Menschen mit Behinderung wollen ihr Leben zunehmend selbst gestalten
1. Ausgangslage Menschen mit Behinderung wollen ihr Leben zunehmend selbst gestalten. Ihre berechtigte Forderung nach einem weitgehend selbstbestimmten Leben hat der Gesetzgeber aufgegriffen, und im Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" (SGB IX) das Wunsch- und Wahlrecht erweitert. Nach § 9 SGB IX können Sachleistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft als Geldleistungen erbracht werden, wenn die Leistungen voraussichtlich gleich wirksam und wirtschaftlich gleichwertig ausgeführt werden können. § 17 Absatz 3 SGB IX eröffnet zudem die Möglichkeit, dies in Form eines persönlichen Budgets zu erproben. Der Senat will diese Möglichkeiten nutzen, und in einem Modellversuch durch die Pauschalierung von Leistungen der Eingliederungshilfe und die Erprobung eines persönlichen Budgets den behinderten Menschen mehr Einfluss auf die Verwendung der ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel geben.
Die beabsichtigte Pauschalierung zur „gastweisen Unterbringung" und zur stundenweisen Entlastung von Familien mit behinderten Kindern verbindet dabei die allgemeine Zielstellung des SGB IX mit einem teilweise neuen und zusätzlichen Angebot zur gezielten Familienentlastung in Hamburg.
2. Rechtliche Voraussetzungen § 101 a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Experimentierklausel ermächtigt den Senat zum Erlass einer Rechtsverordnung als rechtliche Grundlage für Modellvorhaben, in denen die Pauschalierung weiterer Sozialhilfeleistungen erprobt werden kann. Die vom Senat beschlossene Verordnung regelt die Voraussetzungen für die Umsetzung solcher Modellvorhaben im Rahmen der Eingliederungshilfe in Hamburg. Es handelt sich bisher um die einzige Verordnung nach § 101 a BSHG in Deutschland, mit der die Erprobung von Pauschalierungen im Bereich der Hilfen in besonderen Lebenslagen ermöglicht wird. Insbesondere soll damit für den Sozialhilfeträger Hamburg die rechtliche Grundlage für die Erprobung persönlicher Budgets für behinderte Menschen geschaffen werden.
3. Ziele/Konzept:
Die Pauschalierung bestimmter Leistungen der Eingliederungshilfe und das persönliche Budget dienen der Familienentlastung und der Selbstbestimmung der behinderten Menschen in denjenigen Hilfebereichen, wo diese bislang infolge institutionalisierter und standardisierter Sachleistungen eingeschränkt war.
Mit dem persönlichen Budget soll das Wunsch- und Wahlrecht der behinderten Menschen durch die Umstellung auf eine bedarfsgerechte, pauschalierte Geldleistung und die Erbringung von Unterstützungsleistungen zugunsten der behinderten Menschen hinsichtlich des planvollen „Einkaufs" benötigter Hilfen ausgebaut werden. Damit geht ein Rollenwechsel der behinderten Menschen von hilfebedürftigen Klienten zu hilfeeinkaufenden Kunden einher, und die Bedürfnisorientierung angebotener Hilfen kann verbessert werden.
Der Senat verspricht sich Erkenntnisse darüber, inwieweit
durch die Pauschalierung der sozialhilferechtlich notwendige Bedarf eines jeden Hilfeberechtigten gedeckt werden kann,
die den Hilfeberechtigten durch die Pauschalierung eingeräumte Dispositionsfreiheit zu einer stärkeren Eigenverantwortlichkeit führt,
Erprobung pauschalierter Eingliederungshilfen und persönlicher Budgets für behinderte Menschen
für die Hilfeberechtigten die Qualität der Hilfegewährung verbessert wird,
die Pauschalierung zu einer Verwaltungsvereinfachung führt,
sich die Pauschalierung auf die Entwicklung der Sozialhilfeausgaben auswirkt.
Die Erprobung soll wissenschaftlich begleitet werden.
Der zusammen mit den Behindertenverbänden in Hamburg entwickelte, auf 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrenzte und kostenneutrale Modellversuch wird nach dem rheinland-pfälzischen Projekt „Hilfe nach Maß für Behinderte" (19982000) eine weitere Erprobung persönlicher Budgets für behinderte Menschen in Deutschland darstellen. Im Gegensatz zu Rheinland-Pfalz, das sich an den Pflegegeldstufen des SGB XI anlehnte und damit unflexible Budgets anwandte, sind in Hamburg „echte" persönliche Budgets im Sinne des § 17 SGB IX geplant. Diese werden auf Basis fachlicher Kriterien auf Antrag und mit Hilfe einer „Budgetkonferenz" (Gesamtplan nach § 46 BSHG) als individuell gebildete Monatspauschale bewilligt, und sind an die Verfolgung vorab festgelegter Ziele der (ambulanten) Eingliederungshilfe gebunden.
4. Teilnehmerkreis Grundsätzlich können in Hamburg alle behinderten Menschen, die Eingliederungshilfe erhalten, in das Modellvorhaben einbezogen werden. In der Erprobungsphase können 100 persönliche Budgets bewilligt werden. Jeder nichtstationär versorgte, volljährige, in Hamburg lebende behinderte Mensch, der mindestens eine ambulante Leistung der Eingliederungshilfe erhält, bzw. Anspruch darauf hätte, kann einen Antrag auf die Gewährung eines persönlichen Budgets stellen. Voraussetzung für eine Bewilligung ist die Fähigkeit der Hilfeempfängerin oder des Hilfeempfängers, eigenverantwortlich das persönliche Budget einzusetzen und zu verwalten.
5. Ermittlung der Pauschalen:
Die in der Verordnung nach § 101 a BSHG getroffene Regelung stellt klar, dass neben der Gewährung von Einzelpauschalen auch die Bildung von Gesamtpauschalen für mehrere Bedarfe, d. h. ein persönliches Budget möglich ist.
Sie eröffnet damit die Möglichkeit, laufende und ggf. einmalige Leistungen weitgehend zu einer Gesamtpauschale zusammenzufassen. Gleichzeitig lässt sie aber auch die Festsetzung einzelner Pauschalen für bestimmte Bedarfe zu.
Entsprechend der Zielsetzung der Pauschalierung, das Einzelantragssystem weitgehend abzuschaffen, sollen die Pauschalbeträge im Regelfall als Monatsbeträge festgesetzt werden. Bestimmte Leistungen (z. B. für gastweise Unterbringung) können auch in größeren Zeitabständen, d. h. hier als Jahrespauschale gewährt werden.
Am Bedarfsdeckungsprinzip der Sozialhilfe wird ausdrücklich festgehalten. Zur Ermittlung der Pauschalen der ambulanten Eingliederungshilfe werden die Kostensätze der Hilfen, die in Frage kommen, als Kalkulationsgrundlage herangezogen, pauschaliert und je nach Bedarf, dem Einzelfall entsprechend, addiert und monatlich ausgezahlt.
Die einzelnen Pauschalbeträge und ihre Bemessungsgrundlagen wurden von den beteiligten Behörden anhand der verfügbaren Erkenntnisse erarbeitet. Dabei wurde nach Möglichkeit auf statistische Daten oder andere geeignete Angaben über die erforderlichen Aufwendungen oder nachvollziehbare Erfahrungswerte zurückgegriffen.
c) Gastweise Unterbringung:
Die bisherige, eher dem Bereich der freiwilligen Leistungen zuzuordnende Kostenübernahme für eine kurzfristige vollstationäre Betreuung als sog. „gastweise Unterbringung" zur Entlastung von Familien mit behinderten Kindern soll eine angemessene Unterbringung und Versorgung bei vorübergehendem Ausfall der Betreuungsperson bzw. zur vorübergehenden Entlastung derselben gewährleisten.
Diese Leistung wird auf der Grundlage der statistischen Durchschnittswerte pauschaliert, um in diesem Bereich die Selbstbestimmung der behinderten Menschen und ihrer betreuenden Angehörigen durch eigenverantwortliche Auswahl von Anbietern nach Qualität sowie PreisLeistungsverhältnis und der gewünschten Anzahl der Einzelmaßnahmen im Sinne des SGB IX zu fördern.
Durch die Pauschalierung werden außerdem Vereinfachungen im Verwaltungsverfahren erwartet.
Grundlage für die Errechnung der Pauschalen bilden Erfahrungswerte aus den Datenauswertungen für die Jahre 2000 und 2001. Dabei ergibt sich für bis zu 28 Tage pro Jahr eine Pauschale von 1.566 Euro pro Jahr für Berechtigte, die Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten. Erhalten sie keine Leistungen aus der Pflegeversicherung, erhöht sich die Pauschale auf 2.998 Euro.
Eine erhöhte Pauschale steht schwerst- und mehrfachbehinderten Personen zu, deren betreuende Familienangehörige besonderen Belastungen ausgesetzt sind. In diesen Fällen werden bis zu 35 Tage zugrunde gelegt und es ergibt sich eine Pauschale von 2.545 Euro, bzw. von 3.977 Euro, wenn keine Leistungen der Pflegeversicherung gewährt werden.
Die Pauschale wird ab 1. Januar 2003 für die Dauer von 2 Jahren erprobt.
d) Familienentlastung:
Während in einigen Bundesländern überwiegend institutionell finanzierte „familienentlastende Dienste" in der Behindertenhilfe vorhanden sind, hat die Freie und Hansestadt Hamburg solche Dienste bisher im Rahmen anderen Leistungen (Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes
§ 70 BSHG, Pädagogische Betreuung im eigenen Wohnraum PBW, Hilfe für behinderte Kinder und ihre Familien HFBK, gastweise Unterbringung s. o.) erbracht.
In vielen Fällen werden die einschlägigen Leistungen der Pflegeversicherung (Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege §§ 41, 42 SGB XI , Verhinderungspflege § 39 SGB XI) genutzt bzw. zusätzlich zu den o. g. BSHG-Hilfen eingesetzt. Mit der ab 1. April 2002 verfügbaren zusätzlichen Betreuungsleistung für Pflegebedürftige mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung i. H. v. 460, Euro pro Kalenderjahr (§§ 45 a und 45 b SGB XI in der Fassung des PflegeleistungsErgänzungsgesetz) steht eine weitere familienentlastende Option in einem vorrangigen Sozialversicherungssystem zur Verfügung.
Nach der erfolgten Ausdifferenzierung und Zielpräzisierung der ambulanten Eingliederungshilfen verbleibt aus Sicht des Senats ein Restbereich an Familienentlastungsbedarf im Sinne eines Sittingangebotes für besonders beanspruchte Eltern, deren Kinder zum Personenkreis des § 39 BSHG gehören. Eine entsprechend der gastweisen Unterbringung (s. o., c) gestaffelte Pauschale in Höhe von 70, Euro bzw. 100, Euro / Monat wird hier eingesetzt. Der Aufwand für diese bisher in dieser Form nicht gegebene Hilfe kann nicht eindeutig benannt werden.
Minderausgaben sind durch die gleichzeitige Reduzierung bisheriger Bewilligungen zur Befriedigung eines solchen Bedarfs im Rahmen kostenaufwändigerer Leistungen zu erwarten.
Die Pauschale kann erstmals ab 1. Januar 2003 beantragt werden.
6. Kostenfolgen:
Sämtliche zu erprobenden Pauschalierungen beziehen sich auf Bereiche, in denen bisher in erheblichem Umfang und bei z. T. sehr hohen Durchschnittskosten individuelle Leistungsbewilligungen stattfanden. Auf Basis der zugrundegelegten Daten lassen sich die Kostenfolgen der Pauschalierungen grundsätzlich maximal auf die Summe der bisherigen Einzelbewilligungen begrenzen, so dass Kostensteigerungen ausgeschlossen sind. Soweit die zusätzliche Leistung der Familienentlastung zu Mehrausgaben führt, können diese im Rahmen der für 2003 veranschlagten Haushaltsmittel aufgefangen werden.
Ein nicht unerhebliches Einsparpotential dürfte aus der Verwaltungsvereinfachung erwachsen, die durch den Wegfall von aufwändigen Einzelbedarfsfeststellungen, Bewilligungen und nachfolgenden Rechnungsprüfungen etc. resultiert. Allerdings sinkt der qualitative Steuerungsaufwand je Fall eher nicht, daher sollten aus Sicht des Senats zumindest Teile der o. g. „Rationalisierungsgewinne" in die Verbesserung der Steuerung in der Bewilligung (von Pauschalen und weiterhin Einzelleistungen) reinvestiert werden.
7. Durchführung der Erprobung
Die Aufgaben und Zuständigkeiten der Sozialdienststellen der Bezirke bleiben unberührt. Die Behörde für Soziales und Familie wird mit einem eigenen Fachdienst während der Erprobung unterstützend tätig. Für die sachgerechte Bedarfsermittlung, Zielvereinbarung und Pauschalenbemessung der persönlichen Budgets ist die Erstellung eines spezifischen Gesamtplans nach § 46 BSHG unerlässlich.
Eine besondere Qualifizierung der mit der Durchführung der Erprobung betrauten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter wird der Erprobung vorgeschaltet.
8. Evaluation:
Die Evaluation der Modellvorhaben dient der Weiterentwicklung des Sozialhilferechts im Bereich der Hilfen für behinderte Menschen. Sie beinhaltet eine an der Aufgabe und Zielsetzung des Bundessozialhilfegesetzes sowie der Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG ausgerichtete systematische Beschreibung und Bewertung der Erprobung auf der Grundlage empirisch gewonnener Daten.
Die Modellvorhaben werden so ausgewertet, dass sie eine bundesweite und eine landesweite Bewertung zulassen, wobei im Rahmen der Modellversuche nach § 101 a BSHG nur in Hamburg Leistungen der Eingliederungshilfe pauschaliert werden. Die an den Modellversuchen beteiligten Behörden sind verpflichtet, bei der Evaluation mitzuwirken und nach einem standardisierten Verfahren Auskünfte zu erteilen und Unterlagen vorzulegen.
Die vorgesehene wissenschaftliche Begleitung erstellt außerdem die Verlaufsdokumentation und unterstützt die Modellsteuerung.
9. Dauer des Modellversuches:
Damit bei einer Auswertung der Modellvorhaben von einer gesicherten Datenbasis ausgegangen werden kann, ist es unerlässlich, dass die Modellvorhaben über einen ausreichenden Zeitraum durchgeführt werden. Die Festschreibung einer mindestens zweijährigen Erprobung der persönlichen Budgets, der gastweisen Unterbringung und der Familienentlastungspauschale trägt diesem Anliegen Rechnung.
Um für die bundesweite Auswertung aller Modellvorhaben bis zum Außerkrafttreten der Verordnung hinreichende Zeit zur Verfügung zu haben, ist eine bis zu einjährige Auswertungsphase erwünscht. Diese kann angesichts des relativ späten Beginns der Hamburger Erprobung pauschalierter Eingliederungshilfen und eines persönlichen Budgets hier nicht gewährleistet werden; in jedem Erprobungsstrang ist jedoch ein noch angemessener Auswertungszeitraum eingeplant.
10. Petitum:
Die Bürgerschaft wird gebeten, den Inhalt des vorstehenden Berichts zur Kenntnis zu nehmen.