So hatten die Gefangenenzahlen Ende 1999 einen seit mehr als 30 Jahren nicht mehr beobachteten Hochstand erreicht
1. Ausgangssituation
Die Verhältnisse im Strafvollzug werden durch die Bevölkerungsentwicklung, durch Migrationsbewegungen, politische Entscheidungen, volkswirtschaftliche Veränderungen sowie die Strafrechts- und Kriminalitätsentwicklung beeinflusst. Die Auswirkungen derartiger Einflüsse insbesondere auf die Belegungssituation in den Hamburger Vollzugsanstalten haben in den vergangenen 10 Jahren wiederholt Veranlassung gegeben, Entscheidungen zur organisatorischen und baulichen Zukunft des Strafvollzuges in Hamburg zu treffen.
So hatten die Gefangenenzahlen Ende 1999 einen seit mehr als 30 Jahren nicht mehr beobachteten Hochstand erreicht. Angesichts des daraus resultierenden gestiegenen Bedarfs an Haftplätzen insbesondere im geschlossenen Vollzug beauftragte der Senat die Justizbehörde im Jahr 2000 mit der Planung einer neuen Justizvollzugsanstalt mit 350 Haftplätzen auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hahnöfersand, die zugleich den Haftplatzbedarf zum Abbau der seinerzeit im geschlossenen Männervollzug noch vorhandenen Saalunterbringung der Gefangenen in einer Größenordnung von ca. 65 Haftplätzen berücksichtigen sollte. Gleichzeitig begann der Senat mit der planerisch bereits in der 13. und 14. Legislaturperiode (Drucksachen 13/6048 und 14/3875) angelegten Verlagerung der auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme gelegenen Anstalt des offenen Vollzuges (JVA Vierlande Anstalt XII) auf das Gelände der heutigen JVA Billwerder. Diese zunächst als offene Anstalt mit 382 Haftplätzen geplante JVA ersetzte schließlich auf Grund von strukturellen Umplanungen des Senates im Jahr 2002 den geplanten Bau auf Hahnöfersand und wurde zur heutigen geschlossenen Anstalt mit 803 Haftplätzen ausgebaut. Die Haftanstalt bietet nunmehr die Möglichkeit, eine der JVA Fuhlsbüttel vergleichbare Gefangenenklientel aufzunehmen und konzeptionell eine größtmögliche Differenzierung der verschiedenen Gefangenengruppen des geschlossenen Vollzuges bei einem Höchstmaß an Sicherheit durchzuführen.
Der Planungsauftrag zum Neubau einer weiteren Anstalt des geschlossenen Männervollzuges ging von einer Steigerung der Gefangenenzahlen im Männervollzug bis 2004 von jährlich 1 % aus. Diese Annahme lag unter der jährlichen durchschnittlichen Steigerungsrate von 1,74% während des Zeitraums von 1990 bis 1999. Insgesamt und unter Berücksichtigung weiterer Faktoren, die den steigenden Bedarf begründeten (besonders hohe Spitzenbelegungen, Dispositionsreserve), wurde ein Haftplatzbedarf von 3268
Haftplätzen prognostiziert, dem ein Haftplatzbestand von ca. 2711 Haftplätzen gegenüber stand. Die Lücke von 557
Haftplätzen sollte mit der neuen geschlossenen Anstalt „auf ein vertretbares Maß zurückgeführt" werden.
Im Anschluss an diese auf der Grundlage der bis 1999 verfügbaren Zahlen erstellte Prognose entwickelten die Belegungszahlen sich zunächst bis 2002 wie folgt (Jahresdurchschnittsbelegung einschließlich Urlauber und vorübergehend Abwesende):
Dem Rückgang der Durchschnittsbelegung im Jahr 2000 und in der ersten Hälfte des Jahres 2001 folgte im Herbst 2001 und im ersten Quartal 2002 ein erneuter Anstieg. Am
1. April 2002 waren die Anstalten mit 3052 Gefangenen belegt. Die Durchschnittsbelegung war von Januar bis März 2002 um 246 Gefangene gestiegen. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstandes, dass die angestellte Prognose von einer niedrigeren Steigerungsrate ausging, als im Zeitraum 1990 bis 1999 zu beobachten war (1 % statt 1,74 %), wurde im Mai 2002 nunmehr eine Steigerungsrate von 7 % im Jahr 2002 (tatsächlich plus 9 % im
1. Quartal 2002) und in der Folgezeit von 5 % bis 2004 angenommen. Ausgehend von der Belegung am 1. April 2002 ergab sich daraus eine hochgerechnete Durchschnittsbelegung mit rund 3600 Gefangenen in 2004 (vgl. Drucksache 17/802), das sind 332 Haftplätze mehr als im Jahr 2000 errechnet.
Entgegen der angenommenen Steigerung entwickelten die Belegungszahlen sich seit 2002 jedoch wie folgt (Jahresdurchschnittsbelegung einschließlich Urlauber und vorübergehend Abwesende):
Nach einem weiteren Anstieg in 2003 fielen die Zahlen in 2004 auf das Niveau des Jahres 2001 zurück. Die prognostizierte Durchschnittsbelegung mit rund 3600 Gefangenen wurde in 2004 um durchschnittlich 719 Gefangene unterschritten. In den Folgejahren sanken die Belegungszahlen weiter, bis schließlich in 2008 eine rechnerische Lücke von 1571 Gefangenen zwischen der in 2002 hochgerechneten und seither eingetretenen Belegung erreicht wurde. Die Differenz zu der bis Anfang 2009 festgesetzten Belegungsfähigkeit in Höhe von 3189 Haftplätzen betrug in 2008 durchschnittlich 1160 freie Haftplätze. Am 22. Juli 2009
(Stichtag) waren die Hamburger Vollzugsanstalten bei einer inzwischen festgesetzten Belegungsfähigkeit von 2850 Haftplätzen mit 1927 Gefangenen belegt, d. h., 923
Haftplätze waren nicht belegt.
Ein Vergleich mit der auf Bundesebene geführten Statistik (tatsächlich anwesende Gefangene ohne Urlauber und vorübergehend Abwesende) zeigt, dass die Gefangenenzahlen seit 2003 bundesweit einem sinkenden Trend gefolgt sind, dieser Trend in Hamburg allerdings stärker ausgeprägt ist:
Während die jeweils am 31. März des laufenden Jahres erhobenen Zahlen dieser Übersicht im Bundesgebiet insgesamt von 78078 Gefangenen im Jahr 2003 um ca. 8,2 % auf bisher 71669 im Jahr 2009 zurückgegangen sind, sind sie in Hamburg im selben Zeitraum von 3098 Gefangenen auf 1923 Gefangene gesunken, das entspricht ca. 37,9 %.
Im November 2008 legte die Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden (KrimZ) den Abschlussbericht einer im Auftrag der Justizbehörde durchgeführten Untersuchung zur Entwicklung der Strafgefangenenzahlen in Hamburg vor. Prognosegutachten mit einem vergleichbaren wissenschaftlichen Konzept sind in Deutschland mit Ausnahme einer entsprechenden Untersuchung der KrimZ in Hessen im Jahre 2007 bisher nicht erstellt worden. Die KrimZ ist gegenwärtig damit befasst, die für die angestellten Untersuchungen entwickelten rechnerischen Prognoseinstrumente im Auftrag der Justizbehörde weiter zu differenzieren und zu verfeinern. Die Untersuchung erfasste die erwachsenen männlichen Strafgefangenen und kam zu dem Ergebnis, dass die Zahl dieser Strafgefangenen sich bei vergleichbaren Rahmenbedingungen (u. a. wirtschaftliche Lage, kein Bürgerkrieg in einem europäischen Land) in den Jahren bis 2013 stabil auf dem derzeitigen Niveau bewegen wird.
Es wird deutlich, dass die Entwicklung der Gefangenenzahlen seit 2003 sowie die Prognose der KrimZ, nach der mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls in den kommenden fünf Jahren nicht mit einem signifikanten Anstieg der maßgeblichen Gefangenenzahlen zu rechnen sein wird, angesichts der Auswirkungen dieser Entwicklung auf ein bedarfsgerechtes Ressourcenmanagement einen erneuten Anpassungsprozess erforderlich machen.
2. Haftplatzbedarfe und veränderte vollzugliche Anforderungen
Der Rechnungshof hat sich in seinem Jahresbericht 2009
(Tzn. 406 bis 409) zu den Personal- und Haftplatzkapazitäten kritisch geäußert und Maßnahmen zur Anpassung an die Entwicklung der Gefangenenzahlen gefordert. Die Bemessung des künftigen Haftplatzbedarfs ist abhängig von Überlegungen zur konzeptionellen, organisatorischen und baulichen Zukunft des Hamburger Vollzuges. Folgende Prioritäten sind dabei zu berücksichtigen:
Weiterentwicklung des offenen Vollzuges, insbesondere
· Abkehr von der Gemeinschaftsunterbringung und den damit verbundenen vollzuglichen Nachteilen, insbesondere den Gefahren für Gefangene und Bedienstete, durch vollständigen Abbau der Gemeinschaftshafträume mit bis zu acht Haftplätzen und Einrichtung von Einzelhaftplätzen,
· stärkere Einbeziehung der Möglichkeiten des offenen Vollzuges in eine intensivierte frühzeitige und umfassende Entlassungsvorbereitung,
Schaffung angemessener Unterbringungsmöglichkeiten in den Anstalten des geschlossenen Vollzuges durch wirtschaftlich sinnvolle Sanierungsmaßnahmen.
Veränderte vollzugliche Anforderungen Anstalten des offenen Vollzuges sehen im Gegensatz zu Anstalten des geschlossenen Vollzuges, in denen die Gefangenen sicher untergebracht werden sollen, keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vor. Die für den geschlossenen Vollzug typischen äußeren Sicherheitsvorkehrungen wie Mauern mit Alarmanlagen, Sicherheitszäune mit Alarmanlagen, Sicherheitstüren- und Schleusen, vergitterte Fenster etc. finden sich in Anstalten des offenen Vollzuges nicht. Auch Anstalten des offenen Vollzuges haben aber der Gefahr von Entweichungen entgegenzuwirken. Neben einer sorgfältigen Eignungsbeurteilung im Einzelfall geschieht dies auf organisatorischer und konzeptioneller Ebene durch z. B. klare Regelungen zum Umfang interner Aufsicht und durch bauliche Vorkehrungen, die zwar nicht denen des geschlossenen Vollzuges entsprechen, aber dennoch geeignet sind, die Haltefähigkeit der Anstalt zu erhöhen. Hierzu zählen z. B. geeignete Umwehrungszäune, die nicht ohne weiteres zu überwinden sind.
In den 90er Jahren wurde der damaligen Überbelegung der geschlossenen Anstalten des Männervollzuges durch eine stärkere Belegung des offenen Vollzuges entgegengewirkt.
Die Belegungszahlen nahmen insbesondere in der Zeit von 1991 bis 1996 stark zu. In der Folge erhöhte sich aber auch die Zahl der Entweichungen und der Nichtrückkehrer aus Ausgang und Urlaub deutlich. Die Missbrauchszahlen wurden zwar mit baulichen und administrativen Maßnahmen verringert. Die seinerzeitigen Erfahrungen zeigen aber, dass eine Nutzung des offenen Vollzuges auch für solche Gefangenen, deren Eignung für diese Unterbringung nach sorgfältiger Prüfung in den dafür vorgesehen Verfahren zwar bejaht wird, aber erst unter den Bedingungen des offenen Vollzuges erprobt werden soll, nur vertretbar ist, wenn der offene Vollzug stärker gesichert wird, als dies heute der Fall ist. Insbesondere die Zulassung zum Freigang ist stets von einem verlässlichen Umgang mit Vollzugslockerungen abhängig, der im Regelfall nur in einer Anstalt des offenen Vollzuges erprobt werden kann. Nicht zuletzt ist es erforderlich, auch Gefangene nach langen Aufenthalten im geschlossenen Vollzug mittel- und langfristig auf die nahende Entlassung vorzubereiten.
Weiterentwicklung des offenen Vollzuges
Abbau der gemeinschaftlichen Unterbringung
Im November 2006 wurde ein Gefangener des geschlossenen Jugendvollzuges in Nordrhein-Westfalen durch Mitgefangene in einem Gemeinschaftshaftraum misshandelt und getötet. Ebenfalls in Nordrhein-Westfalen sollen zwei Gefangene im März 2008 zwei andere Gefangene, die mit ihnen in einem Gemeinschaftshaftraum untergebracht waren, fortgesetzt geschlagen, sexuell genötigt und zur Selbsttötung gedrängt haben. Im Mai 2008 sollen im sächsischen Jugendvollzug zwei zur Tatzeit 15 und 24 Jahre alte Gefangene ihren Mitgefangenen, der mit ihnen gemeinsam untergebracht war, misshandelt und zur Selbsttötung gedrängt haben.
Die genannten Ereignisse zeigen, dass die Unterbringung in Gemeinschaftshafträumen nicht zu vertreten ist, es sei denn, es liegt eine besondere Situation vor, in der die gemeinsame Unterbringung dazu beitragen kann, hilfsbedürftige Gefangene zu unterstützen oder einer Gefahr für Leben oder Gesundheit eines Gefangenen zu begegnen, z. B. im Falle einer Suizidgefahr. Grundsätzlich gehen von gemeinschaftlichen Unterbringungen nicht hinnehmbare Gefahren für die Sicherheit sowohl der betroffenen Gefangenen als auch der Bediensteten aus. Im offenen Vollzug werden diese Gefahren zwar durch eine sorgfältige Eignungsprüfung der dort untergebrachten Gefangenen gemindert. Gleichwohl ist der Abbau der Gemeinschaftsunterkünfte auch im offenen Vollzug unbedingte Voraussetzung für einen behandlungsorientierten und resozialisierungsfördernden Umgang mit Strafgefangenen. Die Unterbringung von Strafgefangenen in Gemeinschaftsunterkünften entspricht weder im geschlossenen noch im offenen Vollzug den Vorgaben des Hamburgischen Strafvollzugsgesetzes (HmbStVollzG), das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich anzugleichen und schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken (§ 3 Absatz 1 HmbStVollzG). Nach dem Willen des Gesetzes ist deshalb die gemeinsame Unterbringung im geschlossenen Vollzug bis auf die genannten Ausnahmen nicht zulässig. Im offenen Vollzug ist sie nur deshalb auch als Standardunterbringung zulässig, weil die räumlichen Verhältnisse dies noch erfordern (§ 20 HmbStVollzG).
Entlassungsvorbereitung und Optimierung der Resozialisierung
Das Ziel einer erfolgreichen Wiedereingliederung durch Vermeidung von Rückfällen in Straffälligkeit bei gleichzeitigem Schutz der Bevölkerung vor Straftäterinnen und Straftätern entspricht dem gesetzlichen und gesellschaftlichen Auftrag des Staates. Es ist anerkannt, dass resozialisierende Maßnahmen nur bei einer Kontinuität in der Betreuung über die verschiedenen justiziellen Verfahrensabschnitte hinweg strukturell erfolgreich gestaltet werden können. Für den Stadtstaat Hamburg bedeutet dies, dass die besonderen Möglichkeiten des regionalen Nahraums und der kurzen Wege besser als bisher genutzt und ausgebaut werden sollten, um so das Gesamtsystem der ambulanten und stationären Resozialisierung zu optimieren und seine Effektivität und Effizienz zu steigern.
Der Präses der Justizbehörde hat eine Fachkommission zur „Optimierung der Resozialisierung in Hamburg", die am 25. März 2009 ihre Arbeit aufgenommen hat, damit beauftragt, zunächst eine Bestandsaufnahme der rechtlichen, konzeptionellen, organisatorischen, personellen und finanziellen Rahmenbedingungen für alle in diesem Feld tätigen Organisationen zu erstellen. Die Bestandsaufnahme hat die Fragen der Effektivität und Effizienz der bisherigen Kooperationsstrukturen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sind praxistaugliche Vorschläge und Empfehlungen für eine kurz-, mittel- und langfristige Optimierung der Rahmenbedingungen zu entwickeln. Die Ergebnisse vergleichbarer Entwicklungen in anderen Bundesländern sind einzubeziehen.
In diesem Zusammenhang erlangt die verstärkte Einbindung des offenen Vollzuges insbesondere in mittel- und langfristige entlassungsvorbereitende Maßnahmen eine besondere Bedeutung.