Risikoanalyse

Die Risikoanalyse erfolgte durch die Definition von 25 Kriterien, dabei ging es um die relative Häufigkeit des Auftretens einer Nebenwirkung, deren Ausmaß (gestuft) und der Wertigkeit; dies multipliziert ergab die Risikokennzahl. Das CSC Book Saver-Verfahren hat dabei ausgesprochen gut abgeschnitten.

Durchführung

Zwar hatte die ZLB vor drei Jahren an einem Bestandssegment, das als sehr typisch für den Gesamtbestand betrachtet werden kann, eine ausführliche Schadensanalyse gemacht, deren Ergebnisse waren auf die Sammlung „Magistratsbibliothek" jedoch nicht ohne weiteres zu übertragen und konnte daher keine wirkliche Orientierungshilfe bieten. Anhand eines mit der Firma gemeinsam erarbeiteten Kriterienkatalogs erfolgte die Auswahl der zu behandelnden Schritte durch den Dienstleister. Das heißt Mitarbeiter von PAL arbeiteten im Magazin, unterzogen jedem Buch einer groben Schadensanalyse, sichtbare Schäden wurden dokumentiert (damit sie nicht nachträglich als Schäden durch die Behandlung zu definieren waren). Dann erfolgte die Behandlung je nach festgelegtem Weg, dabei gab es folgende Varianten:

­ Gamma-Bestrahlung (bei einem Subunternehmer, der Firma Gamma-Service in Radeberg) ­ Feinreinigung ­ Massenentsäuerung ­ Rückführung

­ Feinreinigung ­ Massenentsäuerung ­ Rückführung

­ Feinreinigung ­ Rückführung

Und am Ende sollte alles in der Reihenfolge der Entnahme wieder im Regal stehen.

Alle Bestände waren noch nicht mit der EDV erfasst, sodass als erster Schritt die Vergabe einer ID-Nummer notwendig war, um den jeweiligen Band in der mit der Firma zu entwickelnden Datenbank (Access) jederzeit individuell nachzuvollziehen war. Die ID-Nummer wurde im Buch mittels einer Fahne eingelegt. Am Ende der Behandlung musste dann abschließend im Buch mittels vom Auftraggeber vorgegebener Kürzel mit Bleistift die Art der Behandlung dokumentiert werden.

Ein Punkt hat dem Berufsethos der PAL-Restauratorinnen ebenso Schwierigkeiten gemacht wie den Buchbindern der ZLB. Natürlich gab es bei den Beständen auch Schäden, die nicht mit dem Stichwort „Schimmel" oder „übersäuertes Papier" abzudecken waren (vor allem an Einbänden). Jedoch sah das Projekt keine Gesamtrestaurierung vor, sondern die bereitgestellten Mittel dienten allein der Eindämmung der genannten Schadensbilder. Dies hatte zur Folge, dass auch ein Buch mit einem Einbandschaden ins Regal zurückgestellt werden musste. Es ist also nicht so, dass der behandelte Bestand nun restauratorisch uneingeschränkt in Ordnung ist, es bleibt Nacharbeitungsbedarf, der aber benutzungsabhängig stückweise erfolgen muss und kann. Die Dokumentation dieser Probleme in der erwähnten Datenbank erleichtert die zukünftige Arbeit in diesem Punkt. Da es sich nicht um einen sehr viel gefragter Bestand handelt, lässt sich dies u. E. rechtfertigen, aber dieser Punkt hat viel Überzeugungsarbeit bedeutet.

Das o. g. Stichwort „Kriterienkatalog" klingt einfach, aber die Tücke steckte im Detail, denn was ist denn z. B. wirklich „weißes" Papier, da musste von den Fachleuten der ZLB-Buchbinderei und den Restauratorinnen der PAL oft im Detail nochmals nachgefragt und diskutiert werden. Doch ein gemeinsames Diskutieren und Beraten über jedes einzelne Buch war allein aus zeitlichen Gründen nicht möglich, das Projekt musste 2003 abgewickelt werden! Notwendig war es jedoch auch nicht. Der Auftraggeber musste anerkennen, dass die Entscheidung, was mit jedem Buch passiert, an den Dienstleister vergeben worden war und dieser akzeptierte und verstand die (Qualitäts-)Forderungen des Auftrags sehr unkompliziert.

Zwei Problematiken waren schon im Vorfeld kontrovers geprüft und diskutiert worden: wie kann mit rot gestempelten Büchern umgegangen werden und was geschieht mit Ledereinbänden? In beiden Fällen wurde ein sehr pragmatischen und weitgehenden Ansatz durchgesetzt. Letztlich konnte die positive Erfahrung gemacht werden, dass die Entscheidung bei dem bei PAL eingesetzten Entsäuerungsverfahren tatsächlich zu keinen nennenswerten Nachteilen führte. Doch die Überlegungen im Detail: Ein Stempel auf einer archivarischen Urkunde hat einen anderen Rechtscharakter, ein roter Eigentumsstempel in einem Buch einer Bibliothek kann notfalls, falls er nach einer Behandlung nicht mehr klar erkennbar sein sollte, durch einen neuen Stempel der Bibliothek ersetzt werden. In einem kleinen Massenentsäuerungsprojekt mit dem Papersave-Verfahren im Jahr 2000 war zwar erkennbar geworden, dass das Auslaufen roter Stempelfarbe ein ästhetisches Problem darstellt, aber die Lesbarkeit, somit die Benutzbarkeit war nicht eingeschränkt, dem Buch war trotzdem etwas „Gutes" getan und so fiel die Entscheidung, auch Bücher, die rot gestempelt worden waren, nicht auszuschließen. Positive Erfahrung war, dass das CSC Book Saver-Verfahren nicht zum Auslaufen von Farbe führte, jedoch waren die Überlegungen zu diesem Aspekt im Vorfeld sehr schwierig.

Schwieriger noch war die Problemlage dagegen bei den Ledereinbänden: klammert man diese zu Rettung des Einbandes gänzlich aus, erhält also den Einband zu Lasten des Buchblocks oder rettet man diesen, riskiert aber Schäden am Einband? Die Entscheidung fiel zugunsten des letztgenannten Wegs, und zwar in den Fällen, in denen die Einbände keinerlei Besonderheit hatten und „normale Standardeinbände" des 19. oder 20. Jahrhunderts waren. Zur Eingrenzung der Schwierigkeiten hatte im Vorfeld ein Buchbinder der ZLB die Bände gekennzeichnet (durch Fahne), die aufgrund der Besonderheit des Einbandes unter gar keinen Umständen behandelt werden sollten.

Aber auch hierbei konnte die positive Erfahrung gemacht werden, dass Schäden an Einbänden ebenfalls nicht in nennenswerten Ausmaß auftragen. Ausdrücklich war im Vertrag festgehalten worden, dass der Auftraggeber bei der Massenentsäuerung unvermeidbare Nebenwirkungen anerkennen muss. Bei der Frage der Ledereinbände war dies einer der Punkte, bei denen die Verantwortung mit vollem Bewusstsein vom Auftraggeber selbst übernommen wurde ­ selbst entgegen dem warnenden Hinweis des Dienstleisters. Eine Prüfung dieser Fragen und eine Entscheidung über das Vorgehen war ­ unabhängig von dem letztlich gewählten Weg ­ als Vorbereitung der Arbeit unerlässlich.

Die Qualitätsanforderungen bei der Massenentsäuerung bezogen sich wie bei den Schweizern auf quantitativ, d. h. prozentual noch tolerierbares Auftreten von Nebenwirkungen. Farbverbänderungen, sichtbare Ablagerungen, Strukturveränderung der Papieroberfläche usw. sollte bei maximal 5 % auftreten dürfen. Vorweg schon das Ergebnis (vor der Darlegung der Kontrollmechanismen): in der momentan laufenden neuen Ausschreibung wurde diese Zahl auf 2 % gesenkt, denn an keiner Stelle ist im ersten Projekt diese Zahl von 5 % überschritten (oder erreicht) worden. Es war zwar aus Gesprächen mit den Schweizer Kollegen bekannt, dass auch dort überlegt wurde, die Forderungen strenger zu fassen aufgrund der guten Ergebnisse durch die Weiterentwicklung des dortigen Massenentsäuerungsverfahrens, aber bei der ersten Ausschreibung war in der ZLB nicht gewagt worden, eine Prozentzahl anzugeben, die in der Fachliteratur an keiner Stelle bis zu dem Zeitpunkt schriftlich dokumentiert worden war. Inzwischen sind die Schweizer Qualitätsrichtlinien auch auf der Basis ihrer inzwischen fünfjährigen umfassenden Erfahrung aktualisiert, verbessert und angepasst und somit größtenteils auch strenger bzw. höher geworden. Auch das ZLB-Projekt hat gezeigt, dass dies der richtige Weg ist.

Kontrollen:

Wie geschah die Durchführung der Kontrollen in der Praxis? Nicht mit den Mitarbeitern der PAL zusammen, sondern im Vorgriff auf deren Arbeiten im Magazin (die ja nicht auf einmal alle Bücher abholten) wurde an einer von dem der ZLB unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten festgelegten Anzahl von Stichproben eine sehr umfassende und genaue Schadensanalysen an Büchern durchgeführt, die so zu Kontrollbücher wurden und nach Abschluss aller Behandlungen ebenso gründlich kontrolliert wurden. Dies konnte dann zur Basis von Hochrechnungen werden. (Die Anzahl der Kontrollbücher wird aufgrund des laufenden Ausschreibungsverfahrens und des zweiten Projektes bewusst nicht angegeben.) Es sollten jedoch bei der Kontrolle nicht nur Schäden („Nebenwirkungen") erkannt werden, sondern der Erfolg der Behandlung sollte ebenfalls (mittels pH-Stift) ermittelt werden. Es waren auch vertraglich weitere Kontrollmöglichkeiten durch Dritte festgelegt. Schon in den Anforderungen der Ausschreibung und demnach auch vertraglich festgelegt waren Qualitätskontrollen auch in externen unabhängigen Analyselabors. Vor allem die Referenzpapiere waren für die Kontrollen ausgesprochen wichtig. Überprüft wurde die Homogenität der Entsäuerung, die alkalische Reserve, die Bruchkraft nach der Falzung und die Vergilbung.

Bei der Gamma-Bestrahlung ergab sich ­ basierend auf den Erfahrungen einer anderen Berliner Kultureinrichtung ­ während des laufenden Ausschreibungsverfahrens der Verdacht auf Ungleichheit der Ergebnisse einer Behandlung, sodass auch hier eine Kontrolle eingebaut wurde. Einige Testbücher wurden dem Institut für Lufthygie ne (Berlin) zur Schimmelkontrolle vor der Bestrahlung gegeben, danach eingeschweißt und bestrahlt und ­ ungeöffnet ­ unmittelbar nach der Bestrahlung erneut im Institut für Lufthygiene untersucht. Eine erfolgreiche Behandlung durch Abtötung und Reduktion der Schimmelsporen konnte bei allen Testbüchern festgestellt werden. Die Qualitätsanforderung an den Dienstleister war hier, die Dosis so hoch wie notwendig, aber so gering wie möglich zu wählen. Der Dienstleister hatte natürlich Kenntnis der ZLB-Schimmeluntersuchungen durch das Institut für Lufthygiene erhalten, um die Arten der Schimmelsporen zu kennen und zielgerichtet behandeln zu können.

Der Zugriff auf diese mehrfach schon erwähnte Datenbank war für die Projektorganisation sehr wichtig. Die Entwicklung geschah in enger Zusammenarbeit und bot nicht nur den Vorteil der ständigen Prozessbegleitung, sondern diente auch der Finanzkalkulation. Denn abhängig von den ausgewählten Behandlungsschritten waren die Preisschwankungen sehr hoch und somit die Kalkulation der Gesamtmenge der zu behandelnden Bücher sehr schwierig. Da jedoch Möglichkeiten zur Steuerung und zum Eingriff gegeben sein mussten, damit die zur Verfügung stehende Summe nicht überschritten wurde, war dieser Effekt der Datenbank unverzichtbar. Dies hat geklappt, ebenso die Begleitung des Gesamtprozesses durch Dienstleister und Auftraggeber. Abfragen wie z. B. Welche Bücher müssen noch bestrahlt werden? Welche sind schon gereinigt? u. Ä. waren möglich und schufen Transparenz im Gesamtprozess, der immerhin über einige Monate lief.

Innerhalb eines Zeitraums von vier Monaten wurden insgesamt 18 832 Bücher behandelt, alle gereinigt (deutlich auch für Laien positiv sichtbar), ca. 75 % entsäuert und ca. 5 % bestrahlt.

Von Anfang an war geplant, die behandelten Bücher nicht mehr an ihren ursprünglichen Magazinplatz zurückzustellen, sondern in einem für einige historische Sammlungen (aus Platzgründen) vor einiger Zeit angemieteten Außenmagazin im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin-Kreuzberg. Hierbei handelt es sich um einen Neubau, in dem Gesichtspunkte der Bestandserhaltung gut berücksichtigt worden sind. Dort stehen die Bücher in einem klimatisierten Magazin, sodass sie nun zu einen echten „Vorzeigebestand" wurden, der nun so steht, wie es für alle Bestände zu wünschen ist. Es bleibt für diese Sammlung „nur" noch die Aufgabe, die anfangs erwähnten Verstellungen in der Signaturenreihenfolge zu beseitigen und ­ benutzungsabhängig ­ die Einbandschäden zu beheben. Sicher eine weithin sehr große Aufgabe, die nur schrittweise zu bewältigen ist, aber die größten Gefahren konnten durch das Projekt beseitigt werden.

Die Kontrollbücher konnten noch nicht zurückgestellt werden (die waren aus pragmatischen Gründen für die Phase der Nachkontrolle zunächst wieder im alten Magazin aufgestellt worden), da das Interesse von Fachleuten am Projekt so groß war, dass in den vergangenen Monaten wiederholt Begutachtungen durch Restauratoren anderer Institutionen erfolgten.

Das Kontrollergebnis ist insgesamt positiv, jedoch gibt es sehr wohl in Einzelfällen Nebenwirkungen, zwar kein problematisches Ausbluten von Farbe an Einbänden, Buchschnitten o. Ä., aber ein „Auslaufen" von Schrift, sodass das Papier „transparent" erscheint, ist vereinzelt aufgetreten ebenso in seltenen Fällen ein wenig leichte weiße Ablagerungen, die problemlos zu entfernen waren. Auch der Dienstleister selbst war gerade an diesen Büchern interessiert, bieten sie doch Möglichkeiten, Ursachen zu finden, um das Verfahren selbst zu verbessern. Daran kann auch allen nur gelegen sein. Die Parameter der Entsäuerungsbehandlung sind in der Datenbank festgehalten, man kann mit Büchern derselben Charge vergleichen, sodass Rückschlüsse möglich sind und damit tatsächlich begründbare Hoffnungen auf Veränderung im Sinne einer Verbesserung.

Das Stichwort „Homogenität" der Behandlung war auch eine schwierige Frage. Auch in Gesprächen mit unabhängigen Fachleuten und mit der Firma, ist dies immer wieder problematisiert worden. Wenn als Ausgangspunkt keine homogene gleichmäßig verteilte Übersäuerung vorliegt (vorliegen kann), wie soll dies durch welche Behandlung auch immer hergestellt werden? Ist die Forderung nach Homogenität daher nicht wirklichkeitsfremd? Aber wie soll es bei den Qualitätsrichtlinien anders formuliert werden, um nicht Tor und Tür für „oberflächliche" Arbeit zu bieten? Auch bei der zweiten Ausschreibung zur Fortsetzungen des Projektes (2004) ist weiterhin an der von der Schweiz übernommenen Formulierung ­ „Es ist eine homogene Behandlung zu erzielen. Die mittlere Standardabweichung... darf... nicht übersteigen" ­ festgehalten worden.