Verkehrsrahmenplanung „Szenario Zukunft" für die Region Berlin-Brandenburg

Das Abgeordnetenhaus wolle beschließen:

1. Das Abgeordnetenhaus von Berlin beschließt Leitlinien für eine ökologische und sozial verträgliche Verkehrsentwicklung in der Region Berlin-Brandenburg ­ „Szenario Zukunft" und fordert den Senat auf, weitere Planungen und Vorhaben bie der verkehrlichen Gestaltung Berlins und der Region Berlin-Brandenburg an diesen Leitlinien auszurichten.

Leitlinien für eine ökologische und sozial gerechte Verkehrsentwicklung in der Region Berlin-Brandenburg ­ Szenario Zukunft

a) Oberstes Ziel der Verkehrsplanung in der Region Berlin-Brandenburg ist die Förderung einer Stadt der kurzen Wege, der integrierten Siedlungs- und Regionalentwicklung, der Verkehrsvermeidung und der weitgehenden Verlagerung des verbleibenden motorisierten Individualverkehrs auf den öffentlichen Verkehr bzw. auf andere umweltverträgliche Verkehrsträger. Grundsätzlich geht es darum, die verkehrlichen Belange als eine Funktion zur Sicherung und Förderung der sozialen Kommunikation und nicht als Selbstzweck oder Sachzwang ­ zu betrachten und zu gestalten sowie die stadträumlichen Zerstörungen, die im Zuge des autogerechten Stadtumbaus angerichtet worden sind, rückgängig zu machen. Niemand soll in der Region Berlin-Brandenburg auf die Nutzung eines individuellen Pkw zur Befriedigung regelmäßiger Mobilitätsbedürfnisse angewiesen sein. Demokratische Mitsprache- und Entscheidungsrechte der Bürgerinnen und Bürger, von Verbänden und Initiativen sind auf allen Ebenen der Stadt-, Regional- und Landesplanung sowie der Raumordnung und Verkehrswegeplanung auf Bundesebene gesetzlich festzuschreiben und auszubauen.

b) Ziel der gemeinsamen Landesplanung in der Region Berlin-Brandenburg ist zum einen eine polyzentrische Stadtentwicklung Berlins, die es allen Menschen gestattet, ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse in einem Umkreis von maximal 5 km zu befriedigen. Gegenüber Brandenburg soll darüber hinaus darauf gedrungen werden, dass die brandenburgischen Städte, entsprechend dem Leitbild der dezentralen Konzentration differenziert, als multifunktionale Regionalzentren entwickelt und mit öffentlichen Verkehrsmitteln untereinander sowie mit Berlin vernetzt werden. Im ländlichen Raum sollte Brandenburg gewährleisten, dass Funktionen eines Grundzentrums mit öffentlichen Verkehrsmitteln in höchstens 30 Minuten erreichbar sind. Öffentliche Räume, insbesondere Straßenräume, sind so zu gestalten, dass sie als Lebensräume nutzbar sind und dass sie insbesondere den Interessen von Frauen, Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen entsprechen.

c) Bei jeder stadtplanerischen und verkehrlichen Maßnahme sind die Belange von Fußgängerinnen und Fußgängern, Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrern sowie Nutzerinnen und Nutzern des ÖPNV mit Priorität zu behandeln. Dazu gehört auch die Schaffung eines ausgebauten Fahrradwegenetzes sowie die dringende Verbesserung der Umsteigemöglichkeiten für Fußgängerinnen und Fußgänger von einem Verkehrsträger auf den anderen.

d) In der Stadtregion Berlin wird eine Verteilung der Verkehrsarten (des „modal split") von 80:20 zugunsten des Umweltverbundes angestrebt. Dies erfordert, dass die Verteilung der investiven Mittel neu geordnet wird. Vorrang haben Investitionen für die S-Bahn und die Straßenbahn. Im S-Bahn-Bereich ist die Wiederherstellung des Stadtringes kurzfristig zu realisieren. Investionen im Straßenbahnbereich dienen vorrangig der Ausweitung des Netzes auf den Westteil Berlins sowie der Sanierung und Optimierung des östlichen Netzes. Von kostspieligen U-Bahn-Erweiterungen und -neubauten ist Abstand zu nehmen.

e) Es wird ein freiwilliger Verbund aller ÖPNV-Träger in der Region Berlin-Brandenburg angestrebt. Oberstes Ziel dieser Zusammenarbeit ist die Realisierung eines übersichtlichen, abgestimmten, bedarfsgerechten und preiswerten Angebots an öffentlichen Verkehrsleistungen. Die politische Verantwortung für die Gestaltung des ÖPNV verbleibt bei den Aufgabenträgern, also bei den Ländern Berlin und Brandenburg bzw. den Kreisen und kreisfreien Städten.

f) Der regionale Eisenbahnverkehr in der Region Berlin-Brandenburg muss darauf ausgerichtet sein, dass er von möglichst vielen Menschen bequem und schnell erreichbar sowie zu günstigen Tarifen nutzbar ist. Die schnelle Verbindung Regionaler Entwicklungszentren in Brandenburg mit Berlin darf nicht zu Lasten der Flächenbedienung in Brandenburg gehen. Berlin soll gegenüber dem Land Brandenburg für den Erhalt von regionalen Netzen, von Bahnhöfen und Strecken im ländlichen Raum eintreten. Gegenüber dem Bund soll Berlin sich dafür einsetzen, den Geschäftsbereich Netz aus der DB AG herauszulösen und ein Streckenstillegungsmoratorium zu veranlassen.

g) Die Baumaßnahmen für den Fernbahnverkehr im Tiergarten und im Bereich des geplanten Zentralbahnhofs sind zu stoppen. Die bestandsverbessernden Maßnahmen sind hingegen fortzuführen, weil ein zukunftsorientiertes Fernbahnsystem sich auf die Optimierung der vorhandenen Struktur der Bahnanlagen konzentrieren muß.

h) Das Land Berlin lehnt aus ökologischen, verkehrlichen und finanziellen Gründen das Projekt einer Magnetbahnverbindung zwischen Hamburg und Berlin (Transrapid) ab und fordert die Bundesregierung auf, die Planungen einzustellen.

i) Straßenbaumaßnahmen beschränken sich auf Unterhaltung und Sanierung, Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und der Verbesserung der Stadtgestalt sowie auf kleinräumliche innerstädtische bzw. innergemeindliche Netzergänzungen (Wohnstraßen). Planungs- und Baumaßnahmen für Stadtautobahnen und übergeordnete Stadtschnellstraßen sowie mehrspurige Erschließungsstraßen werden nicht weitergeführt.

j) Die Berliner Wasserstraßen sind zu schützen und zu erhalten. Die Uferzonen an Flüssen und Kanälen sind entsprechend ihrer Bedeutung als wertvolle Stadt- und Landschaftsräume zu gestalten. Die Nutzung der Gewässer für den Wirtschaftsverkehr ist zu fördern, jedoch unter der Maßgabe, dass die Schiffe an die vorhandenen Wasserstraßen und -anlagen angepaßt werden ­ und nicht umgekehrt. Demzufolge ist das „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 17", einschließlich des damit in Verbindung stehenden geplanten Neubaus eines Hafens in Berlin-Treptow, abzulehnen.

k) Vom Bau eines Großflughafens in der Region Berlin-Brandenburg ist abzusehen. Da eine Reduzierung des Flugverkehrs vor allem aus ökologischen Gründen dringend geboten ist, wird von einer kurzfristigen Verringerung des Flugaufkommens ­ durch Verlagerung von Kurzstreckenflügen unter 600 km auf die Schiene und eine wirksame Besteuerung von Flugbenzin ­ auch in der Region Berlin-Brandenburg ausgegangen. Dies ermöglicht die sofortige Schließung des Flughafens Tempelhof und mittelfristig die Schließung des Flughafens Tegel.

Der Flughafen Schönefeld wird nicht ausgebaut. Die Belastungen für die Anwohnerinnen und Anwohner von Flughäfen müssen sofort umfassend reduziert sowie die Sicherheitsmaßnahmen zu deren Schutz erhöht werden.

Insbesondere in der Umgebung des Flughafens Schönefeld müssen Maßnahmen zur Verminderung der Lärmbelästigungen erfolgen, ein konsequentes Nachtflugverbot durchgesetzt sowie einer weiteren Zersiedelung durch planungsrechtliche Regelungen entgegengewirkt werden.

l) Der Güterverkehr wird weitgehend mit umweltgerechten Verkehrsträgern (Integration vorhandener Schienen- und Wasserwege) realisiert. Das Güterverkehrsaufkommen ist durch die Förderung regionaler Wirtschaftskreisläufe zu minimieren. Innerhalb der Städte sind in Verbindung mit den Schienennetzen kleinteilige, dezentrale Verteilstützpunkte vorzusehen, von denen aus die Feinverteilung erfolgt.

2. Der Senat legt dem Abgeordnetenhaus schnellstmöglich, spätestens jedoch bis zum 1. September 1996, ein abgestimmtes Rahmenkonzept Verkehr als qualifizierte Vorstufe für einen Stadtentwicklungsplan Verkehr, einschließlich eines Finanzierungskonzeptes und eines zeitlichen Realisierungsplanes sowie eines Güterverkehrskonzeptes, zur Beschlußfassung vor.

3. Der Senat wird sich bei der Bundesregierung zur Durchsetzung der „Leitlinien für eine ökologische und sozial gerechte Verkehrsentwicklung in der Region Berlin-Brandenburg" bei denjenigen Projekten einsetzen, die in gemeinsamer Verantwortung der Bundesregierung und Berlins durchgeführt werden.

4. Die bereits in der Planung oder im Bau befindlichen Großprojekte sind unverzüglich auf ihre Vereinbarkeit mit den Leitlinien zu prüfen.

5. Für die Tiergartentunnelanlagen wird ein Baustopp verfügt und eine Abwägung von Alternativen unter stadtstrukturellen, verkehrlichen, ökologischen und finanziellen Aspekten durchgeführt. Dabei werden solche Regelungen angestrebt, die den Einsatz der freiwerdenden Mittel für den Ausbau des ÖPNV und damit für die Konsolidierung des Berliner Haushalts erlauben.

Begründung:

Die Verkehrspolitik ist für die zukunftsfähige Entwicklung der Region Berlin-Brandenburg von besonderer Bedeutung. Die Verkehrsentwicklung ist Teil der Hauptstadtgestaltung Berlins und der ökologischen Modernisierung der gesamten Region. Es ist eine Herausforderung, den Lebensstandort Berlin vorbildlich zu gestalten und weltweit ein Zeichen des Bemühens zu setzen, die Lebensgrundlagen der Menschen und das Gleichgewicht zwischen Menschen und Natur zu erhalten und auf dieser Grundlage in der internationalen politisichen Arena eine Spitzenposition einzunehmen, die zur Nachahmung auffordert.

Die vorliegenden Verkehrsleitlinien sind durch ihre Zielsetzung einer ökologischen, bedarfsgerechten und nicht autozentrierten Mobilitätsentwicklung zum einen an den Bedürfnissen derjenigen Menschen orientiert, die durch gegenwärtige Verkehrspolitik Nachteile erleiden (nichtmotorisierte Personen bzw. Haushalte sowie Frauen, Jugendliche, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen). Zum anderen stellen sie ein generelles Angebot dar, notwendige Mobilität zu sichern, die Lebensfähigkeit der Stadt und der Region zu gewährleisten und zu verbessern sowie einen Vekehrskollaps zu verhindern.

Ökologisch integrierte Verkehrspolitik beginnt mit Verkehrsvermeidung, die wiederum vor allem durch die Schaffung relativ nahräumlicher städtischer und regionaler Vernetzung von Produktion und Konsumtion ermöglicht wird. Das heißt, Verkehrspolitik muss in die Struktur- und Stadtentwicklungspolitik integriert werden, indem die Beziehungen zwischen Wohnen, Arbeiten, Versorgen und Freizeit ausgeprägt nahräumlich und/oder durch öffentliche Verkehrsangebote gestaltet werden. So wird z. B. mindestens die Hälfte des Güterverkehrs durch Transporte verursacht, die volkswirtschaftlich nicht erwünscht sind, da diese aus einer regionale Wirtschaften zerstörenden Arbeitsteilung resultieren (z. B. Äpfel aus Niederlande oder Übersee bei gleichzeitigem Niedergang des Obstanbaus im Berliner Umland). Nach statistischen Angaben stecken heute 50 Prozent mehr Transportkilometer in ein und derselben Ware von ein und derselben Qualität als vor 25 Jahren. Ungezügelte Suburbanisierung engt die Gestaltungsspielräume für ÖPNV-Erschließungskonzepte ein und mindert so vor allem die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs. Die Verkehrsstruktur des öffentlichen Verkehrs, insbesondere die Schienenverkehrswege und deren vorrangige Ausgestaltung, ermöglicht hingegen die Entwicklung räumlich konzentrierter Schwerpunktstandorte und sichert deren Vernetzung.

Das „Verkehrsszenario Zukunft" verfolgt nicht zuletzt die Zielsetzungen,

- den steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürgern Kosten zu ersparen, da es bedeutend preiswerter als ein autogerechter Ausbau der Region Berlin-Brandenburg ist;

- die Erwerbslosigkeit in der Region Berlin-Brandenburg zu reduzieren, da auf diese Weise ein Arbeitsplatzpotential erschlossen werden kann, welches die Reduktion von Arbeitsplätzen im Bereich Kfz-naher Fertigungen und Dienstleistungen erheblich übersteigt.