Strafvollzug

Die Bürgerschaft hat an den Senat am 5./6. Mai 1999 folgendes Ersuchen gerichtet: „Der Senat wird ersucht, der Bürgerschaft bis zum 15. Juni 1999 zu berichten:

1. über den aktuellen Sachstand, seine Bewertung und Behandlung der verschiedenen Gesetzesinitiativen und gegebenenfalls weiteren Überlegungen zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems auf Bundesebene;

2. über das Ausmaß der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen in Hamburg, über die soziale Situation des hiervon betroffenen Personenkreises und über Möglichkeiten, die Zahl zu verbüßender Ersatzfreiheitsstrafen zu verringern;

3. über den Umfang und die bisherigen Erfahrungen mit gemeinnütziger Arbeit im Rahmen der derzeit geltenden Rechtslage und

4. welche Maßnahmen ergriffen werden können, um bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafen bei Beziehern von staatlichen Leistungen und bei gering verdienenden Personen Ersatzfreiheitsstrafen zu vermeiden."

1. Der Stand der Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, seine Bewertung und die Behandlung der verschiedenen Gesetzesinitiativen auf Bundesebene

Die Diskussion um eine Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems hält seit Jahren an, ohne dass es bislang gelungen wäre, die dazu erforderlichen Gesetzesänderungen auf Bundesebene durchzusetzen. Bereits im Jahre 1992 befasste sich der Deutsche Juristentag mit der Frage, ob es sich empfehle, Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug vorzunehmen, und wies darauf hin, dass neuere Entwicklungen in Wissenschaft und Strafrechtspraxis, Erfahrungen im Ausland und eine stärkere Berücksichtigung der Opferinteressen Anstoß dazu geben müssten, das herkömmliche Sanktionensystem zu überdenken1). Durch das sogenannte Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 (BGBI. I, S. 3186) wurde zwar der Gedanke des Täter-Opfer-Ausgleichs im Strafgesetzbuch (StGB) verankert (§ 46 a StGB), andere Reformansätze blieben jedoch bislang weitgehend unberücksichtigt.

Unverwirklicht blieben im Wesentlichen

­ eine stärkere Betonung des Wiedergutmachungsgedankens;

­ das weitere Zurückdrängen von insbesondere kurzfristigem Freiheitsentzug, dessen schädliche Folgen (Arbeitsplatz- und Wohnungsverlust, Auflösung sozialer Beziehungen, Konfrontation des Gefangenen mit einer kriminogenen Subkultur in den Haftanstalten) eine erneute Straffälligkeit begünstigen;

­ die Eröffnung flexiblerer Reaktionsmöglichkeiten, insbesondere gegenüber solchen Tätern, die in wirtschaftlich und sozial eingeschränkten Verhältnissen leben, aber auch gegenüber solchen Tätern, die aufgrund sehr günstiger finanzieller Verhältnisse durch Geldstrafen nicht ausreichend abgeschreckt werden können.

Diese Leitgedanken haben nun jedoch in folgenden aktuellen Gesetzgebungsvorhaben ­ zum Teil erneut ­ ihren Niederschlag gefunden:

a) Gesetz zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als strafrechtliche Sanktion.

Freiheitsstrafe als Sanktion zur Seite gestellt wird.

Nachdem sich der 13. Deutsche Bundestag bis zum Ende seiner Legislaturperiode nicht mehr mit dem Entwurf befasst hatte (vgl. dazu unter 2.), ist er am 26. Februar 1999 vom Bundesrat mit der Stimme Hamburgs erneut beim Deutschen Bundestag eingebracht worden (Bundesratsdrucksache 99/99).

b) Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems

Der Entwurf sieht eine Stärkung des Instituts der Verwarnung mit Strafvorbehalt vor, das bislang in der gerichtlichen Praxis nur ein Schattendasein führt. Der Entwurf erweitert den Anwendungsbereich des § 59 StGB und sieht die Kombination der Verwarnung mit Auflagen wie dem Fahrverbot oder der gemeinnützigen Leistung vor. Er bezweckt weiter die Stärkung des Wiedergutmachungsgedankens im Rahmen der Verfahrenseinstellung nach § 153 a Strafprozeßordnung (StPO) und schlägt vor, den Umrechnungsmaßstab von Geldstrafen in Freiheitsstrafen durch eine Novelle des § 43 StGB2) von 1:1 in 2:1 zu verändern.

Hamburg ist bei diesem Gesetzesentwurf des Bundesrates (Bundesratsdrucksache 594/97), der am 27. November 1997 erstmals beim Deutschen Bundestag eingebracht worden war, als Mitantragsteller aufgetreten.

Auch dieser Entwurf wurde vom 13. Deutschen Bundestag nicht mehr abschließend beraten (vgl. dazu unter 2.).

Die erneute Einbringung durch den Bundesrat, wiederum mit der Stimme Hamburgs, erfolgte am 26. Februar 1999 (Bundesratsdrucksache 98/99).

c) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung, der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte und des Gesetzes über die Schiedsstellen in den Gemeinden (Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs)

Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung (Bundesratsdrucksache 325/99) bezweckt die Stärkung des TäterOpfer-Ausgleichs, der nach wie vor, vor allem im Bereich des Erwachsenenstrafrechts, nur in eingeschränktem Umfang zur Anwendung kommt. Eine neue prozessuale Grundnorm (§ 155 a StPO neu) hält Staatsanwaltschaften und Gerichte an, in jeder Lage des Verfahrens die Eignung des Falles für einen TäterOpfer-Ausgleich zu prüfen.

Herzstück des Entwurfs ist eine Erweiterung des Katalogs möglicher Auflagen zur Erlangung einer Verfahrenseinstellung in § 153 a StPO. Durch Aufnahme des Täter-Opfer-Ausgleichs in diesen Katalog soll den Staatsanwaltschaften und Gerichten größere Flexibilität bei der Ausgestaltung von Auflagen an den Täter ermöglicht werden. Schließlich enthält der Entwurf datenschutzrechtliche Regelungen und eine Anpassung der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO).

Der Bundesrat hat am 9. Juli 1999 gemäß Artikel 76 Absatz 2 GG zu dem Entwurf grundsätzlich zustimmend Stellung genommen, jedoch mit der Stimme Hamburgs eine zentrale Änderung im Interesse der Verletzten von Straftaten gefordert. Während nach dem Entwurf das ernstliche Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, für eine Beendigung des Verfahrens ausreichen soll, hat sich der Bundesrat dafür ausgesprochen, die automatische Einstellung des Verfahrens nur bei erfolgreichem Täter-Opfer-Ausgleich zuzulassen.

d) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes ­ elektronisch überwachter Hausarrest

Bereits am 19. September 1997 war durch das Land Berlin der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes dem Präsidenten des Bundesrates zwecks Einbringung beim Deutschen Bundestag zugeleitet worden mit dem Ziel, den elektronisch überwachten Hausarrest in das Strafvollzugsgesetz einzufügen und durch eine sogenannte Öffnungsklausel den Ländern die Erprobung des Instruments in Pilotverfahren zu ermöglichen (Bundesratsdrucksache 698/97). Da das Gesetzgebungsvorhaben in seiner damaligen Fassung aus verschiedenen Gründen umstritten war, wurde die Beratung der Vorlage am 12. November 1997 auf Antrag Hamburgs vertagt mit dem Ziel, durch Einsetzung einer Arbeitsgruppe den Strafrechts- und Strafvollzugsabteilungen der Justizministerien des Bundes und der Länder die Gelegenheit zu geben, die Anwendungsmöglichkeiten des Instruments und deren rechtliche und tatsächliche Umsetzbarkeit eingehend zu prüfen.

Auf Basis des Abschlussberichts dieser Arbeitsgruppe, an der auch Hamburg sich beteiligt hatte, beschloss die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 7. bis 9. Juni 1999 mit großer Mehrheit unter Einschluss Hamburgs, nunmehr auf Landesebene eine Entscheidung über das Schicksal des Gesetzgebungsvorhabens herbeizuführen. Der ursprüngliche Gesetzesentwurf Berlins wurde im Rechtsausschuss des Bundesrates am 23. Juni 1999 auf Antrag Hamburgs im Sinne der Beratungsergebnisse der Arbeitsgruppe modifiziert.

Der Bundesrat beschloss am 9. Juli 1999 mit 11 Ja-Stimmen bei 2 Gegenstimmen und 3 Enthaltungen, den Gesetzesentwurf in der modifizierten Fassung beim Deutschen Bundestag einzubringen.

Der Entwurf schlägt vor, durch eine auf 4 Jahre befristete Verordnungsermächtigung den Bundesländern die Möglichkeit zu eröffnen, den elektronisch überwachten Hausarrest im Wege der sogenannten „Vollzugslösung" zu erproben. Er greift damit eine wesentliche Forderung der Arbeitsgruppe auf, die sich gegen die sogenannte „Sanktionslösung" ausgesprochen hatte. Bei der Sanktionslösung träte der Hausarrest als selbständiges Institut neben die Geld- und die Freiheitsstrafe. Seine Verhängung stünde im Ermessen des Gerichts. Dieses rechtliche Modell birgt die Gefahr, dass einzelne Gerichte Angeklagte zu einem Freiheitsentzug im Hausarrest verurteilen, die sie sonst nur zu einer Geldstrafe oder zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt hätten (sog. „Net-Widening Effekt"). Diese Gefahr kann durch eine Vollzugslösung weitgehend vermieden werden.

Hausarrest als Vollzugsform kann nämlich von vornherein nur auf Strafgefangene angewendet werden, setzt also die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder eine vollstreckbare Ersatzfreiheitsstrafe voraus. Der Entwurf lässt durch die Öffnungsklausel Raum für verschiedenartige Modellversuche. Erste Überlegungen gehen vom Einsatz zur Vermeidung kurzfristiger Freiheitsstrafen

2) § 43 Satz 1 und 2 StGB lauten bisher: „An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe".

Einsatz zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen (Modell Baden-Württemberg) bis zur Erprobung im Bereich der Entlassungsvorbereitung bei Gefangenen mit längerer Strafdauer (Modell der Justizbehörde).

e) Entwurf eines Gesetzes zur verbesserten Abschöpfung von Vermögensvortellen aus Straftaten

Bereits am 2. Januar 1998 hatte das Bundesministerium der Justiz den Entwurf eines Gesetzes zur verbesserten Abschöpfung von Vermögensvorteilen aus Straftaten vorgelegt. Das gesetzgeberische Anliegen, das im Ansatz nachdrückliche Unterstützung verdient, war indes noch nicht in einer Weise ausgereift, dass es in ein konkretes Gesetzgebungsvorhaben hätte umgesetzt werden können. Insbesondere waren die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen zu kompliziert und zu umständlich, als dass die erwünschte Effektivierung der Sanktionen Einziehung (§ 74 StGB) und Verfall (§ 73 StGB) damit hätte erreicht werden können.

Ein Gesetzentwurf liegt dem Bundesrat noch nicht vor.

f) Weitere Überlegungen zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems auf Bundesebene

Unter dem Eindruck der andauernden Diskussion um die Zukunft des Sanktionensystems setzte am 21. Januar 1998 der damalige Bundesminister der Justiz eine Kommission ein, die den Auftrag erhielt, das bestehende System einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Die Kommission soll untersuchen, ob und in welchem Umfang neben die Sanktionsformen Geld- und Freiheitsstrafe zukünftig auch neue Strafformen treten sollten. Neben den (unter I.1. aufgeführten) aktuellen Gesetzesentwürfen des Bundesrates und der Bundesregierung hat die Kommission in diesem Zusammenhang auch einen Gesetzentwurf der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag aus der 13. Wahlperiode („Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems", Bundestagsdrucksache 13/4462) zu berücksichtigen. Dieser Entwurf, der gleichfalls der Diskontinuität anheimgefallen ist, hatte u. a. die Aussetzung von Geldstrafen zur Bewährung, das Fahrverbot als selbständige Sanktion und Möglichkeiten zur nachträglichen Reduktion von Geldstrafen vorgeschlagen.

Die Kommission befasst sich aber auch mit grundsätzlichen Fragen wie der Einführung einer Strafbarkeit für juristische Personen3) oder der Einführung der Einheitsstrafe im Erwachsenenstrafrecht.

Die Kommission hat ihre Beratungen noch nicht abgeschlossen. Unter Berufung auf die Arbeit dieser Kommission waren bereits die verschiedenen Gesetzgebungsvorhaben des Bundesrates in der vergangenen Legislaturperiode nicht beraten worden [(vgl. oben 1 a) und b)].

Der Senat begrüßt zwar einerseits die Bemühungen auch der neuen Bundesjustizministerin, die Reform des Sanktionenrechts ganzheitlich anzugehen; andererseits sieht der Senat auch erheblichen Handlungsbedarf.

Neuere kriminologische Untersuchungen zeigen nach wie vor in allen Bundesländern einen sehr hohen Anteil von Ersatzfreiheitsstrafen, der in den letzten Jahren sogar noch gestiegen ist. Auch die kurze Freiheitsstrafe ist

­ entgegen der Konzeption des Gesetzgebers ­ in der Sanktionspraxis der Gerichte noch nicht zur seltenen Ausnahme geworden4). Der Senat setzt sich deshalb nachhaltig dafür ein, die Reformen ­ insbesondere bei der Neubestimmung des Verhältnisses von Ersatzfreiheitsstrafe zu Geldstrafe ­ zügig voranzutreiben. Die dadurch zu erwartende Entlastung des Strafvollzugs wird zu einer Entlastung der öffentlichen Haushalte beitragen und kann eventuelle Mehraufwendungen ­ beispielsweise für Projekte der gemeinnützigen Arbeit, des Täter-Opfer-Ausgleichs oder des elektronisch überwachten Hausarrests ­ ausgleichen.

2. Ersatzfreiheitsstrafen in Hamburg

a) Zum Ausmaß der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen

Die Zahl der wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe einsitzenden Gefangenen wird jeweils mittwochs und zusätzlich an jedem ersten Tag eines Monats erhoben. Die zu den Erhebungszeitpunkten5) ermittelten Zahlen ergeben die folgende durchschnittliche monatliche Belegung der Vollzugsanstalten mit Verbüßern von Ersatzfreiheitsstrafen: 1997 106

1998 138

1999 162

b) Zur sozialen Stellung des Personenkreises, der von Ersatzfreiheitsstrafen betroffen ist

Aus verschiedenen Erhebungen6) ist bekannt, dass es sich bei den Verbüßern von Ersatzfreiheitsstrafen ganz überwiegend um Menschen ohne Erwerbseinkommen, ohne festen Wohnsitz, mit geringer sozialer Kompetenz zur Regelung ihrer Angelegenheiten und mit erheblichen Suchtproblemen handelt. Sie befinden sich als sozial Ausgegrenzte in einer mehrfach problematischen Situation. Die begangenen Straftaten ­ vorrangig Delikte aus dem Bereich der Armuts- und Beschaffungskriminalität ­ sind zumeist Ausdruck der problematischen Lebenssituation. Die verursachten Schäden liegen überwiegend im Bagatellbereich.

3. Maßnahmen zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen, insbesondere bei Beziehern von staatlichen Leistungen und bei gering verdienenden Personen

a) Vermeidung von Bagatellstraftaten

Zur Vermeidung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen ­ insbesondere bei Beziehern von staatlichen Leistungen und bei gering verdienenden Personen ­ sind in einem ersten Schritt solche Instrumente einzusetzen, die die Straffälligkeit im Bagatellbereich selbst

3) Bislang können nach Deutschem Recht gegen juristische Personen lediglich nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz Geldbußen bis zu 1 Million DM verhängt werden.

4) Heinz, Sanktionierungspraxis in Deutschland, ZStW 1999, 461, 500f.

5) Die Durchschnittszahlen errechnen sich aus je 58 Erhebungszeitpunkten in den Jahren 1997 und 1998 sowie 30 Erhebungszeitpunkten bis zum 7. Juli 1999

6) Sessar/Villmow/Vonhoft, Kurzstrafenvollzug in Hamburg; Empirische Grundlagen, 1992; Villmow/Vonhoft, Kurzstrafenvollzug, Teil II ­ Aus der Sicht der Betroffenen ­ 1996; Meyer, Jahresauswertung 1997 zum Modellprojekt „Ersatzfreiheitststrafen".