Staatsanwaltschaft

4. Derartige Untersuchungen über Ausmaß und Erfolg der Grundrechtseingriffe fehlen für die Bemühungen der Verfassungsschutzbehörden, des Bundesnachrichtendienstes, des Zollkriminalamtes und der Polizeibehörden im Rahmen der Gefahrenabwehrgesetze der Länder. Gleichwohl konzentriert sich die kritische öffentliche Debatte auf die Überwachung der Telekommunikation nach der Strafprozessordnung und fragt nicht nach der Wirklichkeit und der Wirksamkeit der Maßnahmen anderer Behörden zu anderen Zwecken auf anderer Rechtsgrundlage. Niemand weiß heute, wie viele Maßnahmen bereits außerhalb der Strafprozessordnung mit welcher Intensität und mit welchem Ergebnis durchgeführt werden.

5. Wer die Überwachung der Telekommunikation, die Erhebung von Verbindungsdaten und den Einsatz des IMSI-Catchers im landesrechtlichen Polizeirecht effektiv regeln will, muss den Zweck der Datenerhebung deutlich benennen und von den Zwecken der Datenerhebung nach anderen Gesetzen abgrenzen. Nach dem Zweck wiederum bestimmen sich die Voraussetzungen, unter denen eine Datenerhebung sinnvoll sein kann. Grenzen ergeben sich daraus, ob die Erhebung der Daten zu dem vorgesehenen, rechtlich gebilligten Zweck geeignet und erforderlich ist. Ferner muss der Eingriff sich im Rahmen des Übermaßverbotes halten.

6. Eine zielgerichtete Ergänzung der polizeilichen Möglichkeiten zum Zwecke der Abwehr von Gefahren für Leib, Leben und persönliche Freiheit ist zu begrüßen.

Der maßvolle Einsatz des Abhörens und des Aufzeichnens der Telekommunikation, der Erhebung von Verbindungsdaten sowie der Gebrauch des IMSICatchers können erheblich dazu beitragen, Gefahren für Leib, Leben oder persönliche Freiheit abzuwehren.

7. Ich erlaube mir eine ergänzende Anregung und gebe zu erwägen, ob die Möglichkeiten der Gefahrenabwehr durch eine Regelung der Maßnahmen mit Einwilligung der Anschlussinhaberin oder des Anschlussinhabers, die oder der von einer Gefahr bedroht wird, ergänzt werden sollten. Beispielsweise könnte die Polizei dienstleistungsorientiert den Schutz von Stalkingopfern verbessern, indem sie mit Einwilligung des Opfers Telekommunikationsverbindungsdaten aufzeichnet oder Zielsuchläufe durchführt, um den Stalker zu identifizieren und notwendige Maßnahmen der Gefahrenabwehr zu ergreifen. Die Aufzeichnung mit Einwilligung der Anschlussinhaberin oder des Anschlussinhabers könnte auf einer niedrigeren Schwelle einsetzen und dem Opfer die Möglichkeit verschaffen, eine Schutzanordnung nach dem Gewaltschutzgesetz zu beantragen.

8. Abzulehnen sind dagegen die Überwachung der Telekommunikation, die Erhebung von Telekommunikationsverbindungsdaten sowie der Einsatz des IMSICatchers zum Zwecke der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten. Derartige Regelungen sind nicht erforderlich, denn sobald ein Anfangsverdacht vorliegt, sind diese Maßnahmen schon nach den Regeln der Strafprozessordnung zulässig. Sie sind verfassungsrechtlich höchst bedenklich, denn die Eingriffsvoraussetzungen sind zu unbestimmt, um die Polizei nachprüfbar bei ihrer Anwendung zu beschränken. Und es ist sehr fraglich, ob der Landesgesetzgeber noch die Gesetzgebungskompetenz hat, nachdem der Bund in der Strafprozessordnung diese Maßnahmen im Zusammenhang mit Straftaten bereits geregelt hat. Ferner sind Konflikte zwischen Bundesrecht und Landesrecht zu befürchten, die sich zu Lasten einer effektiven Strafverfolgung auswirken können.

9. Sobald der Anfangsverdacht wegen einer Straftat vorliegt, greifen die Instrumente der Strafprozessordnung, die unter Leitung der dazu gesetzlich berufenen Staatsanwaltschaft einzusetzen sind. Niemand hat bisher dargelegt, in welchen Fällen es nützlich sein soll, ohne den geringsten Anfangsverdacht Telefone abzuhören, wenn das nicht schon zur Abwehr von konkreten Gefahren geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Bevor zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen, die nach der Strafprozessordnung die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens rechtfertigen (§ 152 Absatz 2 StPO), sind Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung nur zur Abwehr konkreter, schwerer polizeilicher Gefahren zu rechtfertigen.

10. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 03.03.2004 ­ 1 BvF 3/92 ­ zur Überwachung des Postverkehrs und der Telekommunikation nach den §§ 39 bis 41 des Außenwirtschaftsgesetzes müssen der Anlass, der Zweck und die Grenzen des Eingriffs in Artikel 10 Absatz 1 GG in der gesetzlichen Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden. Es muss deutlich werden, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten zu einer Überwachung führen kann. Bestimmtheit und Klarheit der Norm sollen die Verwaltung binden und dem Betroffenen Sicherheit vor einem verfassungsrechtlich bedenklichen Übermaß geben. Normenbestimmtheit und Normenklarheit sind für den Betroffenen besonders wichtig, weil er von einer Überwachung keine Kenntnis hat und sich deshalb nicht wehren kann. Diese Voraussetzungen erfüllt der Gesetzentwurf des Senats in § 10 a Absatz 1 Buchstabe 2 PolDVG-Entwurf möglicherweise aus den nachfolgenden Gründen nicht.

11. Bei der Überwachung im Vorfeld einer strafbaren Handlung fehlt es an einem abgeschlossenen oder auch nur in der Verwirklichung begriffenen strafbaren Handeln. Dies führt zu dem erheblichen Risiko, dass die Überwachungsmaßnahme an ein Verhalten anknüpft, das sich im Nachhinein als strafrechtlich irrelevant erweist. Die Ermächtigungsnorm muss diesem Risiko in rechtsstaatlich gebotener Weise entgegenwirken. Das ist m. E. ohne Anknüpfung an eine konkrete Gefahr nicht möglich.

12. Wenn die anordnende Behörde schwerpunktmäßig künftige Entwicklungen prognostizieren soll, die sich in wesentlichen Teilen noch in der Vorstellungswelt des potenziellen Straftäters abspielen, ist die Aufzählung von Straftatbeständen nur wenig geeignet, den Sachverhalt einzugrenzen, der zu einer Überwachung führen kann. Die Überwachung findet in einem Grenzbereich statt, in dem sich das Verhalten des Betroffenen möglicherweise zu einer Rechtsgutsverletzung weiterentwickelt, möglicherweise aber auch nicht. Umso wichtiger sind sonstige Einigungen der Ermächtigung zur Überwachung, um das Risiko einer Fehlprognose einzuschränken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004 ­ 1 BvF 3/92 ­). Eine geeignete Einschränkung könnte durch das Anknüpfen an eine konkrete polizeirechtliche Gefahr formuliert werden.

13. Die Regelung der Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten begegnet nicht nur wegen der Unbestimmtheit der Voraussetzungen, sondern auch wegen der Gesetzkompetenz des Landes erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Möglicherweise steht dem Bund und nicht dem Land die Gesetzgebungskompetenz aus der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für das gerichtliche Verfahren in Strafsachen zu (Artikel 74 Absatz 1 Nr. 1 GG). Die Frage der Gesetzgebungskompetenz ist anhand des Ziels und der Rechtsfolge der Maßnahme zu beantworten. Die Datenerhebung zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten scheint überwiegend dazu zu dienen, die Beweisführung in einem künftigen Strafverfahren zu erleichtern. Darauf deutet der Katalog der Straftaten hin, der in großen Teilen, aber nicht vollständig, an § 100 a StPO angeglichen ist. Es ist kaum ein Fall vorstellbar, in dem eine Überwachungsmaßnahme nach dem Gesetzentwurf greifen könnte, ohne dass bereits "bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine der genannten Straftaten begangen oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht oder durch eine Straftat vorbereitet hat" (vgl. Wortlaut des § 100 a StPO). Darauf deutet auch hin, dass nach § 10 c PolDVG-Entwurf die Vernichtung der Datenaufzeichnungen erst erfolgen soll, wenn diese nicht zur Strafverfolgung benötigt werden. Ferner dürfen nach Absatz 3 S. 2 der genannten Vorschrift die erlangten Daten auch für einen anderen Zweck verwendet werden, soweit dies zur Verfolgung von besonders schwerwiegenden Straftaten erforderlich ist. Demnach ist Zweck der Vorschrift nicht die Verhinderung neuer Straftaten durch die überwachten Personen, also nicht die Gefahrenabwehr, für die die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern liegt. Vielmehr handelt es sich um genuines Strafprozessrecht, für das der Bundesgesetzgeber bereits von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat.

14. Überwachungsmaßnahmen zur vorbeugenden Straftatenbekämpfung verwischen die Verantwortlichkeiten und die Eingriffsvoraussetzungen. Die Staatsanwaltschaft trägt nach der Strafprozessordnung die Verantwortung für die strafrechtlichen Ermittlungen. Unkontrolliertes polizeiliches Handeln außerhalb der Strafprozessordnung kann die Ermittlungen in der Frühphase des strafprozessualen Anfangsverdachts erheblich gefährden.

15. Soweit die Senatsvorlage eines Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei in § 10 a Absatz 2 besonders schwerwiegende Straftaten definiert, die eine Überwachung rechtfertigen sollen, unterscheidet sich dieser Katalog zum Teil von § 100 a StPO. So soll nach der Senatsvorlage die gewerbsmäßige oder bandenmäßige Verbreitung von Kinderpornographie gemäß § 184 b Absatz 3 StGB nicht als schwerwiegende Straftat eingestuft werden, die eine vorbeugende Überwachung der Telekommunikation rechtfertigt. Auf der anderen Seite soll die Annahme, jemand könne eine sexuelle Nötigung oder eine Vergewaltigung begehen, eine Telefonüberwachung rechtfertigen, obwohl die Strafprozessordnung das selbst bei Verdacht einer solchen Straftat aus gutem Grund nicht zulässt. Das bedeutet Konflikte zwischen Landesrecht und Bundesrecht, wenn die Polizei mit einer niedrigen Eingreifschwelle wegen einer Straftat, die nach der Strafprozessordnung eine Überwachung nicht zulässt, eine Telefonüberwachung schaltet. Die erhobenen Daten dürften ­ trotz der im Landesrecht in § 10 c Absatz 3 des Entwurfs vorgesehenen Zweckänderung ­ für das Strafverfahren unbrauchbar sein.

16. Zusammenfassung: Landesgesetzliche Regelungen der Telekommunikationsüberwachung sind aus der Sicht der Strafverfolgung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig, wenn sie an eine konkrete polizeirechtliche Gefahr anknüpfen und zur Abwehr dieser Gefahr bestimmt sind. Damit dienen sie auch der Verhinderung von Straftaten. Nicht erforderlich und darüber hinaus verfassungsrechtlich bedenklich sind landesgesetzliche Regelungen, soweit sie ohne den Anfangsverdacht wegen einer Straftat und ohne eine konkrete Gefahr, die abgewehrt werden muss, Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung, der Erhebung von Telekommunikationsverbindungsdaten und des Einsatzes des IMSI-Catchers erlauben. Die polizeiliche Tätigkeit und damit auch die Überwachung der Telekommunikation dürfen nicht bereits im Vorfeld von Gefahren und Straftaten einsetzen, ohne dass eine Verdichtung des Sachverhalts zu einer konkreten Gefahr oder zum Anfangsverdacht einer Straftat gegeben ist.