Verstärkter Einsatz von Einwegspritzenautomaten in den Hamburger Haftanstalten

Die Justizbehörde hat nach Auswertung eines Pilotprojektes in der JVA Vierlande mitgeteilt, drogenabhängigen Häftlingen in den Hamburger Haftanstalten verstärkt die Möglichkeit zu geben, Einwegspritzen aus Automaten zu ziehen.

Eine begleitende Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen kommt zu dem Ergebnis, dass die Akzeptanz des Projektes bei den Strafvollzugsbediensteten noch immer gering ist.

Das Hamburger Institut für Rechtsmedizin konnte den gewünschten Rückgang von HIV- und Hepatitis-Infektionen wissenschaftlich nicht nachweisen.

In der offenen Justizvollzugsanstalt Vierlande wird seit Juni 1996 ein Pilotprojekt zum Tausch steriler Einwegspritzen durchgeführt, um bei Gefangenen mit einer Suchtproblematik Gesundheitsrisiken durch die gemeinsame Nutzung von Spritzen („Needle-sharing") zu vermeiden. Das Projekt wurde durch das Institut für Rechtsmedizin im Universitäts-Krankenhaus Eppendorf und das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. wissenschaftlich begleitet. In einer Begleitstudie hat das Institut für Rechtsmedizin die Verbreitung von HIV- und Hepatitis-Infektionen im geschlossenen Vollzug der JVA Suhrenkamp und der JVA Am Hasenberge untersucht.

Nach Auswertung der Abschlußberichte hat die zuständige Behörde entschieden, das Spritzentauschprojekt in der offenen Justizvollzugsanstalt Vierlande weiterzuführen. Darüber hinaus bereitet sie die Einführung des Spritzentauschs in Anstalten des geschlossenen Vollzuges vor.

Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt.

1. Wann lagen die Gutachten vor, und wann wurden sie veröffentlicht? Warum war die Zeitspanne so groß?

Die Abschlußberichte des Instituts für Rechtsmedizin lagen am 31. August 1998 vor. Der Abschlußbericht des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. wurde der Justizbehörde Mitte November 1998 zugesandt. Die komplexen Fragestellungen erforderten eine besonders sorgfältige Auswertung, die während der Monate November und Dezember 1998 erfolgte und am 6. Januar 1999 behördenintern erörtert wurde. Darüber hinaus wurden die Ergebnisse der Forschungsgruppen am 23. Februar 1999 in einem mehrstündigen Sachverständigengespräch vergleichend erörtert, um praxisrelevante Entscheidungen zusätzlich wissenschaftlich zu fundieren. Über dieses Kolloquium wurde ein gemeinsames Protokoll errichtet, das bis zum April 1999 von allen Gesprächsteilnehmern unterzeichnet wurde.

Die Abschlußberichte werden von den Forschungsinstituten veröffentlicht; die Freigabe ist erfolgt.

2. In welchen weiteren Hamburger Haftanstalten sollen künftig die Spritzen ausgeteilt werden?

Derzeit prüft die zuständige Behörde, in welchen Anstalten des geschlossenen Vollzuges der Spritzentausch eingeführt wird.Eine Arbeitsgruppe erarbeitet hierzu und zur Frage derVergabemodalitätenVorschläge. Darüber hinaus wird die Teilanstalt für Frauen in der Jugend- und Frauenvollzugsanstalt Hahnöfersand einen Vorschlag unterbreiten, wie eine Verbesserung der Gesundheitsprophylaxe durch Spritzentausch bei drogenabhängigen Frauen durchgeführt werden kann.

2. a) Soll dies niedrigschwellig (aus Automaten) oder hochschwellig (durch Personal) geschehen?

Eine Entscheidung über Vergabemodalitäten ist noch nicht gefallen.

3. Trifft es zu, dass das Projekt bei den Strafvollzugsbediensteten auf Akzeptanzprobleme stößt? Wenn ja: Welche inhaltlichen Vorbehalte werden von den Bediensteten geäußert, und wie trägt der Senat diesen Bedenken Rechnung?

Nach den Untersuchungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen vertreten die Bediensteten der JVA Vierlande mehrheitlich die Auffassung, dass die Vergabe steriler Einwegspritzen eine grundsätzlich sinnvolle und notwendige Maßnahme der Infektionsprophylaxe ist.Vorbehalte gegen den Spritzentausch beziehen sich insbesondere auf die Vereinbarkeit von Drogenverbot einerseits und Spritzenabgabe andererseits sowie auf Verletzungsrisiken durch nicht sachgemäß verwahrte Spritzen.

Die zuständige Behörde trägt den Bedenken unter anderem mit Fortbildungsmaßnahmen zur Drogenproblematik und Infektionsprophylaxe Rechnung.

4. Über welche Zeitspanne wurde das Pilotprojekt in der JVA Vierlande vom Institut für Rechtsmedizin am UKE wissenschaftlich begleitet, und warum geschah dieses nicht über die gesamte Zeitspanne?

Die wissenschaftliche Begleitung des Pilotprojektes war bis zum 31. Dezember 1997 befristet. Das Institut für Rechtsmedizin hat das Projekt von Beginn an begleitet. Die ersten Erhebungen wurden im April 1996 vorgenommen. Die letzten Erhebungen wurden im Juli 1997 durchgeführt. Der Abschlußbericht wurde am 31. August 1998 vorgelegt.

5. Hat es eine wissenschaftliche Begleitstudie in einer anderen Anstalt gegeben? Wenn ja:

In welcher Anstalt und mit welchem Ergebnis?

Das Institut für Rechtsmedizin hat in einer Begleitstudie die Verbreitung von HIV- und Hepatitis-Infektionen im geschlossenen Vollzug der JVA Suhrenkamp und JVA Am Hasenberge untersucht. Mit den umfangreichen Untersuchungen wurde unter anderem nachgewiesen, dass auch infizierte Gefangene das hochriskante Needle-sharing praktizieren und dass es so zu Neuinfektionen im Vollzug kommt.

6. Wie hoch ist der geschätzte Anteil der Häftlinge mit intravenösem Drogenkonsum, die sich nicht am Spritzentausch beteiligt haben, und welche Gründe haben die Gefangenen, sich nicht zu beteiligen?

7. Welche Aussagen treffen die Gutachten über die quantitative Teilnahme am niedrigschwelligen Spritzentausch, und welche Gründe sind für die Nichtteilnahme weiterer Gefangener, die an sich daran ein Interesse gehabt haben könnten, festgestellt worden?

Der Spritzentausch hat die grundlegende Akzeptanz der Zielgruppe gefunden. Das Institut für Rechtsmedizin hat festgestellt, dass mehr als 80 Prozent der Personen mit riskantem Konsum am Spritzentausch teilgenommen haben.

Während mehr als drei Viertel der Gefangenen mit intravenösem Konsum im geschlossenen Vollzug Needle-sharing praktizieren, sind es nach den Untersuchungen der Rechtsmediziner nur noch ca. ein Drittel unter Prophylaxebedingungen in der JVA Vierlande. Auch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen kommt in der quantitativen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit der Gefangenen mit intravenösem Konsum unter Prophylaxebedingungen keine gebrauchten Spritzen von anderen annimmt und dass das gemeinsame Benutzen von Spritzen im Vergleich zum geschlossenen Vollzug abgenommen hat.

Die qualitative Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen führt ein andauerndes Needle-sharing bei einer Restgruppe insbesondere auf die zeitweise technische Unzuverlässigkeit der Automaten und die nicht lückenlose Anonymität des Spritzentauschs zurück. Das Institut für Rechtsmedizin hingegen hat nur in einem Fall die Funktionsstörung eines Spritzentauschautomaten als Grund für Needle-sharing gefunden. Im übrigen weisen außerhalb von Vollzugsanstalten durchgeführte Untersuchungen darauf hin, dass es auch außerhalb von Haftanstalten Drogenkonsumenten gibt, die mit dem Spritzentausch nicht oder noch nicht erreicht werden können.

8. Treffen die Gutachten darüber Aussagen, ob es Häftlinge gibt, die durch das erleichterte Erlangen der Spritzmöglichkeit erneut angefangen haben, intravenös zu konsumieren, nachdem sie zuvor auf diese Form des Konsums verzichtet hatten?

Das Institut für Rechtsmedizin hat in der JVA Vierlande im Vergleich zu einem Zeitpunkt vor Einführung des Spritzentauschs keinen Anstieg der Konsumentenrate unter Prophylaxebedingungen festgestellt; eher zeigte sich eine gegenteilige Tendenz. Die qualitativen Forschungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zeigen, dass einzelne Konsumenten das Projekt als eine in Versuchung führende Situation erleben.

Dagegen wurde bei einem Vergleich zwischen dem Konsumverhalten im geschlossenen Vollzug und nach Verlegung in den offenen Vollzug ein deutlicher Anstieg intravenöser Applikation gefunden. Dieser ist allerdings nach Auffassung der Sachverständigen auf den situativen Faktor „offener Vollzug" und nicht auf Verführung durch Tauschautomaten zurückzuführen.

9. Was waren jeweils die Bedingungen für Gefangene, am Spritzentausch teilzunehmen?

An die Gefangenen wurden keine besonderen Voraussetzungen für die Teilnahme an dem Projekt gestellt.

Der Spritzentausch findet über Automaten statt. Die Bedingungen hierfür wurden im Laufe des Projektes dadurch optimiert, dass zur Verbesserung der Tauschsituation unterschiedliche Standorte für die Automaten gewählt wurden.Neben den in der Regel zum Konsum verwendeten Spritzen mit kurzer Kanüle wurden auch solche mit einer längeren Kanüle in das Programm aufgenommen, um insbesondere langjährigen Konsumenten eine Teilnahme zu ermöglichen.

10. Gab es für die Teilnehmer am Spritzenaustauschprogramm eine Verpflichtung zur weiteren Teilnahme an einer dauerhaften Drogenberatung? Wenn nein: Warum nicht?

Nein. Der Spritzentausch ist eine Maßnahme der Gesundheitsvorsorge. Zur Gewährleistung der Inanspruchnahme und Effizienz des Programms ist eine Verpflichtung zur Teilnahme an einer andauernden Drogenberatung kontraindiziert. Gleichwohl wird die Teilnahme an Maßnahmen der Drogenberatung gefördert.

11. Wie viele Personen welchen beruflichen Hintergrundes haben für eine psychosoziale Beratung zur Verfügung gestanden? Wie viele von ihnen waren externe Berater, und wie viele waren Bedienstete des Vollzuges?

12. Ist der Senat der Ansicht, dass die Anzahl der Berater ausreichend war, und sind heute schon genügend therapeutisch geschulte Berater für die Fortführung des Programms vorhanden?

Im Zusammenhang mit der Teilnahme am Spritzentauschprogramm wurden bis Ende Dezember 1996

Sprechzeiten an fünfWochentagen und im Jahr 1997 an dreiWochentagen angeboten.Seit Januar 1998 stehen Sprechzeiten an zwei Wochentagen zur Verfügung. Die Beratung erfolgt durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Drogenberatungsstelle KODROBS.

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, sich auch zu anderen Zeiten an die externe Drogenberatung in der Anstalt zu wenden oder die Beratungsstelle in Bergedorf im Rahmen von Vollzugslockerungen aufzusuchen.

Im Zuge des Spritzentauschprojektes haben neun Bedienstete der JVA Vierlande eine Weiterbildungsmaßnahme zu Fragen der Infektionsprophylaxe und Gesundheitsvorsorge des Hamburger Fortbildungs-Instituts Drogen und Aids durchlaufen.

Das Spritzentauschprogramm in der JVAVierlande kann in der gegenwärtigen Form fortgesetzt werden.

13. Wie hoch waren die Kosten

­ der Gutachten und

­ der Begleitforschung?

Das Institut für Rechtsmedizin hat die wissenschaftliche Begleitung des Pilotprojektes in der JVA Vierlande und die Untersuchungen im geschlossenen Vollzug im Rahmen seines Aufgabenverständnisses durchgeführt.

Die Kosten der wissenschaftlichen Begleitung des Pilotprojektes in der JVA Vierlande durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen werden durch Mittel aus dem Titel 2000.534. „Kosten für wissenschaftliche Untersuchungen" gedeckt. In den Jahren 1996 und 1997 standen hieraus jeweils etwa 100 000 DM, im Jahr 1998 etwa 30 000 DM zur Verfügung.

14. Ist beabsichtigt, die erweiterten Teile des Programms ebenfalls wissenschaftlich zu begleiten? Wenn ja: Worauf sollen sich diese beziehen, und welche Kosten sind hierfür veranschlagt? Wenn nein: Warum nicht?

Es ist nicht beabsichtigt, den Spritzentausch bei einer Ausweitung auf den geschlossenen Vollzug erneut wissenschaftlich zu evaluieren. In wissenschaftlich begleiteten Projekten im offenen und geschlossenen Männer- und Frauenvollzug, die in Vollzugsanstalten der Schweiz, Niedersachsens und Hamburgs durchgeführt wurden, hat sich gezeigt, dass Spritzentausch in geschlossenen Anstalten sinnvoll und durchführbar ist.

Jedoch wird die Justizbehörde das Institut für Rechtsmedizin voraussichtlich erneut beratend und ggf. auch bei der Untersuchung von Einzelfragen beteiligen. Außerdem werden von Mitarbeitern des Vollzuges ­ wie schon in der JVA Vierlande ­ praxisrelevante Einzelaspekte ­ z. B. Anzahl der getauschten Spritzen ­ dokumentiert werden.Einzelheiten bleiben der weiteren Konzeptentwicklung vorbehalten.

14. a) Trifft es zu, dass der Umfang des „Needle-sharing" trotz des niedrigschwelligen Spritzentausches nicht signifikant zurückgedrängt wurde? Wenn ja: Welche Gründe sind hierfür festgestellt worden?

Siehe Antwort zu 6. und 7.

15. Beruhte die fehlende wissenschaftliche Nachweisbarkeit des Rückgangs von HIV- und Hepatitis-Infektionen im Rahmen des Pilotprojektes auf den

a) tatsächlich nicht festzustellenden rückläufigen Zahlen der Infektionen oder auf der

b) fehlenden Wissenschaftlichkeit des Modells?

Wenn ja: Welche konkreten Mängel wurden festgestellt?

Für den wissenschaftlichen medizinischen Nachweis einer erfolgreichen Infektionsprophylaxe ist die auf den Spritzentausch zurückzuführende Verringerung der Neuinfektionen mit HIV und Hepatitis ausschlaggebend. Neuinfektionen wurden in der JVA Vierlande im Untersuchungszeitraum nicht festgestellt. Wenn dies vom Institut für Rechtsmedizin gleichwohl nicht als wissenschaftlich abgesicherter Beleg für die Effizienz des Spritzentauschs gewertet wird, geschieht dies mit Hinweisen auf die bereits hohen Infektionsraten bei derVerlegung in den offenenVollzug, die durchschnittliche kurzeVerweildauer der Gefangenen und die große Zahl vonVollzugslockerungen mit der Möglichkeit von Infektionen außerhalb des Vollzuges.Unter diesen Voraussetzungen ist bei Beachtung der Inkubationszeiten bei HIV und den verschiedenen Formen der Hepatitis der zweifelsfreie Nachweis von Neuinfektionen schwierig.

16. Wann wird der Senat der Bürgerschaft über die Ausweitung des Pilotprojekts sowie über die Ergebnisse der Begleitforschung berichten?

Damit hat sich der Senat noch nicht befaßt. Der Rechtsausschuß der Hamburgischen Bürgerschaft berät die Thematik am 24. Juni 1999 aufgrund des ihm überwiesenen Antrags Drucksache 16/1626.