Blinde Menschen und erheblich sehbehinderte Menschen

Blinde Menschen und erheblich sehbehinderte Menschen im Sinne von § 72 Absatz 5 SGB XII erhalten in Deutschland Blindengeld nach den Blindengeldgesetzen der Bundesländer. Beim Blindengeld handelt es sich um einen einkommensunabhängigen Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen. Die landesrechtlichen Regelungen weichen erheblich voneinander ab. In manchen Ländern sind die Regelungen zum Blindengeld in Landespflegegesetzen enthalten, die auch Leistungen für gehörlose oder pflegebedürftige Menschen begründen. Auch die Höhe der Landesblindengelder ist sehr unterschiedlich.

Das Hamburgische Blindengeldgesetz (HmbBlinGG) sieht einen einkommensunabhängigen Nachteilsausgleich für blinde und stark sehbehinderte Menschen im Sinne von §72 Absatz 5 SGB XII vor. Mit dem von der Bürgerschaft beschlossenen 4. Gesetz zur Änderung des HmbBlinGG vom 9. September 2008 (HmbGVBl. S. 328) wurde eine Dynamisierung des Blindengeldes entsprechend den Veränderungen des Rentenwertes in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt. Seit der letzten Anpassung zum 1. Juli 2009 beträgt das Blindengeld in Hamburg monatlich 463,92 Euro.

In allen Landesblindengeldgesetzen ist der Anspruch auf Blindengeld daran geknüpft, dass der blinde Mensch seinen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt in dem jeweiligen Bundesland hat. Gegen das Wohnsitz- und Aufenthaltserfordernis in den deutschen Landesblindengeldgesetzen hatte die EUKommission Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Zur Begründung führte die EU-Kommission aus, dieses Tatbestandsmerkmal verstieße gegen die Bestimmungen der Verordnungen (EG) Nr. 1408/1971 und Nr. 883/2004.

Nach den genannten europäischen Verordnungen haben berufstätige Bürger des europäischen Wirtschaftsraumes und der Schweiz einen unmittelbaren Rechtsanspruch auf Sozialleistungen ihres Beschäftigungslandes, und zwar unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Wohnort bzw. gewöhnlichem Aufenthalt. Dadurch sollen sie vor Nachteilen geschützt werden, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb dieses Rechtsraumes wahrnehmen. Einen derartigen Nachteil stellt nach Auffassung der EU-Kommission die Bewilligung von Sozialleistungen nach dem Wohnortund Aufenthaltsprinzip dar, wie dies bei den deutschen Landesblindengeldern der Fall ist.

Die materiell-rechtliche Wirkung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 entfaltete sich ab Inkrafttreten der Durchführungs-Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zum 1. Mai 2010.

Beide Verordnungen ergänzen die bestehende Verordnung (EG) Nr. 1408/1971. Ursprünglich war Deutschland, anders als die EU-Kommission, der Auffassung, dass die letztgenannte Verordnung keine Exportierbarkeit der Landesblindengelder begründe, da die Landesblindengeld-Gesetze im Ausnahmekatalog einer Anlage zu dieser Verordnung aufgeführt wären. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und der Klagankündigung der EU-Kommission hat Deutschland seine Rechtsauffassung geändert.

Eine von der Konferenz der Obersten Landessozialbehörden (KOLS) beauftragte Länder-Arbeitsgruppe, an der auch Hamburg beteiligt war, hatte sich im Mai 2009 mit den Auswirkungen der genannten EU-Rechtsquellen auf die Bewilligung der Landesblindengelder beschäftigt und Empfehlungen erarbeitet. Diese hat die KOLS in ihrer Herbstsitzung am 10./11. September 2009 angenommen.

Zur Abwendung einer Klage der EU-Kommission gegen Deutschland hat die 87. Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) am 17. Februar 2010 in einem Umlaufbeschluss erklärt, die Länder seien sich einig, dass die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 als unmittelbar anwendbares europäisches Recht beim Vollzug der Landesblindengeldgesetze Vorrang habe. Darüber würden die Länder die Vollzugsbehörden informieren.

Auf Grund der in allen Ländern unterschiedlichen gesetzgeberischen Verfahren hatte die ASMK keinen genauen Zeitplan für die Anpassung genannt.

Die wesentlichen Konsequenzen aus dem ASMK-Beschluss und den Empfehlungen der von der KOLS eingesetzten Länder-AG lauten:

­ Die ab 1. Mai 2010 geltende VO 883/04 ist als höherrangiges Recht unmittelbar anzuwenden.

­ Die Länder erkennen die darin enthaltenen Bestimmungen auch vor ihrem Inkrafttreten an, und zwar als Konsequenz aus der Rechtsprechung des EuGH zur VO 1408/71.

­ Die Länder werden ihre Landesblindengeldgesetze überprüfen und eine erforderliche europarechtskonforme Anpassung der Gesetze einleiten.

­ Abweichend vom Wohnortprinzip kann die Anwendung europäischen Rechts in bestimmten Einzelfällen zu einer Bewilligung von Blindengeld führen.

­ Bei innerdeutschen Berufspendlern bleibt es beim Wohnortprinzip, da die europäischen Verordnungen hier nicht einschlägig sind.

­ Gleichartige Leistungen eines anderen Staates im Geltungsbereich der genannten Verordnungen sind auf das Landesblindengeld anzurechnen, sofern die Anrechnungsvorschriften der Landesblindengelder dies vorsehen.

2. Auswirkungen des EU-Rechts auf die Bewilligung von Blindengeld nach dem HmbBlinGG

Der Senat geht davon aus, dass das europäische Recht nur in wenigen Einzelfällen neue Rechtsansprüche begründen wird. Anspruchsberechtigt können sein:

­ Antragsteller aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum und der Schweiz, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 1 HmbBlinGG nicht in Hamburg haben, jedoch eine Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit in Hamburg ausüben. Sie unterliegen gemäß Artikel 11 Absatz 3 Buchstabe a) der VO 883/2004 den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates.

­ Empfängerinnen und Empfänger von Blindengeld nach dem HmbBlinGG, solange sie für ein deutsches Unternehmen eine befristete Beschäftigung in einem ausländischen Staat aus dem Geltungsbereich der VO 883/2004 ausüben (Entsendung) und deswegen ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 1 HmbBlinGG nicht mehr in Hamburg haben. Sie behalten ihren Anspruch auf das Hamburgische Blindengeld nach Maßgabe der Artikel 12 und 15 der VO 883/2004. Hilfskräfte der Europäischen Union können ein Wahlrecht ausüben, welchem nationalen Recht sie sich für die Dauer ihrer Tätigkeit bei der EU unterstellen wollen.

Anspruchsberechtigte, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 1 HmbBlinGG in Hamburg haben und eine Beschäftigung im EU-Ausland ausüben, unterliegen den Rechtsvorschriften der sozialen Sicherung des Beschäftigungslandes. Nach Artikel 11 der VO 883/2004 hätten diese „Grenzgänger" nur Anspruch auf Leistungen im Beschäftigungsstaat. Wegen der Aufenthaltsregelung im HmbBlinGG bleibt ihr Anspruch auf das Hamburger Blindengeld jedoch erhalten. Gleichartige Leistungen sind gemäß § 3 Absatz 1 HmbBlinGG anzurechnen, also auch Leistungen des Beschäftigungsstaates.

Bei den VO 1408/1971 und 883/2004 sowie der Durchführungs-VO 987/2009 handelt es sich um unmittelbar anzuwendendes Recht. Somit ist es rechtlich nicht zwingend notwendig, das HmbBlinGG zu ändern. Der Senat ist jedoch der Auffassung, dass eine Anpassung des HmbBlinGG im Interesse der Rechtsklarheit geboten ist. Im Übrigen hat die ASMK im genannten Beschluss vom 17. Februar 2010 die europarechtskonforme Anpassung der Landesblindengeldgesetze zugesagt.

Mit dem anliegenden Gesetzentwurf soll das HmbBlinGG europarechtskonform angepasst werden.

Die Gesetzesänderung wird nur in sehr wenigen Einzelfällen einen Anspruch auf das Hamburgische Blindengeld begründen. Gleichartige Leistungen der Heimatstaaten wären anzurechnen. Deshalb ist nur mit geringfügigen Mehrbedarfen zu rechnen, die im Rahmen der veranschlagten Mittel zu decken wären.

Die Bezirksämter sind zeitnah informiert worden, dass die genannten europäischen Verordnungen unmittelbar anzuwenden sind. Nach dem Beschluss der Bürgerschaft wird die zuständige Behörde mit den Bezirksämtern eine Fachanweisung zur Umsetzung der Gesetzesänderung abstimmen. Diese Fachanweisung wird die Globalrichtlinie zum HmbBlinGG vom 21. Februar 2006 ablösen, die zum 28. Februar 2011 außer Kraft getreten ist. Bis zum Inkrafttreten der neuen Fachanweisung soll sie inhaltlich weitergelten.