Krankenhaus

In seiner Vernehmung vom 15. Juni 2007 führte Ralf Klahn ergänzend zu seinem Bericht aus, dass die Jugendlichen zum Zeitpunkt des Eintreffens der Polizei sehr aufgebracht gewesen seien.

Nachdem es ihm gelungen sei, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen, seien die Jugendlichen bereit gewesen, die Glasscherben aus der Hand zu geben. Im Anschluss habe er sich mit den Jugendlichen in den Innenhof der Einrichtung begeben. Dort rauchte er gemeinsam mit den Jugendlichen eine Zigarette, wobei sie sich nach seinem Eindruck beruhigten, weil sie einen neutralen Gesprächspartner gefunden hätten. Die Jugendlichen hätten ihm dabei eröffnet, dass das Ganze eine Art Hilfeschrei ihrerseits gewesen sei. Im Anschluss erwähnte Ralf Klahn die Vorwürfe der Jugendlichen, die er bereits in seinem Bericht vermerkte.

Verfolgt man die Vermerke mit autoaggressivem Bezug, so fällt auf, dass diesen Handlungen überwiegend emotional angespannte Situationen etwa auch in Form von gewalttätigen Auseinandersetzungen unter den Betreuten vorausgingen. Anders verhält es sich in dem Besonderen Vorkommnis Nr. 67 vom 26. Juli 2004. Aus dem hierzu erstellten Vermerk geht hervor, dass es keinen äußeren Anlass für die vorgenommene Selbstverletzung gab.

Betroffen war in diesem Fall J 16. Dieser spielte mit einem Mitarbeiter im Gruppenraum Schach. Während des Spielverlaufes zeigte sich der Jugendliche zunehmend unruhiger und unkonzentrierter. Während einer Spielpause begab er sich in den Waschraum der Einrichtung. In diesem unbeobachteten Moment griff der Jugendliche zu einem Sanitärreinigungsmittel und schluckte den restlichen Inhalt von ca. 100 ml hinunter. Anschließend musste er sich übergeben. Der Jugendliche zitterte erheblich und klagte über akute Atemnot. Schließlich erbrach er sich erneut. Der ärztliche Notdienst wurde umgehend angerufen. Der Jugendliche wurde schließlich mit einem Rettungswagen, begleitet von zwei Mitarbeitern der Firma Securitas, ins Krankenhaus verbracht. Die Untersuchung ergab, dass er durch den Verzehr des nicht giftigen Reinigungsmittels eine Reizung des Rachenbereichs erlitt.

Es wurde in den dem PUA zur Verfügung stehenden Akten nach Erklärungen oder Gründen für diese Häufungen gesucht. Die Erkenntnisse können wie folgt zusammengefasst werden: J 17

· J 17 und zwei weitere Minderjährige haben sich am 16. Juni 2004 im Rahmen einer versuchten Entweichung mit Scherben einer zerbrochenen Glühbirne am Hals leicht blutende Verletzungen zugefügt und gedroht, sich umzubringen, wenn sie nicht aus der GUF herausgelassen würden (s. o.).

· Am 22. November 2004 wollte er zum Arzt gehen. Als ihm mitgeteilt wurde, dass der Facharzt erst zwei Tage später Zeit habe, schlug er mehrfach gegen eine Türzarge, wodurch seine Hand anschwoll. Er meinte, nun wohl auf jeden Fall zum Arzt zu müssen. Auf die Ankündigung seines Betreuers, erst das BV zu schreiben und sich dann um die Begleitung zum Arzt zu kümmern, schlug er mit der anderen Hand gegen den Türrahmen.

· Am 28. November 2004 schlug der Betreute mit seiner Hand gegen eine Wand, nachdem ihm ein Telefongespräch verweigert wurde. Sodann verlangte er wegen einer Schwellung des Handrückens zum Arzt gebracht zu werden (Den Krankenhausbesuch am Folgetag zur Untersuchung nutzte er für einen Fluchtversuch).

· Am 5. Dezember 2004 ritze er sich nachmittags die Haut des linken Arms und den Bauch oberflächig an. Er drohte, hiermit weiterzumachen, wenn kein Amtsarzt geholt würde.

Vernehmungsprotokoll, S. 38.

783 Akte B 12.

· Als der Amtsarzt an selben Tag entgegen seiner Forderung nicht gerufen wurde, drohte er später mehrfach, sich umzubringen. Auf die folgende Mitteilung, dass der nun doch gerufene Amtsarzt keine Notwendigkeit sah, zu kommen, bekam er einen Wutanfall, riss eine Tür aus der Verankerung, drohte, einen Betreuer zu schlagen und die Einrichtung auseinander zu nehmen. Auch dem nun erscheinenden Amtsarzt erklärte er, dass er sich umbringen werde und es nicht länger in der GUF aushielte. Der Amtsarzt entschied, dass der Betreute in der GUF bleiben solle, weil er nicht suizidal sei. Das vom Amtsarzt für den Abend verschriebene Truxal erhielt J 17 nicht, weil er bereits schlief, als er es einnehmen sollte.

· Am 9. Dezember 2004 versuchte J 17 nach einer Auseinandersetzung, sich mit einer abgebrochenen Kugelschreiberhülle zu verletzen.

· Am selben Tag verlangte er wegen Schmerzen an der Hand sofort ins Krankenhaus gefahren zu werden. Als ihm dies verweigert wurde, fügte er sich mit einem von der Wand gerissenen und zerbrochenen Plastik-Lichtschalter eine einen Zentimeter lange Ritzwunde am Handgelenk zu.

· Am Abend desselben Tages drohte er gegenüber Alice Rubertus, sich umzubringen. Der Amtsarzt schätzte ihn als zumindest latent suizidal ein und er kam in die geschlossene Psychiatrie.

· Am 25. Januar 2005 wurde J 17 wegen eines kompletten Kontrollverlustes von zwei Mitarbeitern zu Boden gebracht und an Händen und Füßen fixiert. Dann schlug er mehrfach seinen Kopf auf den Boden, obwohl die Mitarbeiter versuchten, dies zu verhindern. Dabei verletzte er sich an den Lippen und blutete leicht.

Eine Notfallpsychiaterin hielt eine Einweisung zu diesem Zeitpunkt nicht für erforderlich. Am selben Abend erfolgte aber dennoch eine Zwangseinweisung und J 17 blieb bis zur Vollstreckung eines Untersuchungshaftbefehls am 7. Februar 2005 dort.

Aus den Jugendlichenakten ergibt sich, dass der Minderjährige auch am 8. August 2003, 16. Juni 2004 und 28. Juni 2004 nach Schlägen gegen die Wand sowie am 26. Februar 2004 nach Schlägen gegen eine Scheibe in ärztlicher Behandlung war.

In einem kinderpsychiatrischen Gutachten vom 4. September 2003 wird bereits erwähnt, dass nach Angaben von Daliah Gaschler J 17 angefangen habe, sich selbst zu verletzen. Er habe mit der Stirn gegen einen Tisch geschlagen und einen Bluterguss davongetragen. J 17 habe angeben, er habe vor ca. einem Jahr, weil er sich aufgeregt habe, mit der Faust gegen eine Wand geschlagen und sich dabei den kleinen Finger der rechten Hand gebrochen. Bei anderen Gelegenheiten habe er sich mit Glasscherben die Arme aufgeritzt.

J 17 berichtete von selbstverletzenden Handlungen in Situationen, in denen er aus verschiedenen Gründen emotionalen Stress verspürt habe.

In einem Vermerk des zuständigen Sachbearbeiters des FIT vom 14. Juni 2004 heißt es: In Bezug auf seine weitere Vorstellung gibt J 17 an, dass er lieber ins Wilhelmstift gehen wolle, wenngleich er keine genauen Vorstellungen davon hat, wie der Alltag dort überhaupt aussieht. Er habe in der GU schon häufiger über Suizid nachgedacht und zeige nach Aussage von Jörg Sonntag autoaggressives Verhalten (geschwollene Handrücken).

Der Amtsvormund notierte zu der oben erwähnten Behandlung am 16. Juni 2004 wegen eines Schlages an die Wand: Anruf von J 17 um 15.00 Uhr:

Er habe den ganzen Tag Zahnschmerzen und nunmehr auch Schmerzen in der Hand, ihm werde aber die ärztliche Behandlung verweigert. Auf Nachfrage teilte er mit, dass für 16.00 Uhr ein Termin in einer zahnärztlichen Notfallpraxis vereinbart worden sei.

Da ihm dies wegen der starken Schmerzen zu lange gedauert habe, habe er mit der 784 C-4-10 und C-6-10.

Hand irgendwo gegen geschlagen und nun habe er sehr heftige Schmerzen in der Hand.

Auf meine Frage, welche Schmerzen denn vorrangig behandelt werden müssten, sagte J 17, die in seiner Hand seien am schlimmsten, sie sei stark geschwollen.

Mit der Betreuerin Kirsten Lankuttis wurde vereinbart, dass J 17, sobald der bereits benachrichtigte Sicherheitsdienst eintreffe, zur Behandlung ins AK Barmbek gebracht werde.

Vom 20. bis 22. Oktober 2004 war J 17 stationär in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik des UKE untergebracht. Dieser Aufenthalt erfolgte durch die Einweisung eines Amtsarztes nach seiner Ingewahrsamnahme durch die Polizei.

In einem Bericht des FIT vom 6. Dezember 2004 an das Amtsgericht HamburgHarburg steht:

Weiterhin ist auffällig, dass J 17 seit dem 22. November 2004 wieder vermehrt dazu neigt, selbstverletzendes Verhalten zu zeigen. Konkret äußert sich dies darin, dass er mit den Händen gegen Möbel oder Wände schlägt, dadurch eine Schwellung auftritt und der Jugendliche dann verlangt, einem Arzt vorgestellt zu werden; somit die Eigenverletzung scheinbar auch als Erpressung genutzt wird.

Auf einem undatierten Blatt mit handschriftlicher Überschrift "Knauerhase-Verlauf" finden sich diese Eintragungen:

6. Dezember 2004: Beide (J 17 und J 05) befinden sich in Gruppe 1 ­ nur mit Matratze im Zimmer, da beide mit Suizid gedroht haben [...] J 05 hat keinen guten Einfluss auf ihn, beide stacheln sich auf mit Selbstverletzungen und Suiziddrohungen.

9. Dezember 2004: Seine Suiziddrohungen klingen für mich immer realer. J 17 fordert im Gespräch mit uns beiden (Knauerhase und Amtsvormund) immer wieder, in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Da (Amtsvormund) die Suizidalität auch als ernstzunehmend einschätzt, rufen wir den Amtsarzt, der J 17 per PsychKG ins UKE einweist. J 17 wirkt sichtlich erleichtert.

In einer "Zwischenbilanz zur Familienangelegenheit (J 17)" an das FIT führt die stairway GmbH am 9. Dezember 2004 aus:

Zur Funktionalität der durch J 17 gezeigten Devianz, insbesondere deliktische und aggressiv-impulsive Verhaltensweisen konnten folgende Eindrücke gesammelt werden: [...] Auch die Funktionalität selbstverletzender Handlungen kann J 17 genau erklären.

Hierbei handelt es sich um wohlüberlegte Bestandteile eines Fluchtplanes. J 17 ist davon überzeugt, dass er in der geschlossenen Unterbringung durch das Vorweisen von Verletzungen darauf drängen kann, in eine Klinik gebracht zu werden, wodurch sich Fluchtmöglichkeiten ergeben können. Ihm ist bewusst, dass dieses Konzept vom Aufmerksamkeitsgrad des Wachpersonals abhängig ist und nicht immer zum Erfolg führt. Das Erdulden von Schmerzen (Schwellungen an den Händen) koste ihn Überwindung, die Motivation zur Flucht bewertet er jedoch als vordergründig.

Maßgeblich erscheint uns, dass J 17 o. g. Verhaltensweisen eindeutig als zieldienlich und erfolgversprechend bewertete.

Stellungnahme Vorbehaltlich der noch ausstehenden medizinischen Diagnostik, zu der wir keine Angaben machen können, betrachten wir das von J 17 gezeigte "Problemverhalten" als ein erlerntes und funktional motiviertes Verhaltensmuster [...]

In einem weiteren Sachverständigengutachten vom 2. Februar 2005 wird berichtet, dass Kay Sellmer mitgeteilt habe, dass es immer wieder Zeiten gebe, in denen alles gut laufe. Irgendwann komme es jedoch immer wieder zu Impulsdurchbrüchen und Selbstverletzungen, ohne dass jeweils ein Anlass erkennbar geworden sei oder sich die Ursachen besprechen ließen. J 17 habe am 10. Dezember 2004 gesagt, er habe sich selbst verletzt "wegen dem Stress". Er möchte den anderen nichts tun, deswegen verletze er sich selber.