Die Demokratie des Grundgesetzes ist die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde Peter Häberle

Das Grundgesetz war als Demokratie, als Rechtsstaat und als Sozialstaat zur Zeit seiner Verabschiedung Programm und Angebot, aber noch keine gelebte Wirklichkeit. Wie ist dieses Angebot angenommen worden? Zu dieser Frage kann ich im Folgenden nur wenige Hinweise geben. Dabei konzentriere ich mich auf die Strukturelemente der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit. Den Schwerpunkt lege ich nicht auf die Betrachtung der Institutionen ­ Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat, Bundesverfassungsgericht, föderalistische Struktur und so weiter ­, sondern auf die Analyse der Funktionsvoraussetzungen von Demokratie und Sozialstaatlichkeit.

Die Demokratie des Grundgesetzes ist die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde, Peter Häberle. Sie organisiert die öffentliche Ordnung noch von einem als homogen gedachten Volk aus, sondern von den Bürgern, von der zivilen Bürgergesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt. Als aktive Bürgerrechte sind die Freiheitsrechte wesentliche Konstitutionsbedingungen der Demokratie. Als Grundrechte auf Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Parteienfreiheit greifen sie die Pluralität der Gesellschaft positiv auf und schützen ihre Offenheit, indem sie auch oppositionellen Minderheiten Artikulationsund Wirkungschancen geben.

Mit diesen Grundrechten gibt das Grundgesetz aber nur den Rahmen für einen offenen Diskurs in Gesellschaft und Politik. Die für eine lebendige Demokratie notwendigen gesellschaftlichen Voraussetzungen kann es nicht schaffen. Das Demokratiekonzept des Grundgesetzes setzt eine plurale, reich strukturierte mündige Zivilgesellschaft voraus, eine Zivilgesellschaft als Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Wirtschaft und Privatheit, eine Zivilgesellschaft als Bereich der öffentlichen Diskurse, Konflikte und Verständigungen.

Eine solche Zivilgesellschaft hat es in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, in der alte Nazis in Politik, Verwaltung, Rechtsprechung und Wirtschaft noch allgegenwärtig waren, nicht gegeben. Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen der frühen Bundesrepublik waren autoritär. Im politischen umschrieben. Damit soll der politische Stil der Adenauer-Ära, nicht die Politik des ersten Kanzlers der Bundesrepublik gekennzeichnet werden. Im gesellschaftlichen Bereich werden die autoritären Strukturen durch eine Fülle von Indizien belegt. Ich nenne nur einige besonders charakteristische Beispiele:

Das Gleichberechtigungsgebot des Artikels 3 Absatz 2 Grundgesetz Männer und Frauen sind gleichberechtigt wurde erst durch das Gleichberechtigungsgesetz vom 1. Juli 1958 umgesetzt, der weiter bestehende Stichentscheid des Vaters erst 1959 durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt.

Züchtigung an Schulen wurde erst 1973 bundesweit verboten; allgemein ­ also auch gegenüber den Eltern ­ wurde das Züchtigungsrecht erst 2000 durch eine Neufassung des Paragrafen 1631 Bürgerliches Gesetzbuch abgeschafft.

Menschen mit Behinderungen wurden aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt und in Heime abgeschoben. Heimerziehung war auch das Schicksal auffälliger oder elternloser Kinder und Jugendlicher.

Wie autoritär und menschenunwürdig es auch in Bremen in vielen Heimen zuging und das bis mindestens 1977 ­ ich habe das erschrocken zur Kenntnis genommen ­, das konnten wir vor kurzem in einem verdienstvollen Artikel im Weser-Kurier lesen.

Schließlich sei hingewiesen auf die heute gar nicht und auf die Strafbarkeit der Homosexualität, die zunächst in der von den Nationalsozialisten verschärften Form fortgalt und erst seit 1969 schrittweise auf einen allgemeinen Minderjährigenschutz zurückgeführt worden ist.

Erst seit etwa 1960 meldet sich in der Politik, in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Diskurs eine Generation zu Wort, die weltoffener und deshalb den deutschen Verhältnissen gegenüber kritischer mehr Demokratie und umfassende Reformen in Staat und Gesellschaft fordert. Einen nicht zu unterschätzenden Aufklärungsschub hat hier die Kulturrevolution der Achtundsechziger-Bewegung gebracht, die nicht mit ihren terroristischen Auswüchsen in eins gesetzt werden darf. Dieser Aufklärungsschub hat nicht nur den Muff aus akademischen Talaren vertrieben, sondern frischen Wind in die verkrustete bundesrepublikanische Gesellschaft gebracht, mit überholten Vorurteilen aufgeräumt und nicht zuletzt das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer ökologischen und nachhaltigen Politik geweckt.

(Beifall) Erst allmählich sind zivilgesellschaftliche Strukturen entstanden, ohne die die demokratischen Institutionen des Grundgesetzes formale Hüllen bleiben, zivilgesellschaftliche Strukturen, die durch Vereine, soziale Bewegungen, Nicht-Regierungs-Organisationen, Bürgerinitiativen und eine Vielzahl bürgerschaftlicher Ehrenämter gekennzeichnet sind, zivilgesellschaftliche Strukturen, wie sie die lebendige Stadtgesellschaft unserer Freien Hansestadt auszeichnen.

Der Entfaltungsraum einer offenen und kritischen Zivilgesellschaft ist die Öffentlichkeit. Es ist ein besonderes Verdienst des Bundesverfassungsgerichts, dass es in seiner Rechtsprechung zur Meinungs-, Demonstrations- und Medienfreiheit die öffentliche Dimension der Freiheitsrechte hervorgehoben und gegen alle Anfeindungen aus dem Lager der Freunde eines starken Staates und gegen zunehmende Kommerzialisierungstendenzen verteidigt hat. Aber die Bürgergesellschaft bedarf nicht nur der der Privatheit. Es gehört zu den geschichtlichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts, dass totale Öffentlichkeit die Freiheit auslöscht. Die Gefahr einer Totalisierung der Öffentlichkeit besteht nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Demokratien; sie ist subtil und schleichend und beginnt mit einer Aushöhlung der Privatheit. Als Stichworte seien hier nur genannt: die Gefährdung der Privat- und Geheimsphäre durch extensive Datenerhebung und Datenspeicherung ­ sei sie staatlich, sei sie privat ­ und die Perversion der Öffentlichkeit des öffentlichen Raums durch eine exzessive Videoüberwachung. Das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungsurteil eindringlich auf die Gefahren hingewiesen, die eine solche Enteignung des Privaten nicht nur für die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen, sondern auch für den demokratischen Prozess mit sich bringt. Es hat in neueren Entscheidungen diese Rechtsprechung in Bezug auf die Gefährdungen aktualisiert, die durch den Fortschritt der Technologien drohen.

Die Bürgergesellschaft ist eine weltoffene Gesellschaft. Sie wertet die Begegnung mit anderen Kulturen als Bereicherung und sollte sich nicht durch zu hohe Hürden gegenüber Asylsuchenden abschirmen

­ dies nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen Deutscher während der Nazidiktatur. Fremdenfeindlichkeit ist für eine offene Zivilgesellschaft inakzeptabel.

Ihr sollte allerdings nicht nur mit dem scharfen Schwert des Strafrechts begegnet, sondern vor allem durch Aufklärung über die Vielfalt der Religionen, Weltanschauungen und Kulturen begegnet werden.

Der Bildung in Schulen und Hochschulen kommt hier eine herausragende Funktion zu. Die in Berlin geführte Diskussion über den Ethikunterricht könnte Anlass zu einer Prüfung sein, ob Lehrpläne und Praxis in den Schulen hier wirklich auf der Höhe der Zeit sind.

Eine mündige Zivilgesellschaft sollte sich auch im politischen Prozess unmittelbar artikulieren können.

Deshalb sollte die Ängstlichkeit gegenüber den Instrumenten der direkten Demokratie überwunden werden. Angst vor dem Volk hatte schon der Parlamentarischen Rat. Die 1947 und damit vor dem Grundgesetz verabschiedete Bremische Verfassung war hier viel offener und hätte dem Parlamentarischen Rat als Vorbild dienen können. Angst vor dem Volk hat auch nach der Wiedervereinigung eine Volksabstimmung über die nun gesamtdeutsche Verfassung verhindert.

Es ist vor allem basisdemokratischen Initiativen zu verdanken, dass in den letzten 20 Jahren die direkte Demokratie gestärkt worden ist. Doch werden Volksbegehren und Volksentscheide nur dann der zunehmenden Politikmüdigkeit entgegenwirken können, wie sie sich in einer besorgniserregenden Abnahme der Wahlbeteiligung äußert, wenn ihre Effektivität nicht durch zu hohe Quoren und einen zu rigiden Finanzvorbehalt eingeschränkt ist. Es fördert die Politikverdrossenheit, wenn erfolgreiche Volksbegehren wegen schon geringer finanzieller Auswirkungen von den Verfassungsgerichten für verfassungswidrig erklärt werden müssen oder wenn die Ergebnisse von Volksbegehren oder Volksentscheiden wegen politischer Unliebsamkeit nach kurzer Zeit von den Parlamenten kassiert werden.

Meine Damen und Herren, die vom Grundgesetz verfasste Gesellschaft ist nicht nur Zivilgesellschaft, sie ist auch Marktgesellschaft. Bürgerlicher Staat und Eigentümermarktgesellschaft stehen in einem historischen und funktionalen Bedingungsverhältnis. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte These von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes gilt nur im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Eigentumsgarantie des Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes betrifft nicht nur die Idylle des kleinen Reihenhauses mit Vorgarten, sie gewährleistet vor allem das Eigentum an Produktionsmitteln des Artikels 2 und der Berufsfreiheit des Artikels 12 des Grundgesetzes die verfassungsrechtliche Grundlage einer kapitalistischen Marktwirtschaft.

Die Marktgesellschaft ist Konkurrenzgesellschaft und ist als solche von Hobbes mit der Formel Kampf aller gegen alle treffend beschrieben worden. Ihr einziger immanenter Sinn ist Profit. Der profitorientierte Konkurrenzmechanismus ist es, der die Effizienz und überlegene Innovationskraft des Marktes begründet: Wer nicht profitabel wirtschaftet, geht unter, mag er auch noch so hehre Sachziele angestrebt haben, diese Kernthese der Marktwirtschaft scheint zurzeit allerdings nur für Verluste unterhalb einer zweistelligen Milliardengrenze zu gelten. Die Überlegenheit der Marktwirtschaft über jede Form der Planwirtschaft haben wir im Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus sehr drastisch erlebt.

Aber die Vorteile des Marktes haben ihre Kosten.

Der Markt als solcher kennt keine Ethik und kein Gemeinwohl. Das war den Wirtschaftstheoretikern der sozialen Marktwirtschaft durchaus bewusst, ich nenne nur Alfred Müller-Armack als einen ihrer Väter, und das war auch den Müttern und Vätern des Grundgesetzes bewusst. Deshalb fügten sie dem Absatz 1 des Artikels 14 einen Absatz 2 hinzu, in dem es heißt: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Dieses soll umzusetzen, kann nicht dem Markt allein überlassen werden, dazu bedarf es einer staatlichen Rahmenordnung. Diese ist uns als Wettbewerbsrecht geläufig. Um eine solche Rahmenordnung wird zurzeit für die internationalen Finanzmärkte gerungen.

Doch kann sich der demokratische Verfassungsstaat nicht auf diese Funktion des Wettbewerbshüters beschränken, weil der ökonomische Wettbewerb von den in der Gesellschaft vorhandenen sozialen Ungleichheiten ausgeht und diese in seinen Ergebnissen zum Teil erheblich verstärkt. Die gewaltige Schere, darauf hat der Präsident schon hingewiesen, die sich auch in der Bundesrepublik zwischen Armen und Reichen immer weiter öffnet, ist ein drastischer Beleg für diese Negativwirkung des Marktes.

Nach der Staatsfundamentalnorm des Artikels 20 Absatz 1 des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Weitere ausdrückliche Ausformungen hat das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz nicht erhalten.

Das Grundgesetz teilt damit ein strukturelles Defizit des westlichen Verfassungsstaates, der für Demokratie und Rechtsstaat wirksame und bewährte Institutionen vorhält, sozialstaatliche Institutionen aber nicht entwickelt hat. An dieser Stelle sind die auch in der Bürgerschaftsdebatte am 20. Mai 1949 gegebenen Hinweise auf eine soziale Unterbilanz des Grundgesetzes berechtigt.

Die nur zwei Jahre ältere Bremische Verfassung war zum Thema Arbeit und Wirtschaft weit gehaltvoller. Ich hebe nur die Garantie der gleichberechtigten Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Verwaltung und Wirtschaft hervor sowie das Gebot, dass bei gleicher Arbeit Jugendliche und Frauen Anspruch auf den gleichen Lohn wie Männer haben. Und ich muss aus dem Artikel 42 zitieren, weil dieser sich wie ein Beitrag zur Banken-, Schaeffler- und Opel-Krise liest; er lautet: Durch Gesetz können in Gemeineigentum überführt werden: Unternehmen, die volkswirtschaftlich notwendig sind, aber nur durch laufende staatliche Kredite, Subventionen oder Garantien bestehen können.

Auch das Sozialstaatsprinzip ist eine Konsequenz des Menschenwürdegebots. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet es den Staat zu sozialer Gerechtigkeit. Es ist in besonderem Maße auf einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten ausgerichtet und dient zuvörderst, so das Bundesverfassungsgericht, der Erhaltung und Sicherheit der menschlichen Würde. Die sich aus dem Sozialstaatsgebot ergebende Sozialpflichtigkeit des Staates bedeutet nicht nur die Verpflichtung zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz in Notlagen und zur Sicherung gegen Lebensrisiken. Der Sozialstaat ist nicht nur Sozialhilfestaat; Aufgabe sozialstaatlicher Politik ist ­ und dies in zunehmender Weise ­ die Sicherung der sozialen Infrastrukturleistungen; das betrifft nicht nur die unverzichtbare kommunale Daseinsvorsorge, sondern auch und vor allem eine soziale Bildungspolitik, mit der über die Verteilung von Lebenschancen entschieden wird.

Seit Beginn der Achtzigerjahre gerät der Sozialstaat und mit ihm die kommunale Daseinsvorsorge unter den Schlagworten der Deregulierung und Privatisierung unter externen und internen Wettbewerbsdruck. Die Kommunen antworten auf diese Herausforderung einerseits mit einer Modernisierung ihrer Leistungsorganisation, andererseits in nicht unerheblichem Umfang mit materiellen Privatisierungen. Sie tun das in der Hoffnung, auf diese Weise ihrer Finanznot abzuhelfen oder diese doch zu mindern; zugleich folgen sie damit aber auch einem neoliberalen Trend, der die grundsätzliche Überlegenheit des Marktes über die Politik suggeriert. Dabei wird häufig nur auf den erwarteten ökonomischen Flexibilitätsgewinn abgestellt, das damit verbundene Strukturproblem jedoch nicht beachtet. Eine einseitig ökonomisch motivierte Privatisierungspraxis bewirkt aber eine Veränderung der sozialstaatlichen Verfassungsstruktur, weil dem öffentlichen Verfassungsprozess auf diese Weise das Substrat entzogen wird: Es besteht die Gefahr einer Erosion des Öffentlichen, einer Ausdünnung der demokratischen und sozialstaatlichen Legitimations- und Verantwortungsstrukturen.

Gegenüber solchen einseitig ökonomischen, vor allem betriebswirtschaftlichen Tendenzen bedarf es einer Neubestimmung des Verhältnisses von Markt und Politik. Diese muss von der Prämisse ausgehen, dass Staat und Kommune in ihrer demokratischen und sozialstaatlichen Form gesellschaftliche Errungenschaften sind, um in solidarischer und kooperativer Weise kollektive Aufgaben bearbeiten zu können, mit deren Lösung Einzelne und Gruppen im sind. Solidarität und Gemeinwohl sind keine Nebenprodukte des Marktes, sondern haben einen humanitären Eigenwert. Die kommunale Daseinsvorsorge ist kein altfränkisches Relikt, sondern ein notwendiges Element einer sozialstaatlichen Verfassungsordnung, in der Marktkonkurrenz durch Solidarität und Marktfreiheit durch politische Gemeinwohlverantwortung moderiert und ergänzt werden.

Die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses von Markt und Politik und einer angemessenen Ortsbestimmung für sozialstaatliche Gemeinwohlverantwortung besteht insbesondere für das europäische Gemeinschaftsrecht. Die Europäische Union befindet sich in einem Transformationsprozess von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer wirtschaftlichen und politischen Union. Da sie nicht mehr nur Gemeinsamer Markt ist, können auch staatliche und kommunale Daseinsvorsorge nicht ausschließlich unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten beurteilt werden; vielmehr sollte ein demokratisch verfasster öffentlicher Sektor einen eigenständigen Stellenwert als Alternative zum privaten Markt- und Wettbewerbssektor erhalten. Mit dem Ausbau der sozialen Dimension der Europäischen Union im Vertrag von Lissabon könnte sich das Gemeinschaftsrecht auf einen guten Weg begeben haben.

Die neoliberale Forderung nach Reduzierung der sozialstaatlichen Politik auf die Rolle des Rahmensetzers und Wettbewerbshüters hat in den Neunzigerjahren unter dem Stichwort der Globalisierung an Intensität gewonnen. Globalisierung ist zunächst ein deskriptiver Begriff. Er deutet auf einen den gesamten Erdball umfassenden Prozess der Entwicklung zu einer Weltgesellschaft hin ­ einen Prozess, der vor allem auf der Beschleunigung der Kommunikation durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie auf der Deregulierung und Öffnung nationaler Güter- und Finanzmärkte beruht.

Eine für den Sozialstaat bedrohliche Bedeutung gewinnt Globalisierung erst, wenn sie als Sieg der Märkte über die Politik interpretiert wird. Sozialstaatlichkeit ist dann nur noch ein Standortrisiko, das die internationale Konkurrenzfähigkeit gefährdet.

Aber, meine Damen und Herren, Globalisierung ist kein Sachzwang. Sie ist kein Naturereignis, sie ist allerdings in der Finanzkrise über uns gekommen wie ein Naturereignis. Die Globalisierung ist nicht zwingende Folge der Gesetze von Technik und Ökonomie, sondern ein politisches Projekt. Sie beruht vor allem auf wirtschafts-, währungs- und finanzpolitischen Entscheidungen der wirtschaftsstarken Industriestaaten, mit denen die Weichen für eine Liberalisierung der Finanzmärkte und eine Deregulierung der Arbeitsmärkte gestellt worden sind. Es ist notwendig, dem ökonomisch verengten Globalisierungsbegriff ein weiteres und offeneres Verständnis einer Weltgesellschaft entgegenzusetzen, in der es nicht nur um den weltweiten Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital geht, sondern auch um eine weltweite Kommunikation unterschiedlicher politischer Kulturen und eigengeprägter Rechts- und Verfassungskulturen. Nicht also um einen Rückfall in nationalstaatliche Enge geht es, sondern um die Vision einer pluralistischen Weltkultur, in der nicht Einheit, sondern Vielfalt die Grundlage einer globalen Öffentlichkeit ist. ­ Ich danke Ihnen!

(Beifall) Präsident Weber: Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bedanke mich noch einmal ganz herzlich bei den Schülerinnen und Schülern der Herzlichen Dank!

(Beifall) Herzlichen Dank an den Präsidenten des Senats, Herrn Bürgermeister Böhrnsen!

(Beifall) Herzlichen Dank an den Präsidenten des Staatsgerichtshofs, Herrn Prof. Dr. Rinken!

(Beifall)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich lade Sie jetzt noch herzlich ein zu einem kleinen Umtrunk im Festsaal. Die Besucher auf den Tribünen werden durch die Mittelhalle wieder in den Festsaal herunter geleitet. Sie haben dann auch noch die Gelegenheit, bei unsere wunderbare Ausstellung 60 Jahre Pressefotografie des Staates Israel zu betrachten. Die Broschüre, die jetzt erstellt wird, über das, was heute zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes gesagt worden ist, wird Ihnen in Kürze zugehen.

Ich bedanke mich recht herzlich und schließe die Sitzung.