Jugendstrafanstalt

Landtag Nordrhein-Westfalen - 10 - EKPr 14/11

Enquetekommission III 02.10.

Eine weitere Möglichkeit, Resozialisierungschancen zu verbessern, wäre die Änderung der Sozialgesetzgebung, die vorsieht, dass Leistungsempfänger der Agentur für Arbeit bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres im Elternhaus wohnen bleiben müssen. Geht man davon aus, dass teilweise ­ nicht ausschließlich ­ das Elternhaus und das soziale Umfeld an der Entwicklung der Kinder in die Kriminalität beteiligt sind oder diese zumindest nicht haben verhindern können, liegt meines Erachtens die Erkenntnis auf der Hand, dass diese Bestimmung der Resozialisierung nicht förderlich sein kann und in hohem Maße als kontraproduktiv bewertet werden muss, wenn die Jugendlichen nach Entlassung aus der Untersuchungshaft, in der sie natürlich auch Kompetenzen erworben haben, gezwungen sind, wieder in ihr altes soziales Umfeld zurückzukehren.

Ein anderes Beispiel entstammt der Ausländergesetzgebung: Der Ausländeranteil

- nicht der Anteil der jungen Menschen mit Migrationshintergrund ­ an der Bevölkerung in Köln beträgt etwa 17 %. Der Anteil an der Zahl der Straftäter und der Zahl derer, die sich vor dem Jugendgericht zu verantworten haben und verurteilt werden, liegt bei über 30 % und damit doppelt so hoch. Das ist ein deutliches Missverhältnis.

Wenn ein verurteilter junger Straftäter zum Zeitpunkt der Verurteilung nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, ist er von Ausweisung bedroht und erhält den Ausweisungsbescheid oft schon in die Strafanstalt geschickt. Da sehen die Bedingungen für ihn zum Teil auch sehr eingeschränkt aus, weil sein Verbleib in Deutschland nicht genau kalkulierbar ist.

Nach der bedingten Entlassung aus der Strafhaft wird die Abschiebung ausgesetzt.

Das ist das, was früher unter dem Begriff „Duldung" bekannt gewesen ist. Die Zeiträume dieser Duldung, hier in Deutschland zu bleiben, liegen im Ermessen der Ausländerbehörde. Der Schnitt liegt bei sechs Wochen bis zwei Monate Verlängerung. Konsequenz ist, dass die Unterbringung in einem Wohnheim, einer Therapieeinrichtung oder die Aufnahme von Arbeit usw. nahezu ausgeschlossen sind. Abhilfe ist meines Erachtens sinnvoll nur zu schaffen mit dem Verzicht auf die Abschiebung bei jungen Erwachsenen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die ihr Heimatland nur durch den Urlaub kennen und ihre Muttersprache nicht oder nur unvollständig beherrschen.

Zum Schluss noch einen Appell bzw. eine Bitte: Das Justizministerium NRW plant eine zentrale Jugendstrafanstalt - soweit ich informiert bin auch mit Untersuchungshaftvollzug - in Wuppertal. Als Ortskundige schließe ich von der Vereinszugehörigkeit „Naturschutzbund" als einem der Gegner, der sich als Erster am lautesten artikuliert hat, auf eine Stadtrandlage. Ich bitte dabei zu bedenken, dass die notwendigen Hilfen zur Haftvermeidung, die Vorbereitung der Hauptverhandlung, eine frühzeitige Entlassungsvorbereitung und ­ besonders wichtig ­ der Erhalt und die Pflege familiärer Bindungen, Nähe und Erreichbarkeit der Jugendgefängnisse erforderlich machen. ­ Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Michael Hellberg (Martinistift Nottuln): Sehr geehrte Frau Vorsitzende! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bedanke mich zunächst einmal für die Einladung, als Sachverständiger hier an der Anhörung teilnehmen zu dürfen, und möchte mich kurz Landtag Nordrhein-Westfalen - 11 - EKPr 14/11

Enquetekommission III 02.10. vorstellen: Mein Name ist Michael Hellberg. Ich bin von meiner Profession her Diplom-Psychologe und als Geschäftsführer der Martinistift gGmbH, einer großen Jugendhilfeeinrichtung im Münsterland, tätig. Die Einrichtung ­ um das ganz kurz zu umreißen ­ hat 150 stationäre Plätze, eine heiminterne Beschulung sowie Ausbildungsbetriebe auf einem großen Stammgelände, wo auch Jugendliche ohne Schulabschluss in unterschiedlichen handwerklichen Berufen ­ vom Schlosser über Gartenlandschaftsbauer bis hin zur Fachkraft in der Großküche ­ eine Ausbildung machen können. Unser Schwerpunkt ist die Intensivpädagogik. Dabei geht es um Gruppen mit einem erhöhten und auch sehr hohen Betreuungsschlüssel. Der höchste Betreuungsschlüssel ist bei uns die 1:1-Betreuung. Das heißt: Auf neun Plätze kommen auch neun Vollzeitkräfte. Wir refinanzieren uns fast ausschließlich über die Pflegesätze der Jugendämter, zu Teilen aber auch über die Gerichte bei JGG-Maßnahmen. Ich war über viele Jahre hinweg in der pädagogischen Leitung für geschlossene Intensivgruppen zuständig.

Zu den geschlossenen Intensivgruppen möchte ich kurz etwas sagen: Vielfach werden sie mit Intensivstraftätern assoziiert. Die Indikation der geschlossenen Unterbringung ist aber eine andere. Dabei geht es nämlich um Jugendliche, die sich der pädagogischen Einflussnahme entziehen, aber nicht notwendigerweise straffällig werden. Wenn sie auf der Straße leben, kommt es natürlich zu Diebstahlsdelikten oder auch Beschaffungskriminalität, wenn sie etwa mit Drogen zu tun haben. Aber das ist nicht die Hauptindikation.

Wir haben 36 geschlossene Plätze. Vielleicht sind fünf oder sechs Jugendliche solche, die man in die Rubrik „Intensivstraftäter" eingruppieren kann. Der Rest hat mit einer anderen Problematik zu tun. Es ist mir wichtig, das zu betonen, weil häufig in einem Atemzug von der geschlossenen Gruppe einerseits und gleichzeitig Intensivstraftätern andererseits gesprochen wird. Das ist aber definitiv nicht so.

Wir haben es aber mit Jugendlichen zu tun, die bereits ein manifestes und hoch chronifiziertes Störungsbild aufweisen. Es handelt sich um Jugendliche, die schon viele Einrichtungen durchlaufen haben, viele Maßnahmen abgebrochen und in der Regel mehrere Psychiatrieaufenthalte erlebt haben. Deshalb ist es mir an dieser Stelle einfach wichtig zu betonen, wie bedeutend das Ziel „Prävention" ist. Denn bei uns in der stationären Jugendhilfe wie auch in der JVA erleben wir letztlich Kinder und Jugendliche, die oft schon lange in den Brunnen gefallen sind.

Noch einmal kurz zu unserer Klientel: Es geht um Jugendliche mit multiplen Problemlagen. Die übliche Diagnose lautet immer „Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen". Gemeinsam ist all diesen Jugendlichen, dass sie in den verschiedensten Bereichen häufig massiv entwicklungsverzögert sind und deshalb in einem sehr umfangreichen Maße Bedingungen benötigen, in denen sie nachreifen können. Dies lässt mich letztendlich auch zu der Überzeugung gelangen, dass möglichst alle Jugendlichen mit signifikanten Auffälligkeiten ­ eben weil sie Jugendliche sind und sich noch in der sensiblen Phase der Entwicklung befinden ­ im Rahmen der Jugendhilfe aufgefangen werden sollten. Dies gilt umso mehr, je jünger die Jugendlichen sind.

Die Bedingungen zur Nachreifung, die gegeben sein müssen, damit Resozialisierung überhaupt funktionieren kann, lassen sich aus den Erfahrungen, die wir im Martinistift Landtag Nordrhein-Westfalen - 12 - EKPr 14/11

Enquetekommission III 02.10. oder in der Jugendhilfe über viele Jahre hinweg gewonnen haben, wie folgt benennen und in eingeschränktem Maße auf die Bedingungen im Jugendstrafvollzug übertragen und für die Entwicklung alternativer Angebote anwenden. Darüber hinaus ­ das ist auch mir ein Anliegen ­ können wir dieses Erfahrungswissen auch als Ausgangspunkt nehmen, um Kitas, Grundschulen, weiterführende Schulen sowie Angebote für Kinder und Familien im Sozialraum diesbezüglich in den Blick zu nehmen.

Denn je früher man anfängt, Chronifizierungen entgegenzuwirken, desto höher sind die Chancen, erfolgreich zu sein.

Die Hirnforschung ­ das zum Abschluss ­ bemüht immer das Bild von der Straße.

Betrachtet man die neurologischen Bahnen, so lässt sich ein kleiner Trampelpfad eher korrigieren als eine breit ausgebaute Autobahn. Bei unseren delinquenten Jugendlichen haben wir es leider bereits mit ausgebauten Autobahnen zu tun. Diese Jugendlichen bahnen ihr Verhalten immer wieder in dieselbe Richtung. Darum sind gerade für solche delinquenten Jugendlichen besondere Anstrengungen zu unternehmen, um entsprechende Bedingungen für deren Nachreifung und Nachprägung zu liefern und aufzubauen. ­ Vielen Dank.

Ismail Ünsal (Integrationshilfe Berlin-Brandenburg): Sehr geehrte Frau Vorsitzende! Meine Damen und Herren! Zuerst möchte ich mich für die Einladung bedanken. Ich bin Praktiker und arbeite mit aggressiven, gewalttätigen Jugendlichen. Ich versuche, sie dazu zu bringen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Mal sehen, ob ich das auch bei Ihnen hinbekomme!

Mit meinem Beitrag möchte ich besonders einige Fragestellungen aus der Migrantenperspektive in den Vordergrund stellen:

Seit 16 Jahren bin ich in der Integrationshilfe Berlin-Brandenburg beschäftigt. Die Integrationshilfe ist eine der ersten Einrichtungen im Bereich der ambulanten Hilfen für straffällig gewordene ausländische Jugendliche in Berlin. Es gibt bei uns seit 1980 ein Brücke-Projekt, wie es auch in Nordrhein-Westfalen sehr verbreitet ist, außerdem den Täter-Opfer-Ausgleich und einen Opferfonds. Zunächst war das nur für türkische Jugendliche vorgesehen, um der Benachteiligung der türkischen Jugendlichen in einem Strafverfahren entgegenzuwirken. Anschließend wurde das Angebot für alle Jugendlichen geöffnet, auch deutsche Jugendliche. Der interkulturelle Aspekt wurde beibehalten. Zurzeit haben 60 % unserer Jugendlichen einen Migrationshintergrund.

Es fällt Migranten schwer, den überproportionalen Anteil Jugendlicher mit Migrationshintergrund an der Kriminalitätsstatistik ­ insbesondere im Zusammenhang mit Gewalttätigkeit ­ zu akzeptieren. Es gibt sehr viele Kulturvereine oder ähnliche Einrichtungen, aber leider nur sehr wenige Migrantenorganisationen, die sich dieses Themas angenommen haben. Das hat seinen Grund: Sie befürchten nämlich, dass die Ursachenbeschreibung der Straffälligkeit ­ ich meine ethnische, kulturelle oder migrationsbedingte Faktoren ­ diese Gruppe vermeintlich stigmatisieren würden.

Damit könnte durch die Kriminalitätsbelastung ihre ethnisch-kulturelle Identifikation infrage gestellt werden. Aber auch die Migranten machen Entwicklungen durch. Wir setzen uns damit auseinander.