Sturm der Sinti Siedlung in der Münchewiese in Hildesheim durch ein Sondereinsatzkommando der niedersächsischen Polizei

Am 07.12.1999 stürmte ein Sondereinsatzkommando der Polizei gegen 6.00 Uhr morgens in die Siedlung der Sinti in der Münchewiese in Hildesheim. Insgesamt waren mehr als 200 Beamte im Einsatz. Ziel des Einsatzes soll die Festnahme dreier Personen gewesen sein, die u. a. verdächtigt wurden, Einbrüche und Raubdelikte begangen zu haben.

Das Wohngebiet, in dem 36 Familien (rund 120 Menschen) leben, ist durch einen Lärmschutzwall von der Straße abgetrennt. Die schwerbewaffneten und maskierten Beamten drangen mit Hunden und Scheinwerfern über diesen Wall in die Siedlung ein. Sie umstellten die gesamte Siedlung, postierten sich auf Dächern der Wohnhäuser und dem Flachdach des Kindergartens und leuchteten mit Taschenlampen in die Fenster. Über Lautsprecher wurden die Bewohnerinnen und Bewohner aufgefordert, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Nach Zeugenaussagen sollen einige Bewohnerinnen und Bewohner mit den Worten bedroht worden sein: „Fenster zu - sonst erschießen wir dich!" Eltern durften ihre Kinder nicht zur Schule schicken, und einer alten Frau im Rollstuhl, einer Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz, wurde der Weg zur Dialyse erst nach langen Verhandlungen mit den Beamten gestattet.

Mehrere der betroffenen älteren Menschen, unter ihnen Holocaustüberlebende, erkärten später, dass sie sich an die Gestapo und die SS, die damals kamen, um sie abzuholen, erinnert fühlten. Sie waren noch Tage nach dem Einsatz traumatisiert.

Polizeisprecher Walter Wallot rechtfertigte den SEK-Einsatz mit den Worten: „Wir wussten um das Gefahrenpotenzial an der Münchewiese". Auch die „sippenhafte Zusammenrottung" wurde von der Polizei als Begründung für das martialische Polizeiaufgebot genannt. Oberstaatsanwalt Bernd Seemann kommentierte: „Das ist die Szene, da muss man mit einem hohen Gewaltpotenzial und entsprechender Bewaffnung rechnen" („Hildesheimer Allgemeine Zeitung" 08.12.1999). Doch von Gegenwehr konnte keine Rede sein. Nach Waffen suchte die Polizei vergeblich. Beschlagnahmte Gegenstände mussten den Bewohnerinnen und Bewohnern zurückgegeben werden, und zwei der drei Festgenommen wurden schon bald wieder auf freien Fuß gesetzt.

Seit Jahren versuchen die Sinti der Münchewiese, gegen Vorurteile zu arbeiten. „Immer noch beschimpfen sie uns als Bettler, Diebe und Arbeitsscheue", klagte ein Sinti unmittelbar nach dem Einsatz.

Durch den Einsatz und speziell durch die anschließenden öffentlichen Stellungnahmen und Berichterstattungen, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner der Münchewiese durch ethnische Beziehungen kollektiv zur Bedrohung und potentiellen Tätern stilisiert werden und wurden, hat sich die gesellschaftliche Situation der Sinti in Hildesheim verschlechtert. Sogar ein lokaler Pizza-Bringdienst weigerte sich noch Tage nach der Razzia, Pizzen in die Münchwiesen zu liefern.

Der Verband deutscher Sinti Niedersachsen e.V. verurteilte in seiner Presseerklärung vom 10.12.1999 den massiven Polizeieinsatz als „Überfall" und forderte „eine öffentliche Entschuldigung sowie moralische Wiedergutmachung".

Zu diesen Vorkommnissen und deren Folgen frage ich die Landesregierung:

1. Wer ordnete wann und auf welcher Rechtsgrundlage den SEK-Einsatz an, und um welche SEK-Einheit handelte es sich dabei?

2. Wie viele Polizisten waren insgesamt im Einsatz (unter Angabe der Einheiten)?

3. War das Innenministerium vor dem Polizeieinsatz über die Taktik informiert worden? Wenn ja, von wem?

4. Aufgrund welcher Gefahrenanalyse wurde von wem ein Gefahrenpotential an der Münchewiese festgestellt, und welches Gefahrenpotenzial wurde als gegeben angesehen? Welche Rolle spielte bei der Erstellung der sogenannten Gefahrenanalyse die Tatsache, dass in der Wohnsiedlung Münchewiese ausschließlich Sinti leben?

5. Was wurde dabei unter „sippenhafter Zusammenrottung" („Hildesheimer Allgemeine Zeitung" 22.01.2000) verstanden? Wie erklärt die Landesregierung diesbezüglich die Nähe dieser Begrifflichkeit und des dahinter steckenden Gedankengutes zu ideologischen Versatzsstücken der NS-Ideologie ein?

6. Gab es nach Erkenntnissen der Landeregierung keine anderen Möglichkeiten zur Festnahme der gesuchten Personen? Wenn nein, warum nicht?

7. Welche Maßnahmen ergriff die Polizei in welcher Reihenfolge aufgrund des ausgemachten Gefahrenpotenzials, und welche Waffen bzw. welche Ausrüstung führten die Beamten mit sich?

8. Welche Anweisungen erhielten die beteiligten Beamten des Sondereinsatzkommandos?

9. Für wie viele Wohnungen lagen Haus- und/oder Durchsuchungsbefehle vor? Wie viele Hausdurchsuchungen wurden durchgeführt? Fanden die Durchsuchungen im Beisein eines Richters, eines Staatsanwalts oder einer anderen Person statt? Warum wurde in mindestens drei Häusern die Wohnungstür eingeschlagen?

10. Welche Anweisungen wurden den Bewohnerinnen und Bewohnern der Münchewiese per Lautsprecher erteilt?

11. Warum leuchteten die Beamten in die Fenster der Häuser?

12. Warum wurde einigen Bewohnerinnen und Bewohnern gedroht „Fenster zu - sonst erschießen wir dich!"? Hält die Landesregierung diese gewaltsame Androhung von Schusswaffengebrauch für verhältnis- und rechtmäßig?

13. Warum durften die Kinder nicht in die Schule, und warum wurde Bewohnerinnen und Bewohnern, wie z. B. einer Auschwitzüberlebenden, die zur Dialyse musste, der Gang zum Arzt erst nach langen Verhandlungen gestattet? Warum wurden die Bewohnerinnen und Bewohner der Münchewiese nicht über die Anwesenheit eines Arztes vor Ort in Kenntnis gesetzt?

14. Teilt die Landesregierung die Einschätzung des Verbandes deutscher Sinti e.V., dass sich die gesellschaftliche Akzeptanz der Sinti in Hildesheim durch den Polizeieinsatz und die anschließende Berichterstattung verschlechtert hat?

15. Von wem ist die Redaktion der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung" vor dem Einsatz informiert worden? Welche Richtlinien des Innenministeriums und der Polizei galten vor, während und nach dem Polizeieinsatz für die Information der Öffentlichkeit?

16. Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um einer Berichterstattung, die rassistische Haltungen befördert, entgegenzutreten?

17. Erwägt sie, der Bitte des niedersächsischen Verbandes deutscher Sinti e.V. nach einer öffentlichen Entschuldigung und nach moralischer Wiedergutmachung nachzukommen? Wenn ja, in welcher Form, wenn nein, warum nicht?

18. Wie beurteilt sie den Polizeieinsatz insgesamt?

19. Wie beurteilt sie die Äußerungen des Polizeisprechers Wallot zur Rechtfertigung des massiven Polizeieinsatzes, die in den Hildesheimer Medien (u. a. „Hildesheimer Allgemeine Zeitung" vom 08.12.1999) veröffentlicht wurde?

20. Hält sie den Polizeieinsatz für verhältnismäßig?

21. Werden Sinti deutscher Staatsangehörigkeit in Niedersachsen statistisch erfasst?

Wenn ja, von wem, zu welchem Zweck, und welche Daten werden dabei erhoben?

Der in der Vorbemerkung der Kleinen Anfrage dargestellte Eindruck des Einsatzverlaufes entspricht nicht den Tatsachen. Zunächst werden die Hintergründe des Polizeieinsatzes sowie der tatsächliche Geschehensablauf im Zusammenhang auf der Basis des Berichtes der Bezirksregierung Hannover dargestellt:

Aus einem bei der Polizeiinspektion Hildesheim geführten umfangreichen Ermittlungsverfahren, das teilweise schon abgeschlossen ist, resultierten aufgrund der erfolgten Aussagen konkrete Verdachtsmomente gegen weitere fünf Beschuldigte, die in wechselnder Tatbeteiligung Raub- und Diebstahlsdelikte in erheblichem Umfang begangen haben sollten. Der „Kopf" dieser Bande soll sich von einem Mittäter unter Androhung des Todes Verschwiegenheit zugesichert haben lassen. Die Täter wurden im Vorfeld des Einsatzes glaubhaft als äußerst brutal und mit Schusswaffen ausgestattet dargestellt. Diese Einschätzung ist im Rahmen der Gefährdungsanalyse durch Auswertung der verfügbaren Informationen bestätigt worden.

Die Staatsanwaltschaft Hildesheim leitete gegen die fünf Beschuldigten Verfahren wegen schwerer Raubstraftaten und bandenmäßiger Einbruchsdiebstähle ein. Der Gesamtkomplex umfasst zur Zeit ca. 70 Einzeldelikte. Gegen die Personen wurden vom Amtsgericht Hildesheim Haftbefehle ausgestellt und Durchsuchungsbeschlüsse erlassen.

Drei der Beschuldigten wohnen in der Münchewiese, einem geschlossenen Wohngebiet in Hildesheim.

Neben den von den Beschuldigten ausgehenden Gefahren, war nach Erfahrungen Hildesheimer Polizeibeamter aus der Vergangenheit mit massiven Unterstützungshandlungen der weiteren Bewohner der Münchewiese zu rechnen. Letztmalig im Juni 1998 konnte eine Durchsuchungsmaßnahme nur mit Mühe unter erheblichen Schwierigkeiten erst durch den Einsatz von 40 Polizeivollzugsbeamten durchgesetzt werden.

Bei dieser Lage sah das taktische Konzept richtigerweise ein schlagartiges Eindringen in die Wohnungen und die gleichzeitige Festnahme der Beschuldigten vor. Wegen der hohen Gefahrenlage wurde für die Festnahme der Täter das Spezialeinsatzkommando Niedersachsen (SEK) eingebunden.

Die Einsatzkräfte gelangten über die Zufahrtsstraße in das Wohngebiet. Hier wurden unter Anwendung unmittelbaren Zwanges gegen Sachen die Wohnungstüren geöffnet und die Beschuldigten festgenommen.