Nicht-Teilnahme von Schülerinnen und Schülern an schulischen Veranstaltungen aus religiösen oder kulturellen Gründen

Bei schulischen Veranstaltungen ist zwischen verpflichtenden schulischen Veranstaltungen (etwa der Pflichtunterricht) und freiwilligen schulischen Angeboten zu unterscheiden. Bei letzteren stellt sich aufgrund der Freiwilligkeit nicht die Frage von Befreiungstatbeständen, sodass in der Beantwortung der Frage nur auf Veranstaltungen im Rahmen der Schulpflicht eingegangen werden muss.

Diese Vorbemerkung vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt:

Frage 1. Liegen der Landesregierung Daten und Erkenntnisse darüber vor, in welchem Maße Schülerinnen und Schüler aus religiösen oder kulturellen Gründen nicht am Sportunterricht teilnehmen?

Nein, entsprechende Daten werden nicht erhoben.

Frage 2. Liegen der Landesregierung Daten und Erkenntnisse darüber vor, in welchem Maße Schülerinnen und Schüler aus religiösen oder kulturellen Gründen nicht an Klassenfahrten teilnehmen?

Nein, entsprechende Daten werden nicht erhoben.

Frage 3. Sind religiöse und kulturelle Begründungen generelle Befreiungstatbestände für die Nichtteilnahme von Schülerinnen und Schülern an schulischen Veranstaltungen?

Generelle Befreiungstatbestände in Bezug auf die Schulpflicht gibt es nicht.

Wenn es zu Konflikten aufgrund vermeintlicher oder tatsächlicher Unvereinbarkeit von schulischen Inhalten auf der einen Seite und religiösen Grundüberzeugungen von Eltern, Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite kommt, können diese nur im Weg einer begründeten Einzelentscheidung gelöst werden. Dabei ist von den nachfolgend dargestellten, von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen auszugehen:

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) ist gleichrangig mit dem elterlichen Erziehungsrecht aus Art. 6 GG und dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (Glaubensund Bekenntnisfreiheit). Diese Verfassungsnormen können in Einzelfällen in Konkurrenz zueinander treten.

Die ständige Rechtsprechung stellt hier den hohen Wert der Schulpflicht heraus. In Konfliktfällen wird verlangt, dass bei einer Abwägung aller zu berücksichtigenden Gesichtspunkte diese zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden sollen.

Nur wenn ein solcher Ausgleich nicht möglich ist, hat die Rechtsprechung in bestimmten Einzelfällen einen Anspruch auf Befreiung von bestimmten Unterrichtsveranstaltungen bestätigt. Voraussetzung dafür ist, dass ein nicht anders auflösbarer Gehorsamskonflikt mit den Geboten des Glaubens besteht. Die Darlegungslast dafür, dass die betroffene Schülerin oder der betroffene Schüler durch verbindliche Ge- oder Verbote des Glaubens gehindert ist, der gesetzlichen Schulpflicht zu genügen, trifft immer denjenigen, der eine Befreiung von der Schulpflicht erlangen will.

Hierbei genügt es nicht, sich auf behauptete Glaubensinhalte oder Glaubensgebote zu berufen. Erst eine konkrete substanziierte und objektiv nachvollziehbare Darlegung eines Gewissenskonflikts als Konsequenz aus dem Zwang, der eigenen Glaubensüberzeugung zuwiderzuhandeln, kann einen solchen Anspruch rechtfertigen. In der Regel bedarf es hierzu der Bescheinigung einer anerkannten Autorität der Glaubensrichtung (Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. August 1993, Az.: 6 C 8.91, Az.: 6 C 30.92, Az.: 6 C 7.93, abgedruckt in SPE n. F. 882 Nr. 10 bis 12).

Frage 4. Wie bewertet die Landesregierung diese Fälle der Nichtteilnahme an schulischen Veranstaltungen?

Schulische Veranstaltungen sind wichtige Elemente des Bildungs- und Erziehungsauftrages der Schule - und zwar unabhängig davon, ob es sich um verpflichtende oder freiwillige handelt. Sie sind ausdrücklich Teil der pädagogischen Konzeption der Schule und dienen dazu, auch diejenigen Schülerinnen und Schüler zu integrieren, deren Herkunftsfamilien einen anderen religiösen oder kulturellen Hintergrund aufweisen.

Vor diesem Hintergrund ist jeder Einzelfall mit Sorge zu betrachten und mit Sorgfalt zu behandeln. Dabei muss aber immer differenziert werden, ob in dem jeweils gegebenen Fall nur eine einzelne Unterrichtseinheit aus religiösen Gründen abgelehnt wird (etwa Sexualkunde), ein ganzes Fach (beispielsweise Sport) oder die Schule oder Schulbesuchspflicht insgesamt (wie bei Vertretern der Heimschulbewegung zu beobachten).

Frage 5. Welche Möglichkeiten sieht die Landesregierung, in den angesprochenen Fällen die Schulpflicht durchzusetzen?

Selbst wenn in Einzelfällen aufgrund eines nicht anders auflösbaren Gehorsamskonflikts mit dem Glauben die Schulpflicht unter Zugrundelegung der Grundsätze der Rechtsprechung zurücktreten kann, bedeutet dies nicht, dass die Schulpflicht aufgehoben ist. In allen Fällen ist - im Interesse des Kindes und seines Rechts auf Bildung - der hohe Rang der Schulpflicht herauszustellen.

Wenn nun in dem Fall, in dem ein entsprechender Gewissens- oder Gehorsamskonflikt nicht nachgewiesen werden kann, dennoch der Schulpflicht nicht nachgekommen wird, sind die Schule und gegebenenfalls die Schulaufsicht gehalten, mit den nach dem Hessischen Schulgesetz vorgesehenen Maßnahmen zu reagieren.

Die Rechtslage bezüglich der Überwachung und Durchsetzung der Schulpflicht ist im Hessischen Schulgesetz folgendermaßen geregelt:

Nach § 88 Abs. 3 Nr. 2 obliegt den Schulleiterinnen und Schulleitern die Sorge für die Erfüllung der Schulpflicht. § 68 benennt eine (nicht abschließende) Reihe von pädagogischen Mitteln, die zur Durchsetzung der Schulpflicht angewandt werden können. Wenn andere pädagogische Mittel erfolglos geblieben sind, kann die Schulleiterin oder der Schulleiter im Einvernehmen mit dem Staatlichen Schulamt eine Entscheidung über die zwangsweise Zuführung zur Schule treffen. Hinzu kommt die Möglichkeit des § 181, gegen den (strafmündigen) Schulpflichtigen und/oder dessen Eltern ein Bußgeldverfahren (nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten) einzuleiten.

Darüber hinaus ist es nach § 182 eine Straftat, einen anderen der Schulpflicht dauernd und hartnäckig zu entziehen, die mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten bestraft werden kann.

Vor einer solchen Intervention sollen jedoch präventive Maßnahmen stehen.

Bei religiös motivierten Konfliktfällen sollte daher immer versucht werden, gemeinsam mit den Eltern Lösungswege zu finden, die die Teilnahme der Kinder an den streitigen Unterrichtsveranstaltungen auch aus der Sicht der religiösen Grundüberzeugungen ermöglichen.

Als Hilfestellung für die Schulleiterinnen und Schulleiter hat das Hessische Kultusministerium im April 2006 Hinweise zur Rechtsprechung bei Konfliktfällen in der Schule aufgrund religiöser Grundüberzeugungen im Amtsblatt veröffentlicht (ABl. S. 312). Ergänzend sind die Schulen gehalten, sich in Zweifelsfällen mit dem zuständigen Staatlichen Schulamt in Verbindung zu setzen, um einzelfallbezogen das Verfahren abzustimmen und gegebenenfalls alternative Konfliktlösungen zu erarbeiten.