Maßnahmen und Selbsthilfe als sozialpolitische Interventionsform

Dabei stellt die Aktivierung von wenig organisierten und wenig artikulationsfähigen sozialen Gruppen eine besondere Aufgabe dar.

Konzepte zur Beteiligung und Aktivierung von Selbsthilfe müssen sich daran messen lassen, ob es gelingt, die Ressourcen und Stärken der Menschen zu aktivieren und in Handlungen zu überführen.

Es muss Kontakt zu den „funktionierenden Teilen der Lebenswelt" hergestellt werden, um

- vorhandene Selbsthilfepotentiale zu stärken und neu zu entwickeln,

- an Fähigkeiten und Ressourcen anzuknüpfen (Empowermentansatz),

- kleinschrittige Lernprozesse zu ermöglichen.

Von zentraler Bedeutung ist zweifellos die Motivation der Betroffenen sowie die Eröffnung von konkreten Handlungsperspektiven. Erst wenn eigenes Engagement sinnvoll erscheint, lässt sich Resignation vermeiden und Selbsthilfebereitschaft mobilisieren.

Selbsthilfe „Drei unterschiedliche Herangehensweisen werden in der Selbsthilfedebatte deutlich.

Selbsthilfe aus der Sicht des Individuums, die tägliche Wirksamkeit sozialpolitischer Maßnahmen und Selbsthilfe als sozialpolitische Interventionsform politischer Prozesse."

Die Balance zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung des einzelnen einerseits und der Gewährleistungsverpflichtung der Gesellschaft als Gemeinschaft ihrer Mitglieder andererseits muss immer wieder neu ausgewogen werden.

In Hannover301 und anderen Kommunen scheint dieser Prozeß sichtbar zu werden.

Empowerment. „Die Menschen zur Entdeckung ihrer eigenen Kräfte und Stärken ermutigen; ihre Fähigkeiten der Selbstbestimmung und der autonomen Lebensorganisation stärken; ihnen in der solidarischen Verknüpfung mit anderen neue Horizonte kollektiver Handlungsfähigkeit eröffnen."

Mit der Betonung von Selbstorganisation und autonomer Lebensführung formuliert Herriger mit dieser Definition eine radikale Absage an den bisherigen Defizitblickwinkel und gibt einen Vorschuß auf einen persönlichen Gewinn, den jeder aus seinen (vielleicht verschütteten) Stärken und Fähigkeiten ziehen kann.

Integration und Partizipation

Da sozial Schwache traditionell weniger zu einer selbstbewußten Interessenvertretung neigen, können solche auf „Individualisierung" zielende Strategien im Zusammenhang mit Armutsbekämpfung nur integrierend wirken. Aber auch der Staat fühlt sich zu einem Perspektivenwechsel genötigt. Er kann es sich weniger als je zuvor leisten, das Reservoir gesellschaftlicher Partizipations- und Solidaritätsbereitschaft brach liegen zu lassen. 304

Entscheidend ist aber auch die angemessene Gewichtung von professionellen sozialen Dienstleistungen und Selbsthilfeaktivitäten. Die Unterversorgung mit sozialen Dienstleistungen ist ein Aspekt von Armut. Fehlende Mitbestimmung und Kontrolle der Menschen über die Institutionen, die mit ihren Bediensteten tagtäglich in ihrem Gemeinwesen intervenieren, ist ebenfalls ein Aspekt von Armut. Bewohnerinnen und Bewohner in benachteiligten Gebieten sind häufig Objekt kommunaler Interventionen, ohne über Sinn und Ziel der Maßnahmen hinreichend informiert zu sein und Selbstgestaltungsmöglichkeiten zu besitzen. Hilfe zur Selbsthilfe muss daher auf die Eröffnung und Erweiterung der Handlungsspielräume der Bewohnerinnen und Bewohner ausgerichtet sein und ihre Selbsthilfe- und Konfliktfähigkeit stärken. Dies setzt gleichzeitig eine Neuorientierung professioneller sozialer Dienste voraus.

Sozialbilanz „Unter dem Stichwort Sozialbilanz nimmt Niedersachsen die Modernisierung der Sozialpolitik in Angriff. Dahinter steht die Überzeugung, dass selbst unter dem Diktat knapper Kassen die Verbesserung sozialer Leistungen möglich ist. Effizienz und Effektivität schließen Gerechtigkeit und Solidarität keineswegs aus.

Unter schwierigen Bedingungen geht es darum, Prioritäten zu setzen und mit den verfügbaren Mitteln mehr zu erreichen. Zielklarheit und Zielerreichung sozialer Leistungen unter den Vorzeichen des Kostendrucks stehen im Mittelpunkt. Eine Reihe von Diskursen, Konzepten und Projekten wurde bereits auf den Weg gebracht."

Mit der Sozialbilanz Niedersachsen wird deshalb keine „Bilanz" gezogen, die sich in der Betrachtung eines Augenblicks erschöpft. Statt dessen werden auf der Grundlage eines Bewertungsschemas sozialpolitischer Leistungen neue Wege und Strategien zur Überwindung von Spannungen in der Diskussion und Umsetzung von Sozialpolitik aufgezeigt.

Sozialhilfe

Eine Neuorientierung hat in der Sozialhilfe begonnen. Immer mehr Sozialhilfeträger versuchen nicht nur, das neue Steuerungsmodell der Kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGSt) auf die Sozialhilfe anzuwenden, sondern verfolgen auch einen aktivierenden Ansatz3. Mit dem Forschungsvorhaben des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG), Köln, zur Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit309 verließ der Bund ein wenig das Feld der Rechtsentwicklung und wandte sich den organisatorischen und psychosozialen Bedingungen des Arbeitsfeldes zu. Mit dem Modellversuch „Modellsozialämter" wird ein Vorschlag des Gutachtens aufgenommen; es bleibt zu hoffen, dass ein wesentliches Ziel der Verwaltungsreform, die Steuerungskompetenz der Sozialhilfesachbearbeiterin und des Sozialhilfesachbearbeiters zu entwickeln, nicht aus dem Blick gerät. In den Ländern sind vor allem die Stadtstaaten innovationsfreudig. Niedersachsen hat im Sommer 1997 mit einer umfassenden Organisations- und Personalentwicklung der Landessozialverwaltung begonnen, die sehr stark mitarbeiterorientiert ist - „Reform von unten".

Das Hauptinstrument der bekämpften Armut, die Sozialhilfe, ist überlastet. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, ihren Nachrang wiederherzustellen.

Häufig haben Träger der Sozialhilfe Leistungen zu erbringen, weil vorrangige Sicherungssysteme nicht alle Risiken abdecken. Eine Reform der Sozialhilfe muss daher verbunden werden mit einer Reform der vorrangigen Sicherungssysteme. Im wesentlichen ergeben sich folgende Thesen:

Das Arbeitsförderungsgesetz muss so verändert werden, dass alle arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger in die aktive Arbeitsmarktpolitik einbezogen werden (ASFG).

- Die Lohnersatzleistungen, vor allem die Arbeitslosenhilfe, müssen so strukturiert werden, dass keine ergänzenden Sozialhilfeansprüche mehr entstehen. Auf keinen Fall darf die Arbeitslosenhilfe zeitlich befristet werden.

- Das Kindergeld muss auf einen einheitlichen, einkommensunabhängigen Betrag von mindestens 250 DM angehoben werden. Es ist zu dynamisieren, perspektivisch sind weitere Erhöhungen vorzusehen. Ein steuerlicher Kinderfreibetrag, der Spitzenverdiener begünstigt, wird abgelehnt.

- Das Wohngeld ist für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger deutlich anzuheben. Ziel sollte es sein, das Wohngeld auf möglichst 100% der angemessenen Wohnkosten anzuheben, um zu vermeiden, dass hohe Mieten zu Sozialhilfebedürftigkeit führen.

- Für Behinderte ist ein vorrangiges Leistungsgesetz zu schaffen (SGB IX).

- Mit der gesetzlichen Pflegeversicherung ist ein vorrangiges Leistungsgesetz für Pflegebedürftige in Kraft getreten.

- Die gegenwärtige Diskussion zur Sozialhilfe belegt erneut, dass eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung nach wie vor erforderlich ist, um eine wirksame Entlastung der Sozialhilfe zu erreichen.

Sozialhilfebedürftigkeit wird einerseits durch armutsfeste vorrangige Sicherungssysteme und andererseits durch effektive Hilfen im Rahmen der Sozialhilfe verhindert und überwunden. Dazu dient insbesondere die Hilfe zur Arbeit.

Das bestehende rechtliche Instrumentarium der Hilfe zur Arbeit ist ausreichend, kann aber die verfehlte Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung und Leistungskürzungen im Arbeitsförderungsgesetz nicht auffangen. Es geht jetzt darum, die Angebote mit Qualifikationsanteilen zu verbinden und sie auf die unterschiedlichen Zielgruppen, etwa die Alleinerziehenden, präzise zuzuschneiden.

Insbesondere die mangelnde Teilhabe der langzeitarbeitslosen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger am Arbeitsmarkt bleibt ein Problem. Die von der Bundesregierung mit der Sozialhilfereform verfolgte Verlagerung der Verantwortung für diesen Personenkreis auf die Kommunen war nur eine falsche Weichenstellung auf dem „Verschiebebahnhof" öffentlicher Transferleistungen und hat zu Recht keine Mehrheit gefunden.

Dennoch bleibt die Integration kommunaler Beschäftigungspolitik in den Arbeitsmarkt an der Schnittstelle von Sozialhilfe und Arbeitsförderung ein Thema.

Weiterentwicklung der Berichterstattung.

Zur Darstellung der einzelnen Lebenslagen (Kapitel 3) stand im Berichtsjahr nicht jeweils aus gleicher Quelle und in gleichem Umfang Datenmaterial zur Verfügung, obwohl es nach Auffassung der bei der Berichterstellung beteiligten Landesarmutskonferenz aus.