Grenzsituationen in diesem Sinne sind immer auch Grenzsituationen des Jugendhilfesystems

IV Jugendhilfe

Gefährdung

Die Enquete-Kommission sieht im Umgang mit Kindern und Jugendlichen und ihren erwachsenen Bezugspersonen, die sich in überfordernden Grenzsituationen befinden, dringenden Handlungsbedarf. Insbesondere die Untersuchung „Staatliche Reaktionsweisen gegenüber jugendlichen Intensivtätern in Hamburg" macht diesen Handlungsbedarf deutlich.

Grenzsituationen in diesem Sinne sind immer auch Grenzsituationen des Jugendhilfesystems. Die Abgrenzung zur allgemeinen Jugendhilfe wird in den besonderen Situationen gesehen, in die Jugendhilfe und ihre Bezugspersonen geraten können, wenn problematische Lebenssituationen sich verdichten zu einer akuten Gefährdungssituation.

Die Diskussion über „Hilfen zu Erziehung in Grenzsituationen" machte die Ambivalenz des Gefährdungsbegriffs deutlich.

Qualifiziertes professionelles Handeln in der Jugendhilfe ist ohne eine Klärung dieser Ambivalenzen und ihres Verhältnisses zueinander kaum möglich. Auch gegenüber der politischen Öffentlichkeit sieht die Enquete-Kommission hier einen Bedarf an Reflexion und Aufklärung, damit nicht einseitig definierte „Gefährdungstatbestände" zur Legitimation ordnungspolitischer Forderungen an die Jugendhilfe benutzt werden. Aber auch bei den Professionellen in der Kinder- und Jugendhilfe kann ein nicht ausreichend differenzierter Begriff von Gefährdung oder der unreflektierte Verzicht hierauf zu kontraproduktiven Reaktionen auf das Handeln von Jugendlichen führen.

Die Annahme, dass ein Kind bzw. Jugendlicher gefährdet sei, ist für alle in das Leben von Menschen eingreifenden sozialpädagogischen Interventionen scheinbar unerlässlich. Welche Rechtfertigung gäbe es in einer demokratischen Gesellschaft sonst?

Was aber jeweils als gefährdend gilt, ist gesellschaftlich bestimmt und historisch veränderlich. Daraus folgt: „Sowohl juristisch wie gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch ist Gefährdung nur als unbestimmter Begriff zu fassen, der sich nur interessengeleitet als herrschende oder abweichende Meinung in einem bestimmten historischen Kontext interpretieren lässt." (J. Blandow, 1996).

Im gegenwärtigen Diskurs existiert eine Tendenz, die gefährdenden Bedingungen in den Hintergrund zu rücken und die Sicht auf Einzelne zu konzentrieren, deren Handeln und Verhalten als Ausdruck von Gefährdung interpretiert wird. Gefährdung bzw. Gefährdet-Sein wird damit zu einer personenspezifischen Eigenschaft gemacht, die besondere individuelle Behandlung erfordert. Eine andere verbreitete Sichtweise besteht darin, Kinder und Jugendliche allein als Opfer sozialer Umstände zu sehen, so dass sie als eigenverantwortliche Gestalter ihrer Entwicklung gar nicht mehr in Erscheinung treten.

Im KJHG wird der Gefährdungsbegriff nur unter dem Gesichtspunkt der Eingriffsorientierung (Inobhutnahme) in Anlehnung an das BGB weiterverwendet. Als Voraussetzung für die Gewährung von Erziehungshilfen wurden sogenannte Gefährdungstatbestände im KJHG jedoch abgeschafft.

Gründe für diese Entscheidung des Gesetzgebers waren u.a.:

- Die Orientierung des Gefährdungsbegriffs an Durchschnitts- oder Idealnormen leugnete die Existenz von an verschiedenen Sicht- und Lebenslagen orientierten Normalitätskonzepten.

IV Jugendhilfe

- Der individuumkonzentrierte Gefährdungsbegriff individualisiert gesellschaftlich verursachte Probleme und schiebt sie damit auf Einzelne ab, an denen sie dann symbolisch „behandelt" werden können (Sündenbockmechanismus).

- Der an Normen und normativen Erwartungen der Gesellschaft orientierte Gefährdungsbegriff ist statisch. Er erfasst nicht das prozesshafte Geschehen, das sich hinter dem Gefährdungsbegriff verbirgt, z. B. die aktive Rolle der Instanzen sozialer Kontrolle bei der Konstruktion sog. Gefährdungskarrieren, und übersieht durch seine Eingriffsorientierung die ihrer Normalität entsprechenden Kompetenzen der als gefährdet Definierten und damit deren Selbsthilfe- und Selbstorganisationspotentiale.

Blandow begrüßt die Eliminierung des Gefährdungsbegriffs aus dem KJHG ausdrücklich, beklagt aber, dass es sich bislang überwiegend lediglich um eine „sprachliche Glättung" handelt. Realisiert würde die neue Sichtweise erst, wenn mit der „Enthierarchisierung des Interventionssystems die durchgehende Orientierung der sozialen Dienste an den Bedürfnissen im Einzelfall" durchgesetzt sei. Die neue Sichtweise auf Gefährdung definiere „von außen auf eine Person einwirkende Gefahren, die es von ihr abzuwenden gelte" (Blandow a.a.O.). Das bedeutet: Nicht-gefährdende äußere Bedingungen schaffen und Schutz gewähren.

Sozialpädagogisch wird das in dem von Lothar Böhnisch formulierten Paradigma der „Lebensbewältigung" umgesetzt. Es verweist auf die Problematik der Handlungsfähigkeit und auf die biografischen Möglichkeiten der sozialen Integration. So verstanden wären Gefährdete diejenigen, deren Handlungskompetenz nicht ausreicht, um Gefährdungen zu begegnen ­ bzw. temporär in Gefährdungssituationen sich behaupten und überleben zu können.

In Konsequenz dieses Ansatzes hätte Kinder- und Jugendhilfe darauf hinzuwirken, die Handlungskompetenzen der in solchen Situationen sich Befindenden zu fördern und zu stärken.

Unbestreitbar ist, dass in der individuellen Entwicklung unter anderem aufgrund unverarbeiteter innerer Konflikte, anhaltender belastender Erfahrungen und traumatisch wirkender Verletzungen vor allem im Beziehungsnahraum Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen entstehen können, die sich allmählich habitualisierende und eine positive Entwicklung behindernde Reaktions- und Handlungsmuster hervorbringen. Bei diesen Kindern und Jugendlichen kann von einer inneren Gefährdung gesprochen werden, die vom Hilfesystem psychologisch qualifizierte Beratung und psychotherapeutische Unterstützung verlangt. Die positive Veränderung der Lebensbedingungen alleine reicht bei diesen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien nicht aus.

Gefährdende Lebenslagen und Situationen werden von verschiedenen Jugendlichen höchst unterschiedlich wahrgenommen und jeweils subjektiv verarbeitet. Beides, Wahrnehmung und subjektive Verarbeitung, sind Momente und Ergebnisse des jeweils unverwechselbaren individuellen biografischen Verlaufs. Die oft erstaunlichen Unterschiede bei Kindern und Jugendlichen, die unter ähnlichen bzw. vergleichbaren Bedingungen aufwachsen, machen die Vielfalt individueller Entwicklungsmöglichkeiten deutlich und verbieten es, zwischen gefährdenden Lebensumständen und ihren möglichen Konsequenzen für Kinder und Jugendliche im Einzelfall einen Automatismus in Richtung auf Devianz und Delinquenz zu unterstellen.

IV Jugendhilfe

Mit den Sichtweisen auf Gefährdung hängt auch die Frage von Toleranz und Akzeptanz bezogen auf normverletzendes und risikoreiches Handeln von Jugendlichen zusammen. Die Enquete-Kommission vertritt dazu die Auffassung, dass die Akzeptanz sich auf die Person des Jugendlichen beziehen soll, nicht aber die Tolerierung jeglichen Handelns bedeuten darf. Gegenüber Jugendlichen, die sich selbst oder Dritte mit ihrem Handeln in Gefahr bringen, müssen Fachkräfte der Jugendhilfe in allen ihren Bereichen mit Konfliktbereitschaft und -fähigkeit ihre Verantwortung wahrnehmen. Die Sichtweisen und Handlungen der Jugendlichen sind nachhaltig mit den eigenen Sichtweisen und Haltungen zu konfrontieren. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass die Sicht der Professionellen in jedem Fall die Lage und das Handeln des Jugendlichen adäquat erfasst und die daraus abgeleiteten Vorschläge, Angebote und Maßnahmen angemessen und hilfreich sind. Konfliktbereitschaft der Fachkräfte bedeutet, mit den Jugendlichen in eine Auseinandersetzung zu gehen, in deren Verlauf sich klären kann, was jeweils der nächste Schritt sein sollte. Dieses Verständnis von Konfliktbereitschaft sucht nach den situationsangemessenen Handlungskompetenzen der Jugendlichen als einer wichtigen Bedingung für pädagogische Veränderungsprozesse und anerkennt in der Akzeptanz ihrer Persönlichkeit ihren Subjektstatus als Voraussetzung für jedes ernst gemeinte Partizipationsangebot.

Die folgenden Ausführungen zu „Hilfen zu Erziehung in Grenzsituationen" gehen von dem hier erläuterten Verständnis von Gefährdung aus.

Zwang zur Verantwortung

Die Enquete-Kommission geht davon aus, dass Grenzsituationen, in denen Jugendliche sich befinden, immer auch Grenzsituationen der Jugendhilfe sind. Es handelt sich um Situationen, in die Jugendhilfe und ihre Bezugspersonen geraten können, wenn problematische Lebenssituationen sich so verdichten, dass die den Jugendlichen und ihrem sozialen Bezugssystem zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien bzw. sozialen Kompetenzen eine befriedigende Lösung nicht versprechen.

Solche Situationen sind geprägt

- vom aktuellen Lebensort und den dort relevanten Bezugspersonen,

- vom biografischen Hintergrund,

- von der aktuellen physischen und psychischen Verfassung,

- von sich wiederholenden Verhaltensmustern, vor allem bei Selbst- und Fremdgefährdung.

Für die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe erwachsen aus solchen Situationen Anforderungen, die nur mit qualifiziertem und auf der Grundlage der Leitnormen des KJHG professionellem Denken und Handeln angegangen werden können. Aber selbst wenn dies gegeben ist, wird es zu Situationen der Überforderung und des Scheiterns der Jugendhilfe kommen können, in denen die Gefahr kurzschlüssigen Handelns besteht: z. B. resignativer Rückzug ­ Abschiebung an andere Systeme wie Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Justiz ­ angeordnete Zwangsmaßnahmen innerhalb des Jugendhilfesystems. Statt kurzschlüssig und hektisch zu reagieren, sollte das „Scheitern" ohne Tabuisierungen eingestanden werden, um auf allen Seiten eine neue Offenheit zu ermöglichen und damit Chancen für die soziale Phantasie und unkonventionelle Lösungen für den Einzelfall zu eröffnen. Fachkräfte der sozialen Arbeit, die sich gegenüber Vorgesetzten, Geldgebern und Öffentlichkeit ständig mit „Erfolg" legitimieren müssen, haben für eine Selbstevaluation ihres Handelns.