehen. Sie werden sicherlich auch darüber in Kenntnis gesetzt, wie der Input, den Sie uns heute gegeben haben, umgesetzt wird.

Herzlichen Dank für Ihre Teilnahme am heutigen Tag!