Situation und Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Bremen
Nach Maßgabe des § 1 SGB VIII ist es die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe (KJH), die Entwicklung junger Menschen zu fördern und ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu unterstützen und zu ergänzen. Damit hat die Kinder- und Jugendhilfe einen komplexen Auftrag, dessen Zielrichtung im Einzelfall von der Erziehungsfähigkeit und den Ressourcen der Eltern und der Lebenssituation des Kindes oder Jugendlichen abhängt. Im Einzelnen soll die KJH
- junge Menschen mit ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
- Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
- Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen und
- dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen (§ 1 Abs. 3 SGB VIII).
Aufgrund dieser Zielbestimmung ist die KJH nicht als Kontroll- und Eingriffsinstanz zu charakterisieren, die lediglich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Gefahrenabwehr verpflichtet ist, sondern als eine präventiv angelegte, von Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern sowie jungen Volljährigen mitgestaltete soziale Umwelt.
Ansatzpunkt für die einzelnen Leistungen sind nicht die materielle Bedürftigkeit, sondern die Deckung eines strukturellen oder individuellen Defizits an familiären Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsleistungen. In diesem Zusammenhang dienen beispielsweise die Jugend- bzw. die Jugendsozialarbeit sowie der erzieherische Kinder- und Jugendschutz (§§ 11 bis 15 SGB VIII) der Kompetenzvermittlung (Medienerziehung, Information über Drogen und andere gesundheitliche Risiken), womit sie eine ebenso hohe präventive Bedeutung aufweisen wie die Leistungen gemäß §§ 16 bis 21 SGB VIII (Förderung der Erziehung in der Familie) sowie gemäß §§ 22 bis 26 SGB VIII (Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege).
Hinzu kommen die Hilfen zur Erziehung die ein breites Spektrum individueller pädagogischer und therapeutischer Maßnahmen zusammenfassen (§§ 27 bis 41 SGB VIII). Als Ultima Ratio sieht die KJH die sogenannte Inobhutnahme vor, um in akuten Konfliktsituationen das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sichern (§ 42 SGB VIII).
Die konkrete Umsetzung dieser bundesgesetzlichen Vorgaben erfolgt in Bremen seit vielen Jahren mehr als dürftig. Die notwendigen Reformen werden nur sehr zaghaft implementiert. Ausdruck dieses Beharrens auf dem Status quo ist insbesondere das Anfang Mai 2008 in der Stadtbürgerschaft debattierte Bremische Handlungskonzept Kindeswohlsicherung und Prävention (Drs. 17/147 S vom 1. April 2008).
Die mittlerweile zu leistenden Aufwendungen zeigen deutlich den Umfang der politisch verantworteten Vernachlässigung der frühzeitigen Förderung von Kindern und Jugendlichen in Bremen. Darüber hinaus legen sie dar, in welchem Ausmaß die prekären Lebensverhältnisse vieler Familien zu gravierenden Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen geführt haben.
Unwiderlegbar ist, dass die soziale Spaltung und die damit verbundene Armutsentwicklung in unserem Stadtstaat in beklemmender Weise eine ständig wachsende Flut von Hilfebedarf bei Kindern und Jugendlichen verursacht.
Obwohl es bisher keine belastbare Bedarfserhebung für die Jugendhilfeplanung in Bremen gibt, was einen eindeutigen Bruch des SGB VIII darstellt, schätzen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Fachbehörde im Hause der Sozialsenatorin, dass mehr als 90 % aller Erziehungshilfen in die Gruppe derjenigen 30 000 Bremer Kinder und Jugendlichen hineingewährt werden müssen, welche unterhalb der Armutsgrenze leben. Sollte diese Schätzung auch nur annähernd der Realität entsprechen, so würde eines überdeutlich: Die Praxis des Bremer Jugendhilfesystems ist ein gigantischer Reparaturbetrieb, der in keiner Weise geeignet ist, die Auswirkungen der hochgradig prekären Lebenslagen von gut einem Drittel aller Bremer Kinder und Jugendlichen beheben zu können. Dieses System leistet schon lange nicht mehr den gesetzlichen Auftrag zur Kindeswohlsicherung, es bietet keine Kompensation der sozialen Benachteiligung, die infolge der unsozialen Politik in Bremen immer stärker zum Vorschein tritt. Insofern bedürfte es der größten Anstrengung und der Bündelung aller Kräfte der Jugendhilfe und des Bildungsbereiches, um in Bremen wesentlich früher und im Vorfeld von Entwicklungsstörungen Hilfen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien bereitstellen zu können.
Die Notwendigkeit einer sozialräumlichen Vernetzung und der dringende Ausbau eines Vorfeldhilfesystems treten hierbei herausragend in den Vordergrund. Bezeichnender Weise widmet die vorgenannte Mitteilung des Senats dieser Bedeutung auf Seite 11 nur ein paar Zeilen. Hier aber läge der entscheidende Ansatz zur Verbesserung, der bisher durch den Senat abgesehen von schlichten Absichtserklärungen versäumt wurde.
Wir fragen den Senat:
I. Strukturen in der Kinder- und Jugendhilfe Status Quo
1. Wie ist das System der Kinder- und Jugendhilfe in Bremen strukturiert?
Welche Institutionen und Einrichtungen arbeiten auf welchen Ebenen zusammen? Welche Aufgaben und Funktionen nehmen insbesondere die senatorische Behörde, das Amt für Soziale Dienste, der Jugendhilfeausschuss sowie die Jugend- und Wohlfahrtsverbände wahr? Welche Gründe sprechen aus Sicht des Senates für und welche gegen die derzeitige institutionelle Struktur in der KJH?
2. Welche Konsequenzen hat der Senat aus dem Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Kindeswohl im Einzelnen gezogen?
Welche konkreten Maßnahmen hat er bislang veranlasst, und welche Erkenntnisse lassen sich daraus bereits ziehen?
3. Welche Erfahrungen liegen dem Senat über das Kinder- und Jugendschutztelefon vor, inwieweit wird dieses Angebot angenommen, und wie sind insbesondere die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der dort beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beurteilen? Erachtet der Senat es für sinnvoll, das Kinder- und Jugendschutztelefon mit besonders geschultem Personal zu besetzen?
4. Welche Erfahrungen mit dem Instrument des Casemanagements in der Kinder- und Jugendhilfe liegen dem Senat aus Bremen sowie aus anderen Kommunen vor, und wie beurteilt er diese?
5. Teilt der Senat die Auffassung, dass die einschlägigen Instrumente des Casemanagements in Bremen nur unzureichend Berücksichtigung finden, da die KJH mangels einer ausreichenden Angebotspalette nicht besonders tragfähig ist, und deshalb die Koordinierung von Hilfen nur unzureichend möglich ist, sodass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialzentren vieles selbst bewältigen müssen?
6. Hält es der Senat für möglich, dass Kinder und Jugendliche unberechtigt in Obhut genommen werden, beispielsweise weil die Casemanager aufgrund der angespannten Personalsituation und der stetig anwachsenden Arbeitsbelastung den Sachverhalt falsch eingeschätzt haben?
7. Inwiefern ist dem Senat bekannt, dass die mit Casemanagement betrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter grundsätzlich nicht nur weit mehr Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum als für ihre bisherige Tätigkeit benötigen, sondern auch zusätzliche Qualifizierungen, regelmäßige Supervision und ein unterstützendes Betriebsklima unabdingbar sind? Wie werden diese Maßgaben derzeit realisiert, und welche Probleme stellen sich hierbei?
8. Welche Schritte hat der Senat unternommen bzw. wird er unternehmen, um den Personalbedarf im Bereich der Jugendpolitik und Jugendhilfe insbesondere für den allgemeinen Sozialdienst Junge Menschen JM zu erfassen?
9. Ist der Senat der Auffassung, dass der Bereich der Jugendpolitik und Jugendhilfe insbesondere für den JM derzeit adäquat mit Personal ausgestattet ist, um die eingehenden Aufgaben und Aufträge fristgerecht und fachlich begründet zu bearbeiten?
10. Wie beurteilt der Senat die Einschätzung des Deutschen Jugendinstituts aus München, dass die steigende Anzahl der verfügten Inobhutnahmen insofern verwunderlich ist, als es wissenschaftlich keine Belege dafür gibt, dass die Zahl aufgrund von Misshandlungen bzw. Vernachlässigung zu Tode gekommener Kinder gestiegen sei?
11. Findet eine nachträgliche Evaluierung der durchgeführten Inobhutnahmen statt, und in welchen Fällen waren sie nach Dafürhalten des Senates fragwürdig? Welche Schlussfolgerungen werden aus diesen Ergebnissen im Hinblick auf die weitere Praxis der Inobhutnahmen gezogen?
12. Sind die in den letzten Monaten eingetretenen Kostensteigerungen bei den wie auch bei den Inobhutnahmen nach Einschätzung des Senates das Resultat vermehrter Kindeswohlgefährdungen, oder sind sie Ergebnis der Aufhebung der jahrelang in diesem Bereich praktizierten Budgetierung?
13. Hätte eine weniger restriktive Haushalts- und Finanzpolitik bzw. eine ausreichende Mittelausstattung bei den den tragischen Todesfall des Jungen Kevin K. im September 2006 verhindern können?
14. Teilt der Senat die Auffassung, dass Sanktionen und Kürzungen bei Familien, die Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) und/oder dem SGB XII (Sozialhilfe) erhalten, nicht angebracht sind und eine mögliche Gefährdung für das Kindeswohl darstellen?
15. Welche Zusammenhänge sieht der Senat zwischen der sozialen Lage und den von Hilfen zur Erziehung/Inobhutnahmen betroffenen Kindern und Familien?
16. Inwieweit teilt der Senat die Auffassung, dass die Bremer Kinder- und Jugendhilfe nur noch ein reparierendes System ist, das in seiner heutigen Struktur keine frühzeitigen Vorfeldhilfen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien bietet bzw. die Praxis der bremischen Jugendhilfe sich selbst grundsätzlich nur als System zur individuellen Problemlösung begreift und ihr Selbstverständnis und ihre Praxis nur in völlig unzureichender Weise von präventiven Ansätzen geleitet wird?
II. Strukturen in der Kinder- und Jugendhilfe Perspektiven
17. Aus welchen Gründen gibt es in Bremen keine qualifizierte kleinräumige Jugendhilfeplanung, obwohl nach den gesetzlichen Grundlagen, welche die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe beschreiben, die Stadt Bremen dazu verpflichtet ist, regelmäßig eine Bedarfsplanung durchzuführen? Wann beabsichtigt der Senat, eine entsprechende Bedarfsplanung zu erheben?
18. Auf welche Weise will der Senat den bestehenden Reparaturbetrieb in der Kinder- und Jugendhilfe in ein vorsorgendes System umbauen, in dem Unterstützung, Hilfe und Bedarfsförderung präventiv und frühzeitig erfolgen und späterer Hilfebedarf möglichst gar nicht entstehen kann?
19. Welche Bedeutung misst der Senat der Erstellung eines Kinder- und Jugendberichtes bei, um eine Bestandsaufnahme der realen Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen in Bremen durchzuführen?
Warum existiert bislang noch kein Rahmenvertrag mit den freien Trägern entsprechend § 78 SGB VIII zur Sicherung der Qualitätsentwicklung in der Jugendhilfeplanung (Entwicklung von Förderplänen, Überprüfung auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit, differenzierte Leistungsbeschreibungen), und wann beabsichtigt der Senat, dieses Defizit in der laufenden Legislaturperiode zu beheben?
21. Welchen Stellenwert misst der Senat kommunalen Netzwerken zwischen Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Bildungseinrichtungen (insbesondere Kindertageseinrichtungen und Schulen) bei, und was hat er bisher zu deren Verbesserung unternommen?
22. Wie beurteilt der Senat die Zweckmäßigkeit von Vorfeldhilfen in Form niedrigschwelliger Angebote (Haushaltshilfen), wie sie bereits in einigen Kommunen angeboten werden, oder die konsequente Begleitung von Familien in Not, um den präventiven Charakter der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken?
23. Mit welchen Maßnahmen will der Senat akzeptable Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe gewährleisten?
24. Welche langfristige Vision hat der Senat von einer nachhaltigen Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere hinsichtlich des Aspektes, dass die Kinder und Jugendlichen mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Interessen (wieder) im Mittelpunkt stehen?