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Mit dem nachfolgend dargestellten Handlungskonzept gegen Jugendgewalt beabsichtigt der Senat ein System aufeinander abgestimmter Maßnahmen umzusetzen, die die Informationsbasis verbessern und ein möglichst frühzeitiges und effektives Anbieten von Hilfe und Unterstützung, aber auch erforderlicher Intervention und Sanktionierung ermöglichen. Die Maßnahmen sind mit standardisierten Maßstäben bewertet worden. Sie knüpfen an realen Problemlagen an und sind vielfach ressortübergreifend angelegt.

I. Handlungskonzept

1. Einleitung

Die Bekämpfung der Jugendkriminalität und der Jugendgewalt sowie die Gewaltprävention haben in Hamburg seit Jahren einen hohen Stellenwert. Vielfältige Maßnahmen haben zwar dazu beigetragen, dass Raubtaten, Diebstahl und Erpressungen bei unter 21-jährigen Tatverdächtigen zurückgegangen sind. Die Zahl der leichten, gefährlichen und schweren Körperverletzungsdelikte ist hingegen angestiegen. Dieser Anstieg gibt Anlass zum Handeln, da die Zahl der Taten einerseits ohnehin bereits ein hohes Niveau erreicht hatte und zweitens jede Gewalttat ein oder mehrere Opfer nach sich zieht, deren Gesundheit, Unversehrtheit und Wohlergeben sich der Senat in besonderer Weise verpflichtet fühlt. Zudem gilt es durch frühzeitiges Erkennen und entschlossenes Einschreiten kriminelle und gewalttätige „Karrieren" zu verhindern. Vor diesem Hintergrund sind weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Gewalt unter jungen Menschen zu entwickeln und bestehende Maßnahmen zu optimieren. Das nachfolgend dargestellte Handlungskonzept ist ein wichtiger Schritt zur Umsetzung dieser Absicht.

2. Auftrag und Zielsetzung

Im Anschluss an eine vom Hamburger Innensenator initiierte länderübergreifende Fachkonferenz „Handeln gegen Jugendgewalt" der Innenministerien der Länder und des Bundes unter Beteiligung von Vertretern von Hamburger Fachbehörden, die im Januar 2007 in Hamburg stattfand, haben die Staatsräte der Behörde für Inneres (BfI), der Behörde für Bildung und Sport, der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz (BSG), der Justizbehörde (JB) und der Finanzbehörde (FB) ein Projekt „Handeln gegen Jugendgewalt" eingesetzt. Die Amtsleiter der beteiligten Behörden (BfI, Polizei, BSG, BBS, JB, StA, Bezirksämter) wurden beauftragt, bis zum Herbst ein Handlungskonzept mit wirksamen Maßnahmen vorzulegen. Zur Projektsteuerung wurden eine Staatsräte-Lenkungsgruppe, eine Amtsleiterrunde und eine Referentenrunde gebildet.

Ziel des Projekts ist es, ein System von aufeinander abgestimmten Maßnahmen zu schaffen, die von der Früherkennung von Auffälligkeiten im Kindesalter bis zur effektiven und effizienten Strafverfolgung reichen. Dazu sind einerseits alle bestehenden Maßnahmen der beteiligten Behörden und Institutionen zu erfassen und mit standardisierten Maßstäben zu bewerten sowie andererseits neue Maßnahmen zu entwickeln, deren Wirksamkeit mit denselben Maßstäben eingeschätzt werden soll. Bei der Bewertung und Entwicklung von Maßnahmen sollen Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien genauso einbezogen werden wie aktuelle fachliche Entwicklungen.

Eine wesentliche Vorgabe für das vom Projekt zu entwerfende Handlungskonzept war es, integrierte ganzheitliche Handlungsansätze zu entwickeln, die an den realen Problemlagen anknüpfen und nicht von hergebrachten Behördenzuständigkeiten geprägt sind.

3. Grundlagen und Vorgehensweise

Die vorgeschlagenen Handlungsansätze berücksichtigen sowohl die aktuellen Ergebnisse der polizeilichen Kriminalstatistik (für 2006) als auch die Erkenntnisse der Dunkelfeldstudien für Hamburg.

Aus der Kriminalstatistik sind die folgenden Entwicklungen hervorzuheben:

­ Die Gewaltkriminalität1) insgesamt ist um +0,7 % leicht angestiegen; mit 8.978 Taten bleibt diese Form der Kriminalität ungefähr auf dem Vorjahresniveau.

­ Der Anstieg ergibt sich im Wesentlichen aus den gestiegenen Fallzahlen bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung (+4,2 %).

­ Der Anteil der jungen Tatverdächtigen unter 21 Jahren im Bereich der Gewaltkriminalität ist mit ca. 42 % aller Tatverdächtigen sehr hoch.

Aus der aktuellen Hamburger Dunkelfeldstudie (2007) sind die folgenden Ergebnisse hervorzuheben:

­ Über ein Viertel der befragten Jugendlichen hat angegeben, im Jahr 2004 Opfer einer Straftat geworden zu sein.

Folgende Deliktarten seien beispielhaft genannt: Raub (7,9 %), Erpressung (5,6 %), sexuelle Gewalt (3,7 %), Körperverletzung mit Waffe (6,1 %), Körperverletzung ohne Waffe (15,4 %). Jungen werden ­ abgesehen von sexuellen Übergriffen ­ deutlich häufiger Opfer (29,9 %) als Mädchen (19,5 %).

­ In der Kategorie Mehrfachtäter (selbstberichtete Delinquenz, fünf und mehr Taten) zeigt sich, dass die Raten bei den deutschen Mehrfachtätern kontinuierlich von 6 % (1998) über 4,2 % (2000) auf 3,3 % (2005) gesunken sind, während bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund je nach Herkunft für 2005 die Quoten wie folgt liegen: 11,1 % bei türkischer Herkunft, 5,8 % bei Aussiedlern und 8,1 % bei nichteuropäischen Ausländern.2) Aber auch hier sind leichte Rückgänge zur Untersuchung im Jahr 1998 zu verzeichnen.

­ Vergleichsuntersuchungen von Schülerberichten zeigen, dass das Ausmaß der Gewalt an Schulen in Hamburg im Jahr 2005 dem anderer Großstädte entspricht.

11,9 % der Jugendlichen waren in dem der Befragung vorangegangenen Monat mindestens einmal Opfer einer Straftat. In Fällen, in denen die Lehrkräfte nicht eingreifen, steigt das Ausmaß der aktiven Gewalt deutlich gegenüber Schulen, in denen Lehrkräfte im Ruf stehen, einzugreifen.

­ Der Zusammenhang zwischen Schulschwänzen und Delinquenz ist in den Dunkelfeldstudien (Befragung von Neuntklässlern) wiederholt bestätigt: Die selbstberichtete Delinquenz massiver Schulschwänzer liegt in allen Deliktsbereichen drastisch höher als bei anderen Jugendlichen.

Längsschnittuntersuchungen (Campbell, 1991; Loeber, 1990) und Studien zur Rückfallwahrscheinlichkeit von Gewalttätern (Harrendorf, 2006) belegen, dass viele Lebensläufe delinquenter Jugendlicher schon in frühem Alter ein auffälliges abweichendes Verhalten aufweisen bzw. ein früher Einstieg in die Kriminalität die Rückfallquote deutlich erhöht.

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse sind die in der Fachkonferenz „Handeln gegen Jugendgewalt" vorgestellten Maßnahmen und Ansätze ausgewertet worden.

Zur Darstellung und Beschreibung sämtlicher Maßnahmen wurde ein Kriterienkatalog3) für die Qualitätsbeurteilung von interventiven und präventiven Angeboten weiterentwickelt. Die Kriterien ermöglichen eine formale Vergleichbarkeit der Maßnahmenbeschreibungen und können langfristig zu einer qualifizierten Beurteilung von entsprechenden Präventionsangeboten in Hamburg herangezogen werden. Einige besonders Erfolg versprechende Maßnahmen sind im April 2007 nach Abstimmung mit der Staatsräte-Lenkungsgruppe ausgewählt und in Arbeitsgruppen für ihre Umsetzung in Hamburg weiter untersucht und vorbereitet worden. Sie bilden den Ausgangspunkt für die operative Umsetzung des Handlungskonzepts.

4. Handlungsansätze

Die Prävention und die Bekämpfung von Jugendkriminalität und Jugendgewalt sollen sich in Hamburg künftig konsequent an den folgenden Handlungsansätzen ausrichten: Primäre Gewaltprävention

Es geht darum, dass Angebote, Hilfen und Unterstützung allen Kindern und Jugendlichen zu gute kommen, um eine erfolgreiche Sozialisation und somit nichtkriminelles Verhalten zu unterstützen.

Verbesserung der Aufmerksamkeit ­ Frühzeitigkeit

Es geht darum, die beteiligten Stellen und Institutionen dafür zu sensibilisieren, Merkmale sich verfestigenden delinquenten Verhaltens frühzeitig zu erkennen, ernst zu nehmen und ihm gezielt entgegenzuwirken.

Frühe und konsequente Intervention

Es geht darum, in einem möglichst frühen Lebensalter zu intervenieren, um der Verfestigung von gewalttätigem Verhalten nachhaltig entgegenzuwirken und kriminelle „Karrieren" zu vermeiden.

Ganzheitliche und nachhaltige Intervention

Es geht darum, nicht nur auf einzelne Vorfälle zu reagieren, sondern das gesamte familiäre und soziale Umfeld des/der Minderjährigen sowohl in der Analyse als auch in die auszuwählende Hilfe bzw. Sanktion mit einzubeziehen.

Das bedeutet auch, dass die beteiligten öffentlichen Stellen ihre Maßnahmen koordinieren müssen. Erforderlich ist hierfür ein Fallmanagement, das individuell passgenaue Angebote ausarbeitet.

Zügige und spürbare Sanktionen

Es geht darum, dass straf- und ordnungsrechtlich Sanktionen dem Fehlverhalten „auf dem Fuße folgen" und für die Täter spürbar sind. Die Auseinandersetzung des Tatverdächtigen mit der verübten Tat und ggf. mit dem Opfer (Täter-Opfer-Ausgleich, Wiedergutmachungsleistungen) ist zusätzlich von zentraler Bedeutung.

Verbesserung der überbehördlichen Kooperation (Vernetzung)

Es geht darum, dass Informationen über delinquente Kinder und Jugendliche aus den Lebensbereichen Familie, Schule und Freizeit zusammengetragen werden, um passgenaue Maßnahmen zu vereinbaren bzw. abgestimmte Sanktionen gegen delinquente Kinder und Jugendliche einzuleiten.

Kontinuierliche Überprüfung der Arbeit

Es geht darum, vorhandene Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu prüfen, sie ggf. zu ändern oder zu ersetzen und bei Bedarf weitere präventive Maßnahmen vorzuschlagen.

Bei allen Maßnahmen wurde der Blick auf besonders betroffene Zielgruppen bzw. gefährdete Kinder und Jugendliche gelegt. Sie bilden eine Teilmenge der Bevölkerung, deren Risikofaktoren für eine kriminelle und gewalttätige „Karriere" besonders hoch sind. Als Querschnittsaufgabe hinter sämtlichen Maßnahmen werden diese Risikofaktoren berücksichtigt und verfolgt, um ihnen entgegenzuwirken bzw. Unterstützung in der jeweiligen Problemlage anbieten zu können.

5. Priorisierte Maßnahmen

In einem ersten Schritt haben die beteiligten Behörden Maßnahmen identifiziert, bei denen Veränderungen erforderlich sind, und neue Maßnahmen beschrieben, die den genannten Handlungsansätzen entsprechen und in absehbarer Zeit realisierbar sind. Sie werden nachfolgend kurz vorgestellt.

Durchsetzung der Schulpflicht

Eine nachhaltige Verletzung der Schulpflicht ist in der Regel ein Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung. Schulpflichtverletzungen werden daher in einem gemeinsam von der BBS, der BSG und den Bezirksämtern entwickelten Verfahren bearbeitet. Die Unterstützung bzw. Amtshilfe durch die Polizei wird in spezifischen Vereinbarungen geregelt. Spezifizierte Meldeverfahren zur konsequenten Umsetzung der Richtlinie zur Schulpflichtverletzung und das zentrale Schülerregister schließen die in der bisherigen Praxis identifizierten Lücken. Es erfolgt eine obligatorische Einschaltung der Jugendämter (inkl. gemeinsamer Hilfeplanung), bei andauernden Ordnungswidrigkeiten erfolgt zeitnah ein Bußgeldverfahren.

Prävention gegen aggressives, dissoziales Verhalten im Kindesalter bis 14 Jahre („early-starter")

Eine frühzeitige Identifikation von Gefährdungslagen bei Kindern wird durch regionale, speziell qualifizierte Fachkräfte erreicht, die zielgruppenspezifische Hilfen und evaluierte Angebote für aggressive Kinder, Jugendliche und ihre Eltern (Multiproblemfamilien) vorhalten. Diese Maßnahme ist eine konzeptionelle Bündelung vielfältiger Strategien. Die Einstellung und Fortbildung spezieller Fachkräfte in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter der Bezirksämter mit dem Schwerpunkt Gewalt und die anschließende gemeinsame Qualifizierung der Fachkräfte entsprechender Einrichtungen in einer Region (ASD, REBUS, KITA, Schulen) stellen den ersten Schritt dieser Maßnahme dar. Die diagnostische Überprüfung der auffälligen Kinder und die Risikoeinschätzung von besonderen Gefährdungslagen werden als Grundlage für geeignete Unterstützungs- und Hilfsangebote herangezogen. Für delinquente Kinder und Multiproblemfamilien soll eine regionale, aber zielgruppenspezifische und standardisierte Angebotspalette vorgehalten werden. Die Unterstützungsleistungen umfassen evaluierte Trainings für Eltern, soziale Trainingskurse für Kinder und besondere einzelfallspezifische Maßnahmen. Ein Ratgeber als Informationsbroschüre für sozialpädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte, Erzieher/-innen und weitere Fachkräfte gibt einen Überblick über die Umsetzungsschritte und die vorzuhaltenden Programme und Maßnahmen.

Das Maßnahmenpaket „early-starter" soll flächendeckend in Hamburg umgesetzt werden. Begonnen wird in den Bezirksämtern Wandsbek, Hamburg-Mitte und Harburg.

Stärkung der Verbindlichkeit erzieherischer Maßnahmen in der Schule

Die Stärkung der Verbindlichkeit erzieherischer Maßnahmen soll über eine Zusammenstellung und Umsetzung möglicher und anwendbarer Auflagen und Interventionen erfolgen. Regelverletzungen, Übergriffe und Gewalthandlungen werden im schulischen Kontext über erzieherische und Ordnungsmaßnahmen geahndet (vgl. § 49 Hamburger Schulgesetz). Die Ordnungsmaßnahmen sind verbindlich geregelt (von Schulverweis bis Umschulung). Der Einsatz erzieherischer Maßnahmen ist entsprechend dem Einzelfall, der Schwere der Tat und der Fallkonstellation den pädagogischen Fachkräften überlassen. Eine Checkliste zum pädagogisch wirkungsvollen Umgang mit dem § 49 HmbSG verschafft Lehrkräften und Schulleitungen eine größere Handlungssicherheit, eine pädagogische Handreichung mit einer Übersicht von konkreten Maßnahmen, Praxisbeispielen, Ansprechpartnern und Umsetzungsvorschlägen ermöglicht vielfältiger, trotzdem verhältnismäßige, vergleichbarer, trotzdem zielgruppenspezifische Reaktionen auf Fehlverhalten, Straftaten und Gewalthandlungen im schulischen Kontext. Spezielle soziale Trainingskurse, Coolnessgruppen und verbindliche Auflagen für jugendliche Gewalttäter werden konzeptionell für den Kontext Schule weiterentwickelt und regional umgesetzt.

Verbindliche Richtlinie zur Anzeigepflicht an Schulen

Das Meldewesen bei Gewaltvorfällen an Schulen wird nach dem Berliner Modell aktualisiert und über eine neue Richtlinie umgesetzt. Die Meldung eines Gewaltvorfalls soll neben den schulbehördlichen Instanzen auch sofort die Polizei und das bezirkliche Jugendamt erreichen.

Damit werden Unterstützungsleistungen für die Opfer und die Zeugen beschleunigt und verbessert sowie sofortige Sanktionen für die Tatverdächtigen eingeleitet. Anzeigepflichtige Delikte und Straftaten werden im Anhang des neuen Meldebogens aufgelistet.

Verstärkung der Cop4U an Schulen

Die Cop4U sind Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die den Schulen im Rahmen der polizeilichen Zuständigkeiten als erste Ansprechpartner zur Verfügung stehen.

Die Stärkung der Cop4U-Tätigkeit soll die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Schule und Polizei zusätzlich intensivieren und es erleichtern, verbindlichere Regeln für eine Zusammenarbeit umzusetzen. Die Anzahl der zu betreuenden Schulen pro Cop4U wird durch die Verstärkung gesenkt. Die Stadtteile wurden über eine Analyse der Kriminalitätsbelastung ausgewählt.

Optimierung und Ausweitung des Präventionsunterrichts an Schulen

Die Polizei Hamburg leistet seit 25 Jahren Präventionsarbeit in Hamburger Schulen. Das Programm soll zukünftig verbindlich und flächendeckend für alle Schulen in den Klassenstufen 5-8 angeboten werden. Eine aktualisierte Rahmenvereinbarung zwischen der Polizei Hamburg und der BBS soll über spezifische Vereinbarungen zwischen den Schulen und der Polizei umgesetzt werden. Die Anwerbung, Ausbildung und Fortbildung der Präventionsbeamten wird über die Polizei und die Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut (LI) erfolgen, die Materialsammlung für die Präventionsunterrichte wird professionalisiert.