Unrechtsurteile wegen homosexueller Handlungen

Die Bürgerschaft hat an den Senat am 9./10. Juni 1999 folgendes Ersuchen gerichtet: „Der Senat wird ersucht, eine Bundesratsinitiative mit dem Ziel einzuleiten, Unrechtsurteile wegen homosexueller Handlungen aufzuheben, die von 1933 bis 1945 verkündet worden sind und eine Einbeziehung von NS-Unrechtsurteilen wegen §§ 175 und 175 a RStGB durch entsprechende Ergänzung der Anlage zu Artikel 1 Nummer 3 Ziffer 26 des NS-Aufhebungsgesetzes vom 28. Mai 1998 zu erwirken, da davon auszugehen ist, dass diese Urteile auf typisch nationalsozialistischem Unrecht beruhen."

1. Rechtliche Ausgangslage und Problemstellung:

Durch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998 (Bundesgesetzblatt I Seite 2501) hat der Gesetzgeber den Zweck verfolgt, einen Schlussstrich unter das Justizunrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen. § 1 dieses NS-AufhG bestimmt, dass Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind, durch Gesetz aufgehoben sind.

In einer Anlage zum Gesetz wird diese Generalklausel durch eine Liste von Rechtsnormen zur Vereinfachung der Anwendung konkretisiert. In diese Liste waren im Gesetzgebungsverfahren nach kontroverser Diskussion die §§ 175, 175 a Nummer 4 RGStGB nicht mit aufgenommen worden, weil die Vorschriften nicht schon durch das Kontrollratsgesetz Nummer 11 vom 30. Januar 1946 (Kontrollratsamtsblatt Seite 55), sondern erst durch das Erste Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969 (Bundesgesetzblatt I Seite 645) aufgehoben worden sind. Zudem hatte das Bundesverfassungsgericht noch im Jahre 1957 die Vereinbarkeit der Vorschriften mit dem Grundgesetz bestätigt (BVerfGE 6, 389 ff.).

2. Lösung:

Der Senat hat beschlossen, einen Gesetzesantrag der Freien und Hansestadt Hamburg beim Bundesrat einzubringen mit dem Ziel, in die Anlage zu Artikel 1 § 2 Nummer 3 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 (Bundesgesetzblatt I Seite 2501) nach der Nummer 26 folgende Nummer 26 a einzufügen: „26 a. §§ 175, 175 a Nr. 4 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 in der Fassung des Gesetzes vom 28. Juni 1935 (RGBl. I S. 839), soweit das Urteil in der Zeit bis zum 7. Mai 1945 verkündet worden ist".

Der Gesetzesentwurf sieht aus systematischen Gründen keine Erweiterung der Nummer 26 der Anlage zum NS-Aufhebungsgesetz vor, sondern eine Ergänzung der Anlage durch eine neue Nummer 26 a.

Einbezogen wurden nur der § 175 RStGB (sog. einfache Homosexualität) und der § 175 a Nummer 4 RStGB (sog. gewerbsmäßige Unzucht). § 175 a Nummer 1 bis 3 RStGB betrafen die Straftaten der sexuellen Nötigung, des sexuellen Missbrauchs Abhängiger und des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger bei homosexuellen Handlungen und sind daher nicht ohne weiteres als nationalsozialistische Unrechtsgesetze einzustufen.

­ Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen ­Drucksache 16/3258.

Der Gesetzesentwurf wählt als Anknüpfungspunkt nicht den Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sondern die Novelle der §§ 175, 175a RStGB vom 28. Juni 1935 (Reichsgesetzblatt I Seite 839), weil durch dieses Gesetz die Strafvorschriften in Deutschland erheblich verschärft wurden. Die neu gefassten §§ 175, 175 a StGB wurden nach ihrer Verkündung im Juni 1935 zu Instrumenten einer von Rassenwahn und nationalsozialistischer Weltanschauung geprägten systematischen Verfolgung homosexueller Männer.

In der amtlichen Begründung zur Neufassung heißt es: „Der neue Staat, der ein an Zahl und an Kraft starkes, sittlich gesundes Volk erstrebt, muss allem widernatürlichen geschlechtlichen Treiben mit Nachdruck begegnen. Die gleichgeschlechtliche Unzucht zwischen Männern muss er besonders stark bekämpfen, weil sie erfahrungsgemäß die Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung hat und einen erheblichen Einfluß auf das ganze Denken und Fühlen der betroffenen Kreise ausübt" (Ackermann, in Bauer/BürgerPrinz/Giese/Jäger (Hrsg.), Sexualität und Verbrechen, 1963, Seite 151).

Die Bereitschaft der NS-Justiz, das Strafrecht systematisch im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zur Verfolgung homosexueller Männer zu mißbrauchen, spiegelt sich in der Folgezeit in der Kriminalstatistik (Baumann, § 175, Berlin 1968, Seite 60 ff.):

Im Jahr 1933 wurden im Reichsgebiet 853 Männer wegen Verstoßes gegen § 175 RStGB verurteilt. 1934 betrug die Zahl der Verurteilten 948. Mit der Novelle des Jahres 1935 stieg sie auf 2106 Verurteilungen an. Im Jahre 1936 kam es schon zu 5321 Verurteilungen. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der Verurteilten gar auf über 8000 pro Jahr an.

Neben die quantitative Verschärfung trat eine qualitative Verschärfung. Freisprüche und Verurteilungen zu Geldstrafen nahmen ab. Gefängnis- und Zuchthausstrafen stiegen (Baumann, a.a.O., Seite 49). Zurückgegriffen wurde auf aggressive Ermittlungsmethoden, die bezweckten, eine totalitäre staatliche Kontrolle auf den intimsten Bereich persönlicher Lebensgestaltung auszudehnen. Sexualpartner wurden in Verhören gezwungen, Namen preiszugeben. Die Denunziation durch Nachbarn, Arbeitgeber und Hoteliers wurde ermutigt (Ackermann, a.a.O., Seite 152). Aufgrund § 2 der Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 (Reichsgesetzblatt I Seite 1679) schließlich konnte im Krieg auf eine zusätzliche Strafverschärfung erkannt werden.

Nach dem Ende der NS-Diktatur sank die Zahl der Verurteilten wieder, trotz zunächst unveränderter Gesetzeslage.

So waren es in den Jahren 1953 bzw. 1955 nur noch 1620 bzw. 1628 Personen, die nach § 175 StGB verurteilt wurden (Schönke, StGB, 9. Auflage 1959, § 175 Anm. II.1).

Auch wenn daher die §§ 175, 175 a StGB vom Kontrollratsgesetz Nummer 11 nicht erfasst wurden und auch das Bundesverfassungsgericht die Vorschriften noch im Jahre 1957 nicht als per se verfassungswidrig eingestuft hat, so rechtfertigt doch die Art ihrer Anwendung durch die Gerichte zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die Annahme, dass die auf ihnen fußenden Urteile sämtlich der Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes dienten und daher aufzuheben sind. Da von einer systematischen Verfolgung Homosexueller aus weltanschaulichen Gründen spätestens mit der erklärten Verschärfung des Verfolgungsdrucks durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935

(Reichsgesetzblatt I Seite 839) auszugehen ist, sind jedenfalls alle Urteile, zu deren Begründung die §§ 175, 175 a Nummer 4 RStGB in der Fassung der Novelle vom 28. Juni 1935 herangezogen wurden, aufzuheben und die ihnen zugrunde liegenden Verfahren sind einzustellen.

Die betroffenen Männer und ihre Angehörigen haben Anspruch auf eine grundsätzliche Klarstellung durch den Gesetzgeber. Es ist weder erforderlich noch geboten, sie auf die Generalklausel des § 1 NS-AufhG zu verweisen und die Feststellung ihrer Rehabilitation von einer Einzelfallprüfung anhand der Akten bzw. der Urteilsgründe durch die Staatsanwaltschaft abhängig zu machen, zumal diese Klärung im Einzelfall mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann, weil die notwendigen Dokumente und Urteile aus der NS-Zeit nicht mehr oder nicht mehr vollständig vorhanden sind.

Für die Urteile gegen Homosexuelle auf Basis der Rechtslage vor dem 28. Juni 1935 bleibt es dagegen bei der Aufhebung durch die Generalklausel des § 1 NS-AufhG; auch diese Urteile sind aufgehoben, soweit sie ebenfalls unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind.

3. Kosten Haushaltsausgaben sind mit dem Gesetz nicht verbunden.

Die Gesetzesänderung kann vielmehr zu einer Vereinfachung und damit zu einer geringen Entlastung der öffentlichen Haushalte führen, da in Einzelfällen entgegen dem bisher geltenden Recht die Feststellung eines Rehabilitationsfalles durch die Staatsanwaltschaft nach § 6 Absatz 1 des NS-Aufhebungsgesetzes vereinfacht wird.