Asylbewerber

Die SPD-Abgeordneten sprachen eine ihnen zugegangene Information des Flüchtlingsrates an, nach der die den Untersuchungen zur Altersfeststellung zugrunde liegende Verfügung sowohl nach Beschlüssen des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 22.07.2009 als auch des Landgerichts Braunschweig vom 30.12.2009 im Hinblick auf die zur Altersbestimmung praktizierte Methode für unzulässig erklärt worden sei. Sie baten die Senatsvertreterinnen und -vertreter um eine Darstellung ihrer Sichtweise der rechtlichen Situation zur Durchführung der Untersuchungen zur Altersfeststellung in Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht.

Die Senatsvertreterinnen und -vertreter hoben hervor, Rechtsgrundlage für Untersuchungen sei Paragraf 49 des Aufenthaltsgesetzes, der Maßnahmen zur Identitätsfeststellungen zulasse. Die zulässigen Maßnahmen zur Altersfeststellung seien in Paragraf 49 Absatz 6 geregelt. Die Begründung zum Aufenthaltsgesetz stelle eindeutig fest, dass auch Röntgenaufnahmen zu den Maßnahmen gehören, die für die Altersfeststellung zulässig seien. Sie gaben zu bedenken, dass außerhalb des Ausländerrechts diese Form der Altersfeststellung, beispielsweise im Rahmen von Strafprozessen, in der Regel keine Schwierigkeiten bereite.

Im Hinblick auf die von den SPD-Abgeordneten angesprochenen Gerichtsbeschlüsse hoben sie hervor, diese Urteile seien dem Senat nicht geläufig. In einem Verfahren in Hamburg habe das Verwaltungsgericht erklärt, innerhalb eines Asylverfahrens reiche die Rechtsgrundlage des Paragrafen 49 Aufenthaltsgesetz nicht aus, weil es auf das allgemeine Aufenthaltsrecht abstelle. Im Rahmen des Asylverfahrens seien die speziellen Ermächtigungsgrundlagen des Asylverfahrensgesetzes Grundlage des Verfahrens.

Die SPD-Abgeordneten baten darum, dem Innenausschuss die Verfügung zu Protokoll zu geben, die diesem Altersfestsetzungsverfahren zugrunde liege. Darüber hinaus ersuchten sie die Senatsvertreterinnen und -vertreter zu Protokoll um eine Darstellung der Vereinbarkeit mit der maßgeblichen Rechtsprechung.

Die Senatsvertreterinnen und -vertreter sagten die Auskunft zu Protokoll zu.

Protokollnotiz:

Im Rahmen der Sitzung des Innenausschusses am 20. April 2010 zu TOP 3 „Humanitäre Standards für die Aufnahme minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge sicherstellen" (Antrag der Fraktion DIE LINKE) - Drucksache 19/5708 - sagten die Senatsvertreter vor dem Hintergrund des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 22. Juli 2009 (3 E 1152/09) eine Darstellung ihrer Sichtweise der rechtlichen Situation zur Durchführung der Untersuchungen zur Altersfeststellung in Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu.

Hierzu teilt die Behörde für Inneres mit:

Mit der am 28. August 2007 in Kraft getretenen Neuregelung des § 49 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zur Überprüfung, Feststellung und Sicherung der Identität wurde ausdrücklich auch eine Rechtsgrundlage geschaffen für Maßnahmen zur Feststellung des Lebensalters „einschließlich körperlicher Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zum Zwecke der Feststellung des Alters vorgenommen werden" (§ 49 Abs. 6 Satz 1 AufenthG). In der amtlichen Begründung zu dieser Neuregelung heißt es hierzu: „Mit der Aufnahme „körperlicher Eingriffe" in Absatz 6 Satz 1 wird die Rechtsgrundlage für invasive Eingriffe zum Zwecke der Identitätsfeststellung eingeführt, auf die auch Röntgenuntersuchungen gestützt werden können" (Bundestagsdrucksache 16/5065 Seite 179, zu Nummer 38 Buchstabe c).

Die Behörde hatte zunächst ­ so auch in dem Rechtsstreit, der dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 22. Juli 2009 (3 E 1152/09) zugrunde lag

­ die Auffassung vertreten, dass die in § 49 AufenthG vorgesehenen Maßnahmen auch auf Asylbewerber Anwendung finden, da dies zumindest perspektivisch auch zur Durchführung anderer Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz erforderlich ist. Dieser Rechtsauffassung ist das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Beschluss vom 22. Juli 2009 nicht gefolgt. Die Behörde hat die abweichende Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Hamburg respektiert und über den entschiedenen Einzelfall hinaus in der Weise berücksichtigt, dass Maßnahmen nach § 49 AufenthG nur ergriffen werden, soweit dies unmittelbar zur Durchführung anderer Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz und nicht auch nach dem Asylverfahrensgesetz erforderlich ist (siehe auch Drucksache 19/5214).

Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht Hamburg in dem Beschluss vom 22. Juli 2009 klargestellt: „Nach Sinn und Zweck der Vorschrift sowie unter Berücksichtigung der Vorstellungen des Gesetzgebers, der gezielt die Möglichkeiten der strafprozessualen Tatsachenfeststellung nach § 81a Abs. 1 Satz 2 StPO auch für die aufenthaltsrechtliche Altersermittlung eröffnen wollte und hierbei ausdrücklich den strafprozessual zulässigen Einsatz der Röntgendiagnostik als Anwendungsfall vor Augen hatte (vgl. BR-Drs. 224/07, S 312,313), ist § 49 Abs. 6 Satz 1 AufenthG jedoch dahin auszulegen, dass nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine im Rahmen des Üblichen liegende Gesundheitsgefährdung des zu Untersuchenden durch Röntgenbestrahlung hinzunehmen und nicht als Gesundheitsnachteil im Sinne der Vorschrift aufzufassen ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 62. Lieferung, Februar 2009, § 49 AufenthG Rn 33 sowie Pfeiffer, Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2005, § 81a Rn 5).... Zweifel an der Eignung des Instituts (für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf) sowie an der grundsätzlichen Berechtigung der Ausländerbehörde, für eine nach § 49 Absätze 3 und 6 AufenthG zulässige und nach § 49 Abs. 10 AufenthG von dem Ausländer als Maßnahme der Behörde zu duldende Untersuchung einen Arzt zu bestimmen, bestehen demgegenüber nicht."

Die Behörde für Inneres sieht durch diese Ausführungen des Verwaltungsgerichts Hamburg die Rechtmäßigkeit ihrer Praxis zur Durchführung von Untersuchungen zur Altersfeststellung im Übrigen bestätigt. Zweifel an der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht bestehen nicht.

Die GAL-Abgeordneten gaben an, ihrer Kenntnis nach würden die Jugendlichen von der Ausländerbehörde bei Zweifeln an der Altersangabe in einer Einrichtung an der Sportallee untergebracht und bis zur medizinischen Altersfeststellung dort verbleiben.

Danach erfolge eine dem Alter entsprechende Unterbringung oder andere dem festgestellten Alter entsprechende Maßnahmen. Sie wollten wissen, ob ihre Annahme zutreffe oder ob die Versorgung der Jugendlichen durch den Kinder- und Jugendnotdienst stattfinde.

Die Senatsvertreterinnen und -vertreter schilderten, ein Großteil der Jugendlichen werde von der Ausländerbehörde zum Kinder- und Jugendnotdienst geschickt, der die Inobhutnahme und beispielsweise auch die Klärung der Altersfeststellung veranlasse.

Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE legten Wert auf die Feststellung, dass dieses Verfahren im Fall des vor wenigen Wochen gestorbenen Abschiebehäftlings David M. nicht in der geschilderten Weise stattgefunden habe. Sie nahmen Bezug auf die in ihrem Antrag unter Punkt 1 genannte Forderung im Hinblick auf die erste Anlaufstelle und die Inobhutnahme in einer Erstversorgungseinrichtung und baten die Senatsvertreterinnen und -vertreter um Stellungnahme.

Die Senatsvertreterinnen und -vertreter führten aus, es sei jedem Betroffenen freigestellt, wo er sich zuerst melde. In der Realität werde dies unterschiedlich gehandhabt, sodass einige Jugendliche sich beim Kinder- und Jugendnotdienst, einige beim Jugendamt und andere sich in der Ausländerbehörde meldeten. Dies unterliege der Entscheidung des Betroffenen. Sie fügten hinzu, die Frage, ob die bundesgesetzliche Normierung, die sicherstelle, dass ausländische Minderjährige wie deutsche Minderjährige den gleichen Rechtsanspruch auf Inobhutnahme hätten, erfüllt sei, sei zu bejahen. Der Aufgabe, die Maßnahmen in der notwendigen Qualität und im notwendigen Umfang und Bedarf sicherzustellen, werde nachgekommen. Es gebe allerdings keine Sicherheit, dass nicht doch in einem Einzelfall von den Regelungen abgewichen worden sei. In behördenübergreifenden Arbeitskreisen werde die praktische Umsetzung begleitet. An der bedarfsmäßigen Entwicklung der Fallzahlen sei abzulesen, dass es nicht darum gehe, ein verdecktes Finanzierungsproblem zu verbergen. Der Bereich sei bedarfsgerecht ausgestattet, um den gesetzlichen Auftrag qualifiziert wahrzunehmen.

Die SPD-Abgeordneten nahmen Bezug auf die Regelungen aus dem Paragrafen 42 SGB VIII, nach denen das Jugendamt nicht nur berechtigt sei, ein Kind in seine Obhut zu nehmen, sondern es handele sich nach Paragraf 42 Absatz 1 SGB VIII um eine Verpflichtung. Im Fall des vor wenigen Wochen gestorbenen Abschiebehäftlings David M. sei das Verhältnis des Paragrafen 42 SGB VIII zur Dublin-II-Verordnung betroffen gewesen. Hier sei nicht deutlich geworden, welche Regelung Vorrang hätte. Sie baten die Senatsvertreterinnen und -vertreter um eine konkretisierende Darstellung.

Die Senatsvertreterinnen und -vertreter berichteten, die Gesetzeskonkurrenz zwischen den einerseits zwingenden Vorschriften im SGB VIII mit seinen Regelungen zur Inobhutnahme und den ebenfalls zwingenden Vorschriften im Asylverfahrensrecht und im Aufenthaltsgesetz sei für den betroffenen Personenkreis nicht aufzuheben. Dieses Problem sei auf Bundesebene erkannt und es werde seit einiger Zeit zwischen den zuständigen Bundesministerien erörtert, wie ein Einklang hergestellt werden könnte.

Dies sei bisher nicht gelungen. Die bestehende Diskrepanz ergebe sich einerseits aus den verpflichtenden Inobhutnahmen und andererseits aus der im Asylverfahrensgesetz vorgegebenen Verteilungsregelung, die damit nicht in Einklang stehe, aber auch Aufenthaltsbeendigungsvorschriften aus dem Aufenthaltsgesetz seien zu berücksichtigen. Die deutsche Rechtslage werde überlagert vom europäischen Gemeinschaftsrecht in der sogenannten Dublin-II-Verordnung, die Geltung auch für Minderjährige beanspruche und eine ausdrückliche Regelung zum Umgang mit Minderjährigen enthalte. Im Vordergrund stehe dabei der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz, dass zur Vermeidung von sukzessiven oder parallelen Asylverfahren in den Mitgliedstaaten eine Überstellung an den einen zuständigen Mitgliedstaat in der europäischen Union sichergestellt werde. Dieser gemeinschaftsrechtliche Grundsatz gelte auch für Minderjährige und enthalte auch für Minderjährige eine Sonderregelung in der Verordnung.

Die Senatsvertreterinnen und -vertreter ergänzten, vor diesem Hintergrund sei es im Fall des vor wenigen Wochen gestorbenen Abschiebehäftlings David M. nicht in Zweifel zu ziehen gewesen, dass hier nach den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in Form der Dublin-II-Verordnung eine Überstellung an Polen als in dem Fall zuständigen Staat herbeigeführt werden musste.

Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE hielten es für unstrittig, dass die Regelungen des SGB VIII aufgrund der UN-Kinderrechtskonvention vorrangig zu berücksichtigen seien.

Die Senatsvertreterinnen und -vertreter machten deutlich, es werde bereits seit Jahren eine Diskussion zur UN-Kinderrechtskonvention und den sogenannten Erklärungen, die die Bundesregierung bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden abgegeben habe, geführt. In dieser Erklärung sei festgehalten, dass die Bundesrepublik Deutschland es so verstehe, dass sie keine Individualrechte begründe, insbesondere nicht auf Aufenthalt in Deutschland. Weiterer Inhalt sei, dass die Bundesregierung davon ausgehe, dass das deutsche Recht mit der UN-Kinderrechtskonvention in Einklang stehe.

Aktuell gebe es eine Absicht der Koalitionsparteien auf Bundesebene, diese Erklärung wieder rückgängig zu machen.

Auf Nachfrage der Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE fügten sie hinzu, der dazu mittlerweile getroffene Beschluss des Bundesrates vom 26. März 2010, in dem dieses Vorhaben begrüßt werde, sei mit den Stimmen der Hamburger Vertreter getroffen worden. Zum jetzigen Zeitpunkt seien die Vorbehaltserklärungen noch nicht zurückgenommen worden. Bei einer Rücknahme käme der Standpunkt der Bundesregierung zum Tragen, dass das deutsche Recht auch in der bestehenden Form konform mit der UN-Kinderrechtskonvention sei. Daraus ergebe sich für Hamburg, dass der ansonsten bestehende Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Form der Umsetzung der Dublin-IIVerordnung es nicht zulasse, aus der UN-Kinderrechtskonvention einen Vorrang des SGB VIII abzuleiten.

Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE hoben die Versäumnisse im Fall des vor wenigen Wochen gestorbenen Abschiebehäftlings David M. ebenso wie in vielen anderen Fällen hervor. Dies sei durch die Äußerungen der Menschen, die in dem Bereich tätig seien, belegt.