Baunachbarrecht

Die Errichtung eines Bauvorhabens schafft nicht nur Rechtsbeziehungen zwischen dem Bauherrn und der Genehmigungsbehörde, sondern zugleich auch Rechtsbeziehungen zu der Nachbarschaft, die den Auswirkungen des Bauvorhabens in Form von Immissionen, Störungen der Wohnruhe, der Aussicht oder auch nur des freien Wohngefühls ausgesetzt ist. Die Baugenehmigung ist deshalb der typische Fall des Verwaltungsakts mit Doppelwirkung; die Begünstigung des Bauherrn hat zugleich die Belastung der Nachbarn zur Folge. Obwohl diese rechtliche Besonderheit des öffentlichen Baurechts bei Inkrafttreten des BauGB durchaus bekannt war, hat der Gesetzgeber es unterlassen, in §§29ff. die Rechtsstellung des Nachbarn im Verhältnis zum Bauherrn und zur Baugenehmigungsbehörde in hinreichendem Umfang zu regeln. In den Gesetzesmaterialien zum BauGB heißt es dazu, dass dieser Problembereich keiner Lösung zugeführt werden könne. Es mag sein, dass eine abschließende Lösung schwierig ist; zumindest hätte man genauer festlegen können, ob und in welchem Umfang die Vorschriften der §§30f£ auch dem Schutz der Nachbarschaft dienen. Lediglich in Ø31 Abs.2, 34 Abs. 3 wird der Nachbar erwähnt, wenn auch in ziemlich vager Form; die nachbarlichen Interessen sind zu würdigen. Der Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht beruht deshalb auf einer völlig unzureichenden normativen Grundlage und stellt jedenfalls in der Praxis zu einem erheblichen Teil Richterrecht dar.

Historische Entwicklung - Die historische Entwicklung des öffentlichen Baunachbarrechts begann erst vor ca. 100 Jahren, wobei in den ersten Jahrzehnten das Problem der Baunachbarklage zwar diskutiert, aber die Zulässigkeit einer solchen Klage beinah durchweg verneint worden ist. In dem grundlegenden Urteil des Preuß. OVG vom 30.4. 1877 hat dieses Gericht entschieden, dass die baupolizeilichen Vorschriften ausschließlich dem Gemeinwohl dienen sollen. Der Nachbar habe zwar unter Umständen ein dringendes Interesse an der Einhaltung baurechtlicher Vorschriften, daraus erwachse ihm aber kein subjektives Recht. Er könne daher lediglich im Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Baugenehmigung vorgehen, nicht aber im Verwaltungsstreitverfahren. Eine Klage könne er nur beim Zivilgericht aufgrund eines privatrechtlichen Abwehranspruches erheben. Diese ständige Rechtsprechung des Preuß. OVG haben sich die meisten anderen Oberverwaltungsgerichte angeschlossen; dies gilt insbesondere für Baden, Württemberg und Thüringen. Demgegenüber hat vor allem das Sächsische OVG dem Nachbarn einen vor den Verwaltungsgerichten einzuklagenden Abwehranspruch gegen eine von der ortsgesetzlichen Regelung abweichende Bebauung eingeräumt. Das Ortsgesetz verleihe dem Grundstück eine bestimmte rechtliche Qualifikation, die ihm nicht durch die Genehmigung eines davon abweichenden Bauvorhabens entzogen werden dürfe. Außer in Sachsen war vor 1945 nur noch in Bremen und Braunschweig eine Nachbarklage vor den Verwaltungsgerichten möglich. Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes setzte sich in der Rechtsprechung im Anschluss an Bachof allmählich die Erkenntnis durch, dass gemäß Art. 19 Abs.4 GG auch Rechtsschutz gegen eine Baugenehmigung gewährt werden müsse, weil es sich dabei um eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt handelt. Soweit ersichtlich, hat als erstes Gericht das VG Stuttgart eine Nachbarklage für zulässig erachtet; es folgte als erstes Oberverwaltungsgericht das OVG Berlin, wenig später der Bay. VGH. Bis 1960 hatten alle OVG mit Ausnahme des OVG Hamburg, das nur hinsichtlich des Grenzabstands und des Zaunrechts einen Nachbarschutz bejahte; grundsätzlich anerkannt, dass der Nachbar sich gegen eine seine Rechte verletzende Baugenehmigung mit der verwaltungsgerichtlichen Klage zur Wehr setzen kann. Das BVerwG hat zunächst mit Urteil vom 18.8. 1960 dem Nachbarn einen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung beim Einschreiten gegen ein baurechtswidriges, seine Rechte verletzendes Bauwerk zuerkannt. Später hat es dann mit Urteil vom 15.10. 1965 dem Nachbarn die Befugnis eingeräumt, Anfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung zu erheben, die eine Verletzung seiner Rechte zur Folge haben wird. Seitdem ist es jedenfalls in der Rechtsprechung unbestritten, dass der Nachbar sich mit der Anfechtungsklage gegen eine ihn belastende Baugenehmigung zur Wehr setzen kann. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wurden demgegenüber teilweise erhebliche Einwendungen gegen die öffentlich-rechtliche Baunachbarklage erhoben. In der Folgezeit hat sich jedoch auch in der Literatur allgemein die Ansicht durchgesetzt, dass die öffentlich-rechtliche Nachbarklage grundsätzlich zulässig ist.