Die Organe der EU sind an das Subsidiaritätsprinzip gebunden

I. Ersuchen der Bürgerschaft an den Senat

Die Bürgerschaft hat in ihrer Sitzung vom 4. November 2009 folgendes Ersuchen beschlossen: „Der Senat wird ersucht,

1. Vorschläge zu erarbeiten, wie der Subsidiaritätskontrollmechanismus bestmöglich umgesetzt werden kann,

2. Vorschläge zu erarbeiten, um der Bürgerschaft eine praktikable und rechtzeitige Willens- und ausreichende Informationsbildung zu ermöglichen,

3. die Bürgerschaft frühzeitig und regelmäßig über europäische Gesetzgebungsakte, die das Subsidiaritätsprinzip gefährden könnten, zu unterrichten,

4. die Bürgerschaft unabhängig von dem Ergebnis des Subsidiaritätsprüfverfahrens über das Abstimmungsverhalten des Senats im Bundesrat zu EU-Vorhaben zu unterrichten,

5. der Bürgerschaft am Anfang des Jahres 2010 einen Sachstandsbericht über die Funktionsweise und Funktionsfähigkeit des nationalen Frühwarnsystems zur Subsidiaritätskontrolle zu geben."

II. Der Senat beantwortet das bürgerschaftliche Ersuchen wie folgt.

Vorbemerkung:

Der Vertrag von Lissabon sieht eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente in Angelegenheiten der Europäischen Union (EU) vor. Gemäß Artikel 12 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) werden die nationalen Parlamente von den Organen der EU unterrichtet und erhalten die Entwürfe von Gesetzgebungsakten der EU. Die nationalen Parlamente sorgen dafür, dass der Grundsatz der Subsidiarität beachtet wird.

Die Organe der EU sind an das Subsidiaritätsprinzip gebunden. Außerhalb ihrer ausschließlichen Zuständigkeit wird die EU gemäß Artikel 5 Absatz 3 EUV nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. Vielmehr müssen diese Maßnahmen wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung auf der Unionsebene besser zu verwirklichen sein.

Die Einzelheiten zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sind im Protokoll zum Vertrag von Lissabon über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit geregelt. Danach übermitteln die Europäische Kommission und die übrigen Organe mit Initiativrechten alle Entwürfe für Gesetzgebungsakte neben dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat auch den nationalen Parlamenten (Artikel 4). Die nationalen Parlamente können binnen acht Wochen in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Ministerrates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist.

Stellt ein Drittel (bzw. im Bereich Justiz und Innenpolitik ein Viertel) der nationalen Parlamente einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip fest, muss der Entwurf überprüft werden.

Rügt die Mehrheit der nationalen Parlamente einen Subsidiaritätsverstoß und stimmen 55 Prozent der Ratsmitglieder oder die Mehrheit des Europäischen Parlaments dieser Rüge zu, muss der Vorschlag zurückgezogen werden (Artikel 7). Im Subsidiaritätsrügeverfahren hat jedes nationale Parlament zwei Stimmen. In der Bundesrepublik Deutschland entfällt wegen des Zwei-Kammer-Systems je eine Stimme auf den Bundesrat und den Bundestag (vgl. Artikel 7 Absatz 1 Unterabsatz 2).

Nach Verabschiedung eines europäischen Gesetzgebungsaktes können die nationalen Parlamente Klage wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union erheben (Artikel 8).

Im Rahmen des Subsidiaritätsrügeverfahrens obliegt es dem jeweiligen nationalen Parlament oder der jeweiligen Kammer eines nationalen Parlaments, „gegebenenfalls die regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen zu konsultieren" (Artikel 6 Absatz 1 S. 2). Konsultation bedeutet, dass den regionalen Parlamenten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird, wobei die Stellungnahme keine Bindungswirkung entfaltet. „Kammer" im Sinne des EUV sind in Deutschland der Bundestag und der Bundesrat, durch den gemäß Artikel 50 GG die Länder unter anderem bei Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirken. Der Bundesrat besteht aus den Mitgliedern der Landesregierungen (Artikel 51 Absatz 1).

Diese sind dafür zuständig, ihre jeweiligen Landesparlamente zu informieren und zu konsultieren. In Hamburg führt dementsprechend der Senat für den Bundesrat die Konsultation der Bürgerschaft durch.

1. Grundsätze zur Umsetzung des Subsidiaritätskontrollmechanismus:

Die Konsultation der Bürgerschaft durch den Senat im Rahmen des Subsidiaritätsrügeverfahrens muss so ausgestaltet werden, dass ihr Ergebnis vom Senat in das Bundesratsverfahren eingebracht werden kann. Im Bundesrat muss das Subsidiaritätsrügeverfahren regelhaft im Rahmen des dreiwöchigen Sitzungszyklus durchgeführt werden. In den Sitzungszeiten wird für jeden Entwurf eines europäischen Gesetzgebungsaktes innerhalb der Acht-Wochen-Frist des Subsidiaritätsrügeverfahrens eine Plenarsitzung einschließlich der vorbereitenden Ausschusssitzungen erreicht. Bei Subsidiaritätsrügen in der sitzungsfreien Zeit soll zur Fristwahrung ausnahmsweise ein Eilverfahren unter Einbeziehung der Europakammer des Bundesrates durchlaufen werden. Im Bundesratsverfahren haben Anträge auf Einleitung eines Subsidiaritätsrügeverfahrens insbesondere dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie frühzeitig in den jeweiligen Fachausschüssen zur Vorbereitung der Plenarsitzungen gestellt werden. Die Fachausschüsse tagen in der zweiten Woche vor der jeweiligen Plenarwoche des Bundesrates.

Zur bestmöglichen Umsetzung des Subsidiaritätskontrollmechanismus in Hamburg geht der Senat für die Konsultation der Bürgerschaft vor dem Hintergrund der in der Vorbemerkung geschilderten rechtlichen Regelungen von folgenden Grundsätzen für das Verfahren aus:

a) Im Rahmen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems konsultiert der Senat die Bürgerschaft. Der Senat gibt der Bürgerschaft im Hinblick auf das Bundesratsverfahren Gelegenheit, zu möglichen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip durch Entwürfe von europäischen Gesetzgebungsakten Stellung zu nehmen.

b) Die Bürgerschaft prüft die Entwürfe von europäischen Gesetzgebungsakten auf Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip. Kommt sie zu dem Ergebnis, dass ein solcher Verstoß vorliegt, nimmt sie entsprechend Stellung und ersucht den Senat, ein Subsidiaritätsrügeverfahren gegen den Gesetzgebungsakt im Bundesrat anzustrengen.

c) Die Bürgerschaft übermittelt ihre Stellungnahme rechtzeitig an den Senat. Rechtzeitigkeit der Übermittlung liegt vor, wenn die Stellungnahme drei Wochen vor der Plenarsitzung, in welcher der Entwurf des europäischen Gesetzgebungsaktes behandelt werden soll, beim Senat eingeht.

d) Der Senat berücksichtigt die Stellungnahme der Bürgerschaft bei seiner Meinungsbildung zum Entwurf des europäischen Gesetzgebungsaktes. Der Senat ist allerdings nicht an das Votum der Bürgerschaft gebunden, weil die Bürgerschaft dem Senat kein imperatives Mandat für den Bundesrat erteilen kann (vgl. Artikel 51 Absatz 1 GG). Dies gilt auch für den Fall, dass ein Organ der Europäischen Union nach Überprüfung am Entwurf eines europäischen Gesetzgebungsaktes festhält, der von der Bürgerschaft im Rahmen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems als unvereinbar mit dem Subsidiaritätsprinzip beurteilt wurde.

Im Folgenden wird die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens zur Informationsübermittlung im Rahmen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems an die Bürgerschaft unter Ziff. 2., der Unterrichtung über eine vorläufige Einschätzung der entsprechenden Entwürfe von europäischen Gesetzgebungsakten hinsichtlich der Gefährdung des Subsidiaritätsprinzips unter Ziff. 3. und der Unterrichtung der Bürgerschaft über das Ergebnis des weiteren Verfahrens im Bundesrat unter Ziff. 4. beschrieben. Eine tabellarische Übersicht über das entsprechende Verfahren im Bundesrat und das für Hamburg vorgeschlagene Verfahren ist als Anlage beigefügt.

2. Information und Willensbildung der Bürgerschaft

Im Rahmen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems leiten die Europäische Kommission und die anderen EU-Organe mit Initiativrecht die Entwürfe von europäischen Gesetzgebungsakten dem Bundesrat direkt zu. Der Bundesrat macht dem Senat mit Hilfe der Datenbank EUDISYS die Entwürfe von europäischen Gesetzgebungsakten zugänglich.

Da in die Datenbank EUDISYS Dokumente eingestellt werden, deren Weitergabe untersagt ist, weil sie beispielsweise als vertraulich eingestuft sind oder nur an einen begrenzten Personenkreis in den jeweils zuständigen obersten Landesbehörden weitergeleitet werden dürfen, kann den Landesparlamenten kein Zugang zu der Datenbank gewährt werden. Allerdings ist es möglich, ausgewählte Dokumente an die Landesparlamente weiterzuleiten. Der Bundesrat hat den Landesregierungen hierfür eigens ein Funktionspostfach eingerichtet.

Um eine ausreichende Information sowie eine praktikable und rechtzeitige Willensbildung der Bürgerschaft zu ermöglichen, schlägt der Senat folgendes Verfahren vor:

a) Der Senat übermittelt der Bürgerschaft unverzüglich nach Eingang alle Entwürfe von europäischen Gesetzgebungsakten, die dem Senat vom Bundesrat im Rahmen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems durch den Bundesrat zugänglich gemacht werden.

b) Die allgemeinen Informationsrechte der Bürgerschaft in Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Artikel 31 Absatz 1 Nr. 5 Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (HV) bleiben unberührt.

3. Unterrichtung der Bürgerschaft über europäische Gesetzgebungsakte, die das Subsidiaritätsprinzip gefährden könnten

Der Senat hat in der Regel erst im Rahmen des Bundesratsverfahrens die Möglichkeit, sich mit der Frage zu befassen, ob der Entwurf eines europäischen Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. In seiner Sitzung vor der Plenarsitzung des Bundesrates beschließt der Senat, ob von einem Subsidiaritätsverstoß ausgegangen und das Subsidiaritätsrügeverfahren angestrengt werden soll. Der Beschluss des Senats erfolgt allerdings so kurzfristig vor der Plenarsitzung des Bundesrates, dass eine rechtzeitige Einbeziehung in die Willensbildung und Beschlussfassung der Bürgerschaft über mögliche Subsidiaritätsverstöße nicht möglich ist.

Der Senat bietet daher an, eine kursorische Subsidiaritätsprüfung auf Arbeitsebene vornehmen zu lassen. Die Prüfung konzentriert sich auf die Fragen, ob die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme ausreichend auf Ebene der Mitgliedstaaten ­ insbesondere der Länder ­ verwirklicht werden können und ob die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden können (vgl. Prüfraster für die Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Bundesressorts in Anlage 8 zu § 74 Absatz 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, GGO).

Um die Bürgerschaft frühzeitig und regelmäßig über europäische Gesetzgebungsakte, die das Subsidiaritätsprinzip gefährden könnten, zu unterrichten, schlägt der Senat Folgendes vor (Details des Verfahrens siehe Anlage):

a) Die Senatskanzlei übermittelt der Bürgerschaft das Ergebnis der kursorischen Subsidiaritätsprüfung binnen zwei Wochen nach Beginn der 8-Wochen-Frist (siehe Vorbemerkung).

b) Das Ergebnis der kursorischen Subsidiaritätsprüfung steht unter dem Vorbehalt, dass sich der Senat hierzu noch keine Meinung gebildet hat und dass sich im weiteren Verlauf des Bundesratsverfahrens Gesichtspunkte ergeben können, die zu einer abweichenden Bewertung von Subsidiaritätsverstößen durch den Senat führen.

4. Unterrichtung der Bürgerschaft über das Abstimmungsverhalten des Senats im Bundesrat zu EU-Vorhaben unabhängig von dem Ergebnis des Subsidiaritätsprüfverfahrens

Der Senat unterrichtet die Bürgerschaft über die Plenarsitzung des Bundesrates und trägt hierdurch auch seinen Informationspflichten gegenüber der Bürgerschaft aus Artikel 31 Absatz 1 Nr. 5 HV Rechnung. Neben den gefassten Beschlüssen werden der Bürgerschaft auch Informationen über Stellungnahmen der Länder zu bestimmten Tagesordnungspunkten und über das Stimmverhalten Hamburgs übermittelt. Der Senat ist bereit, gleichermaßen über die auf der Plenarsitzung behandelten EU-Vorhaben zu berichten, für welche die Bürgerschaft im Rahmen des Konsultationsverfahrens ein Subsidiaritätsrügeverfahren angeregt hat oder für die der Bundesrat die Übermittlung einer Subsidiaritätsrüge beschlossen hat.

Um die Bürgerschaft unabhängig von dem Ergebnis des Subsidiaritätsprüfverfahrens über das Abstimmungsverhalten des Senats im Bundesrat zu EU-Vorhaben zu unterrichten, schlägt der Senat folgendes Verfahren vor:

a) Der Senat informiert die Bürgerschaft nach erfolgter Stellungnahme der Bürgerschaft zu Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip schriftlich über sein Abstimmungsverhalten und das Ergebnis der Abstimmung im Bundesrat. Er weist die Bürgerschaft bei unterbliebener Stellungnahme auf im Zusammenhang mit der Behandlung von Vorhaben der Europäischen Union vom Bundesrat festgestellte Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip hin.

b) Die allgemeinen Informationsrechte der Bürgerschaft gegenüber dem Senat gemäß Artikel 31 Absatz 1 Nr. 5 HV bleiben hinsichtlich der Unterrichtung der Bürgerschaft über das Abstimmungsverhalten des Senats im Bundesrat zu EU-Vorhaben unberührt.

5. Sachstandsbericht über die Funktionsweise und Funktionsfähigkeit des nationalen Frühwarnsystems zur Subsidiaritätskontrolle

Der Vertrag von Lissabon wurde in Deutschland am 24. April 2008 vom Bundestag und am 23. Mai 2008 vom Bundesrat gebilligt. Mit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon in Bundestag und Bundesrat wurde das „Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrats aus dem Vertrag von Lissabon" verabschiedet, das u.a. Regelungen zur Subsidiaritätsrüge enthielt. Die Ratifizierung wurde allerdings auf Grund von Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht zunächst nicht abgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seiner Entscheidung vom 30. Juni 2009 das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon für verfassungsgemäß und das Begleitgesetz zur Ausgestaltung einiger Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat für verfassungswidrig. Die Ausgestaltung des Subsidiaritätsfrühwarnsystems wurde allerdings vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet. Nach Verabschiedung des Gesetzes über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (IntVG) und entsprechender Änderung von EuZBBG und EuZBLG konnte der Ratifizierungsprozess in Deutschland am 25. September 2009 abgeschlossen werden.

Die Regelungen zur Subsidiaritätsrüge aus dem vorherigen Begleitgesetz wurden in das IntVG übernommen. Gemäß § 13 IntVG unterrichtet die Bundesregierung den Bundesrat und den Bundestag über Entwürfe von Gesetzgebungsakten der EU. Bundesrat und Bundestag können gemäß § 12 in ihren Geschäftsordnungen die Voraussetzungen für die Abgabe einer begründeten Stellungnahme bei Subsididaritätsverstößen regeln. Bei Abgabe einer solchen Stellungnahme an die Präsidenten von Europäischem Parlament, Ministerrat und Kommission muss die Bundesregierung in Kenntnis gesetzt werden.

Die Funktionsweise des nationalen Frühwarnsystems zur Subsidiaritätskontrolle in Bundestag und Bundesrat stellt sich daher wie folgt dar:

a) Bundesrat:

Im Bundesrat führt die Einbeziehung des SubsidiaritätsFrühwarnmechanismus bei der Behandlung von EU-Vorlagen nur zu kleineren Änderungen des Verfahrensganges. Eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrates (GO-BR) wird nicht als erforderlich angesehen.