Dennoch sind Situationen unvermeidlich in denen Erträglichkeitsgrenzen überschritten werden

IV Jugendhilfe

Besondere Krisen- und Gefährdungssituationen sind, einem Konsens in der Fachdiskussion folgend, nicht allein unter individuenbezogenen Aspekten zu sehen. Sie führen einerseits zu einer Überforderung der Kinder und Jugendlichen selbst sowie ihrer erwachsenen Bezugspersonen, fordern zugleich aber auch die Jugendhilfe in einem besonderen Maße heraus. Häufig führen sie auch in der Jugendhilfe zu Grenzsituationen - Grenzen der persönlichen Belastbarkeit der Betreuer und Grenzen institutioneller Möglichkeiten. Deshalb ist eine kontinuierliche Weiterbildung der vor Ort Tätigen zu fordern, zusammen mit einer ständig die Arbeit begleitenden Supervision.

Dennoch sind Situationen unvermeidlich, in denen Erträglichkeitsgrenzen überschritten werden. Die Belastbarkeit von Mitarbeitern - wie auch Angehörigen - ist auch durch weitere Qualifikationen nicht beliebig steigerbar, so berechtigt und notwendig eine kritische Auseinandersetzung auf konzeptioneller und, im Einzelfall, persönlicher Ebene auch sein mag. Die Vorstellung, dass jede Mitarbeiterin oder jeder Mitarbeiter vor Ort in jeder noch so zugespitzten Situation handlungsfähig bleiben muss und Trennungen von Kindern und Jugendlichen dadurch grundsätzlich vermieden werden können, geht von einem illusionären Menschenbild aus - von Menschen ohne Erträglichkeitsgrenzen, die über unbegrenzte Fähigkeiten verfügen.

In Hamburg besteht ein Bedarf an besonderen Angeboten und speziellen Einrichtungen für junge Menschen in zugespitzten Lebenssituationen und mit spezifischen Problemlagen. Dies gilt u. a. für Kinder und Jugendliche mit starken psychischen Beeinträchtigungen oder psychiatrisch relevanten Erkrankungen, etwa bei Drogenabhängigkeit. Für die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung besteht die Notwendigkeit einzelner geschlossener Plätze.

Im Sinne einer Spezialisierung führt der „Bericht der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Vertreter der Fachkonferenzen der Jugend-, Innen-, Kultus- und Justizminister" (1999, S. 4 f.) auch im Hinblick auf delinquente Jugendliche aus: „Einrichtungsplätze mit einer Betreuung mit hoher Verbindlichkeit und einem eventuellen Wechsel des Lebensfeldes können dabei ein wichtiger Beitrag sein, um junge Menschen von einer Gefährdung ihrer weiteren Entwicklung zu bewahren. Mit derartigen flexiblen, aber auch personalintensiven Betreuungsangeboten mit stringenter Anwendung von Regeln, Vereinbarungen und Erziehungsgrundsätzen kann auch dem mehrfachen oder schwer rechtswidrigen Verhalten von strafunmündigen Kindern seitens der Jugendhilfe im Sinne einer notwendigen Krisenintervention begegnet werden."

Die Bedeutung besonderer pädagogischer Settings und Institutionen besteht darin, dass sie ein Hilfsmittel darstellen, das intensive Beziehungserfahrungen ermöglicht, einen äußeren Rahmen dafür, dass pädagogische und therapeutische Prozesse gelingen können. Es kommt also vor allem darauf an, dass verlässliche und intensive Beziehungsstrukturen entstehen und aufrechterhalten werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Bearbeitung der psychosozialen Problematik der Betroffenen möglich.

Eine von außen betrachtet unverständlich bleibende Akzeptanz besonderer Lebensumstände, z. B. die Anerkennung der Prostitution sehr junger Mädchen als „normale" Lebensform, dürfte die Folge eines unlösbaren Dilemmas sein, das sich aus einem extensiven Verständnis von Lebensweltorientierung ergibt. Wenn eigene Grenzen in der Beziehung nicht gesehen werden dürfen und zudem spezielle, dringend benötigte Institutionen nicht zur Verfügung stehen, ist es naheliegend, dass aus Entlastungszwecken eine „Normalisierung" des Abweichenden erfolgt. Sie befreit von Auseinandersetzungen, die als überfordernd und unlösbar erlebt werden. Das Leid der Betroffenen wird aus der Welt geschafft, indem man es „normalisiert".

IV Jugendhilfe

Wesentlich an den soeben dargestellten Ausführungen der „Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Vertreter der Fachkonferenzen der Jugend-, Innen-, Kultus- und Justizminister" ist, dass verbindliche Beziehungsangebote gefordert und der Erziehungsgedanke in Grenzsituationen gestärkt werden soll. Es geht hier mit anderen Worten darum, „fernab jeder ideologischen Grundsatzdebatte... vom schleichenden Rückzug aus der Erziehungsverantwortung" (Runde 1998, S. 11) abzukommen.

Eine benötigte professionelle Spezialisierung und institutionelle Differenzierung stößt bisher in Hamburg auf eine starke Reserviertheit, mitunter auch auf offene Ablehnung. Es herrscht bei einer Reihe meinungsbildender Autoren die Gewissheit, dass eine diagnostische Differenzierung fast zwangsläufig zu einer Defizitorientierung führen müsste, so dass Kinder in ihrer weiteren Entwicklung Schaden nehmen müssten (z. B.: Köttgen/Kretzer/Richter 1990, 8). Differenzierungsprozesse werden primär unter dem Aspekt der sozialen Ausgrenzung gesehen, als Folge unkontrollierter und unkontrollierbarer Verlegungs- und Abschiebungsimpulse. Die Gefahr einer „Psychiatrisierung" wird nachhaltig herausgestellt (Köttgen/Kretzer/Richter 1990), eine verbindliche Unterbringung von Jugendlichen (sog. geschlossene Heime) gilt als ein reines Repressionsinstrument (Bittscheidt 1998). Problematisch an dieser, bisher in Hamburg dominierenden Sichtweise20 ist nicht, dass die mit einer Spezialisierung verbundenen Gefahren wahrgenommen werden, sondern die Einseitigkeit, mit der dies geschieht. Sie führt dazu, dass die Möglichkeiten besonderer Betreuungssettings und institutioneller Rahmenbedingungen in ihrem positiven Gehalt kaum diskutiert werden und ihr Nutzen unerkannt bleibt.

Eine vollständige Wahrnehmung der in Frage stehenden Problematik muss deshalb beide Seiten beinhalten: Zum einen die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche in Krisen- und Grenzsituationen unnötigerweise in spezielle Einrichtungen abgeschoben werden, um schwierige Beziehungskonstellationen zu vermeiden. Weiterhin können aber auch Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien notwendige Hilfeleistungen und Unterstützungen dadurch vorenthalten werden, dass die realen Möglichkeiten besonderer Einrichtungen nicht anerkannt werden.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, warum die in Hamburg nahezu monopolartige Orientierung an dem Lebensweltkonzept in Krisen- und Grenzsituationen aufzugeben ist. Statt dessen ist die Entwicklung pluralisierter Ansätze zu fördern und konzeptionell zu verankern.

Dafür steht ein wissenschaftlich ausgewiesenes, breites Spektrum an Theorien und Konzepten im Umgang mit gefährdeten und massiv delinquenten Kindern und Jugendlichen zur Verfügung. Es beinhaltet differente Menschenbilder und vielfältige Verursachungs- und Veränderungstheorien. Auf der Handlungsebene führen sie zu unterschiedlichen Formen der Beziehungsgestaltung, in einem breiteren Spektrum institutioneller Rahmenbedingungen.

Diagnostische Erkenntnisse sind zu nutzen, therapeutische Verfahren vermehrt einzusetzen.

Ein solches Verständnis von Diagnostik entspricht dem Stand der wissenschaftlichen Fachdiskussion allerdings seit langem nicht mehr: Kornmann, R./Meister, H./Schlee, J., 1997; Schuck, D., 1990.

Das Amt für Jugend plädiert 1998 für eine Erweiterung des Handlungsspektrums der Jugendhilfe. In begründeten Einzelfällen bestehe die Notwendigkeit der „Nutzung geeigneter vorübergehender Lebensorte außerhalb bisherigen Lebens- und Betreuungszusammenhangs... (verbunden) mit dem Einsatz von in solchen Situationen besonders erfahrenen Fachkräften" (Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung, Amt für Jugend: Empfehlungen für das Case-Management in Grenzsituationen....1998, S. 2).

IV Jugendhilfe

Die zentrale Leitlinie zukünftiger Arbeit sollte in einer stärkeren Pädagogisierung des Umganges mit Kindern und Jugendlichen in Krisen- und Grenzsituationen bestehen. Dabei müssen die Entwicklungsbedürfnisse gefährdeter und massiv delinquenter Kinder und Jugendlicher ebenso zum Tragen kommen, wie von außen vorgegebene, unumgängliche Entwicklungsnotwendigkeiten, die die Interessen anderer widerspiegeln. Beide erfordern ein ausgeglichenes Verhältnis zueinander.

Die Stärkung des Erziehungsgedankens Bezüglich der Kinder- und Jugenddelinquenz ist im Rahmen des Arbeitsauftrages der Enquete-Kommission zunächst daran zu erinnern, dass das Jugendstrafrecht ein Erziehungsstrafrecht ist. Es geht davon aus, dass die Erziehung straffällig gewordener Jugendlicher Strafen soweit wie vertretbar ersetzen soll, so dass in Zukunft ein straffreies Leben möglich wird. Der dominante Erziehungsgedanke impliziert zugleich, dass Jugendliche aufgrund ihrer besonderen, krisenhaften Lebenssituation und ihrer noch nicht endgültig gefestigten Persönlichkeit für erfolgreiche Erziehungsprozesse zugänglich sind oder dies zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sein könnten. Der Erziehungsgedanke muss aus einer Fülle von Gründen auch bei der Betreuung und Förderung von Kindern und Jugendlichen zum Tragen kommen, die in ihrer Entwicklung in einem besonderen Maße gefährdet sind.

Dem Wandel gesellschaftlich dominierender Erziehungsvorstellungen folgend, wächst die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen nicht mehr in einem harten Klima der alten, autoritären Erziehung auf (Leggewie 1993; Schneider 1993). Dies gilt auch für Kinder, die in besonderem Maße in Krisen- und Grenzsituationen geraten. Typisch für diese Gruppe ist, dass sie nur begrenzt über verlässliche Beziehungserfahrungen verfügen. Kontinuierliche Erziehungsanforderungen werden ihnen kaum entgegengebracht. Das bedeutet nicht, dass sie vor gewalttätigen und narzisstischen Übergriffen geschützt wären. Im Gegenteil: Massive Gewalterfahrungen und Selbstwertkränkungen gehören sehr wohl zu ihren prägenden Lebenserfahrungen. Sie treten aber vor allem als Folge eruptiver Durchbrüche in einem ansonsten blassen Erziehungsgeschehen auf.

Vor dem Hintergrund eines Mangels an Beziehungs- und Erziehungserfahrungen, von erlebter Gewalt und narzisstischen Kränkungen, stellen sich vielfach gravierende seelische Probleme ein - ungelöste psychische Konflikte, strukturelle Beeinträchtigungen oder Entwicklungsrückstände.

Sie lassen sich folgendermaßen umreißen: Die Wahrnehmung der inneren und äußeren Realität gelingt häufig nur eingeschränkt. Die Gefahren des eigenen Handelns können nicht richtig eingeschätzt, längerfristige Folgen des Tuns nicht antizipiert werden. Ein sorgendes Verhältnis zu sich selbst fehlt vielfach weitgehend. Besondere Probleme macht die Steuerung aggressiver Impulse: Sie werden häufig nach außen verlegt. In der Folge erscheinen andere als gefährlich und bedrohlich, so dass es begründet erscheint, sie zu bekämpfen.

Hinzu kommen Spaltungsprozesse, die bewirken, dass andere Personen, ebenso wie der Jugendliche selbst, entweder nur als „gut" oder nur als „böse" erlebt werden. Eine innere Sicherheit kann dadurch nicht entstehen. Konflikte mit der Umwelt wie mit sich selbst lassen sich so nur schwerlich lösen.