Jugendamt

„die Grenzüberschreitung erfolgte tatsächlich in einer Weise, die die Verantwortlichen der DDR als politische Provokation ansahen. Mit dem Verfahren sollte die Tat des Betroffenen besonders kriminalisiert werden." (Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft vom 16. August 2010 zum Geschäftszeichen 551 Rh 915 / 09) Daraufhin wurde Herr G. umgehend rehabilitiert.

Der Anstieg des Antragsaufkommens bei der strafrechtlichen Rehabilitierung hat auch in der Diskussion um menschenunwürdige Behandlungen von Kindern und Jugendlichen in Jugendwerkhöfen und Heimen der DDR-Jugendhilfe seine Ursache. Zu diesem Themenkomplex sind 2010 beim Landesbeauftragten verstärkt Nachfragen eingegangen. Leider bietet sich bezüglich der Möglichkeiten von strafrechtlicher Rehabilitierung für ehemalige DDR-Heimkinder und Insassen von Jugendwerkhöfen ein uneinheitliches Bild. Zwar werden Einweisungen in den berüchtigten Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau als grundsätzlich rehabilitierungswürdig erachtet, Betroffene von Einweisungen in andere Einrichtungen der DDR-Jugendhilfe werden jedoch häufig nicht rehabilitiert, denn die Gründe, die zu den Einweisungen geführt haben, sind heute schwer zu eruieren. Die Aktenlagen sind unübersichtlich; viele Unterlagen sind offensichtlich zwischenzeitlich vernichtet worden. Das erschwert es den Betroffenen, ihre Anträge mit Belegen zu untermauern.

Wie schwierig es ist, die Schicksale der in Einrichtungen der DDR-Jugendhilfe eingewiesenen Kinder und Jugendlichen mit Hilfe des StrRehaG zu fassen, soll nachfolgend anhand von vier Beispielen illustriert werden.

Beispiel 1: Frau S., Jahrgang 1944, wuchs in einem Berliner Außenbezirk auf. Ihre Eltern gehörten der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Als der SED-Staat im Jahr 1953 seinen kirchenpolitischen Kurs verschärfte, gerieten ­ wie zu Zeiten der NSDiktatur ­ auch Angehörige der Zeugen Jehovas unter besonderen Argwohn. Eine Verhaftungswelle begann. Auch die Eltern von Frau S. wurden im Spätsommer 1953 inhaftiert und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Frau S. kam gemeinsam mit ihrer Schwester in ein Kinderheim, wo sie nach eigenen Angaben keinen besonderen Schikanen ausgesetzt war. Allerdings konnten beide Kinder erst Monate nach der Haftentlassung der Mutter ins Elternhaus zurückkehren. Sie mussten deshalb über vier Jahre im Kinderheim verbringen. Frau S. stellte im April 2010 einen Antrag auf strafrechtliche Rehabilitierung. Das zuständige Landgericht beschloss, Frau S. zu rehabilitieren, obwohl ein schriftlicher Einweisungsbeschluss nicht mehr ausfindig gemacht werden konnte. Die nachgewiesene politische Verfolgung der Eltern, die schon vor Jahren strafrechtlich rehabilitiert wurden, war offensichtlich Grund genug, auch die Kinder für die Heimeinweisung zu rehabilitieren.

Ganz anders entschied vor ähnlichem Hintergrund die Rehabilitierungskammer des Landgerichts und im Beschwerdeverfahren auch das Kammergericht in folgendem Fall.

Beispiel 2: Herr A., Jahrgang 1965, war im Jahr 1977 gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester auf dem Berliner Alexanderplatz von der Polizei abgeführt worden. Die Familie hatte dort für ihre Ausreise in die Bundesrepublik demonstriert. Die Eltern wurden in der Folge zu Haftstrafen verurteilt, die Kinder kamen in ein Kinderheim, obwohl eine Tante der Geschwister angeboten hatte, beide Kinder zu sich zu nehmen. Obwohl die Eltern im Sommer 1978 in die Bundesrepublik freigekauft und als politische Häftlinge der DDR anerkannt worden waren, mussten die Kinder weiterhin im Heim bleiben. Erst am 22. Dezember 1978 durften sie ihren Eltern folgen.

Der Rehabilitierungsantrag von Herrn A. wurde sowohl vom Landgericht als auch im Beschwerdeverfahren vom Kammergericht als unbegründet zurückgewiesen. Herr A. habe aufgrund der Inhaftierung der Erziehungsberechtigten „fürsorgerechtlichen Maßnahmen" unterlegen und nicht ohne Betreuung bleiben können: „Die Unterbringung des minderjährigen Betroffenen in einem Kinderheim nach der Inhaftierung der Eltern rechtfertigte sich mithin allein aus Gründen der Fürsorge", argumentierte das Berliner Kammergericht (Beschluss des Kammergerichts vom 3. September 2010 zum Az. 2 Ws 351/09 REHA, S. 6). Auch für die Zeit, die der Betroffene im DDRHeim bleiben musste, während seine Eltern schon Monate in der Bundesrepublik lebten, mochte das Kammergericht keine Rehabilitierung beschließen. Als Begründung führte es an, der Betroffene ­ 1978 war er knapp 14 Jahre alt ­ habe zunächst selbst keinen Ausreiseantrag gestellt. Dies sei erst im November 1978 geschehen, woraufhin im Dezember des Jahres schließlich die Ausreise erfolgt sei. Dass einem Kind in einem DDR-Heim gar keine Möglichkeit gegeben war, einen Ausreiseantrag zu stellen, scheint dem Gericht offenbar nicht deutlich gewesen zu sein. Unbeachtet blieb außerdem, welche Relevanz ein Antrag eines Minderjährigen überhaupt gehabt hätte.

Beispiel 3: Frau B., Jahrgang 1971, lebte mit ihrer Mutter in der Ost-Berliner Innenstadt. Die Eltern hatten sich scheiden lassen. Der Vater war 1984 nach West-Berlin ausgereist.

Zwischen ihm und der Tochter bestand enger brieflicher Kontakt. Die Tochter vermisste ihren Vater. Sie schloss sich der Punkszene an und wurde im Frühjahr 1987 eine der jüngsten Protagonistinnen in einem DEFA-Dokumentarfilm über die Lebenssituation von Frauen in der DDR. In diesem Film schildert sie ihre Sehnsucht nach Freiheit und den Wunsch, den Vater in West-Berlin besuchen zu können. Wenige Wochen später wurde Frau B. in einen Jugendwerkhof eingewiesen. Ihre Entlassung erfolgte ­ eine zusätzliche Schikane ­ wenige Tage nach Weihnachten, am 27. Dezember 1988. Der Film wiederum war in der DDR nur ein einziges Mal auf einem Filmfestival zu sehen. Anschließend wurde er verboten.

Frau B. hat 2010 mit Unterstützung des Landesbeauftragten ihre strafrechtliche Rehabilitierung beantragt. Sie beantragte zudem beim vormals zuständigen Jugendamt Akteneinsicht. Von dort wurde ihr zunächst mitgeteilt, dass die Akte nicht mehr existiere. Eine Kopie des Karteikartenvermerks über die 1999 erfolgte Vernichtung der Jugendakte wurde ihr übersandt. Wenig später teilte das Amt allerdings mit, dass die Jugendakte aufgetaucht und der Rehabilitierungskammer des Landgerichts übersandt worden sei. Das Landgericht wiederum stellt in Aussicht, den Rehabilitierungsantrag von Frau B. als unbegründet abzulehnen.

Beispiel 4: Frau K., ebenfalls Jahrgang 1971, wuchs unter schwierigen Familienverhältnissen auf. Als Kind wurde sie regelmäßig vom Vater und dem größeren Bruder misshandelt. 15-jährig fasste sie Mut und wandte sich erstmals mit ihren Problemen an Mitarbeiter des Jugendamtes. Dort vermittelte man ihr Kontakt zu einer Psychologin, die zu einer Therapie riet. Das Jugendamt befürwortete das nicht. Es stellte bei Frau K. eine „Milieuschädigung" fest, der man nur erzieherisch begegnen könne. Frau K. wurde in einen Jugendwerkhof eingewiesen, von wo aus sie mehrfach zu flüchten versuchte. Aus Verzweiflung und weil ihr angedroht wurde, sie in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau zu bringen, unternahm sie einen Selbstmordversuch.