Jugendhilfe

Jugendhilfe

Diese Jugendlichen verfügen, entgegen dem äußeren Schein, sehr wohl über eine Gewissensinstanz. Sie zeichnet sich durch eine grausame Härte aus: Im Falle eines Vergehens führt sie zu so unerträglichen Selbstvorwürfen, dass die kritischen inneren Stimmen zum Schweigen gebracht werden müssen. Eine kritische Selbstauseinandersetzung ist dann nicht mehr möglich.

Hinzu kommt fast regelhaft eine massive Selbstwertproblematik, mit einem besonderen Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung. Die Idealvorstellungen von sich selbst sind häufig erheblich überhöht und können in der Lebenspraxis nicht eingelöst werden. Untergründig dominieren Gefühle der eigenen Wertlosigkeit. Da ein gesichertes Selbstwertgefühl nicht entwickelt werden konnte, kommt es zu einem ständigen Schwanken zwischen zwei Extremen: Einerseits dem Versuch, sich z. B. durch delinquentes Verhalten unangreifbar, groß und bedeutend fühlen zu können, zum anderen zu heftigen Selbstentwertungen bei Mißerfolgen, die sich mitunter bis zum Selbsthaß steigern.

Die Möglichkeiten einer besseren zukünftigen Entwicklung sind wesentlich daran gebunden, dass neben Korrekturen der äußeren Realität auch die psychische Problematik in ihrer Bedeutung erkannt und in (sozial)pädagogischen oder therapeutischen Settings bearbeitet wird.

Da die klassischen, an Einsicht orientierten psychotherapeutischen Verfahren bei dieser Personengruppe nur begrenzt Erfolg versprechen, kommt einer erzieherischen Beeinflussung eine besondere Bedeutung zu.

Diese Kinder und Jugendlichen brauchen wohlwollende, verständnisvolle und zugleich konturierte Bezugspersonen, die sich ihnen in der Beziehung stellen. Wichtig ist, dass eine sorgende und schützende Haltung der Erziehenden deutlich wird. Dazu gehört auch, dass sie in zugespitzten Krisen- und Grenzsituationen handlungsfähig bleiben. Als von zentraler Bedeutung erweist es sich, dass die Kinder und Jugendlichen auf ein erwachsenes Gegenüber treffen, das ihrer vor allem aggressiv getönten Beziehungsgestaltung (Rauchfleisch 1992/1995) nicht ausweicht. Dazu gehört u. a. die grundsätzliche Bereitschaft, z. B. delinquentes Verhalten als solches zu benennen. Der eigene Willen der Erziehenden ist zu verdeutlichen. Grenzen müssen gezogen werden, wenn ein gemeinsamer Konsens nicht mehr möglich ist.

Grundsätzlich und so weit wie verantwortlich vertretbar, sollen die durchzuführenden Hilfen und Unterstützungen auch in Krisen- und Grenzsituationen im Einvernehmen mit den Kindern und Jugendlichen festgelegt und realisiert werden. Das dialogische Prinzip darf aber keine grenzenlose Anwendung finden: In extrem zugespitzten Situationen kann es sich als notwendig erweisen, dass Maßnahmen auch ohne Einverständnis des Kindes oder Jugendlichen erfolgen. Solche Maßnahmen erfordern eine differenzierte pädagogische Begründung und müssen im Hinblick auf das Wohl der Betroffenen ausgewiesen sein. Sie nur als „Repression" zu verstehen, verkennt die Komplexität der Beziehungsdynamik zwischen den professionellen Mitarbeitern und den Betroffenen. Denn die Kinder und Jugendlichen sind in sich selbst hochambivalent. Sie erleben beides, einen gefürchteten äußeren Eingriff und auch die ersehnte Befreiung aus einer kaum noch unerträglichen, überfordernden Situation.

Erziehung findet in Beziehungen statt, und Erziehung beinhaltet - ihrem Wesen nach - auch Momente des Zwangs. Eine vollständige Aufgabe von Intentionen und Handlungen der Erwachsenengeneration, die Kinder als Zwang erleben könnten, bedeutet zugleich die Aufgabe

IV Jugendhilfe des Erziehungsgedankens selbst. Deshalb wird die Auffassung nicht geteilt, dass ein „eindeutiges Verbot der Interventionen durch Zwang... die Glaubwürdigkeit der Intentionen der Jugendhilfe verbessern" würde (Bittscheidt 1998, S. 37 f.). Im Gegenteil: Es macht sie zumindest in einem Teil der Krisen- und Grenzsituationen handlungsunfähig.

Ein gefährlicher Irrtum besteht in der Annahme, man könne die Beziehung zu Kindern und Jugendlichen in Krisen- und Grenzsituationen durch ein ständiges Zurückweichen sichern und festigen. Ein Vermeiden notwendiger Interventionen und konflikthafter Auseinandersetzungen sowie der Verzicht auf wertgeleitete Erziehungspositionen erweisen sich für die psychische Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen als fatal. Ein solches Zurückweichen ist in einem überstrapazierten Freiwilligkeitspostulat genuin angelegt und ebenso in der These, Kinder und Jugendliche seien in noch so extrem zugespitzten Krisen- und Grenzsituationen „Experten ihres Lebens". Hinzu kommt, dass die Erziehenden aufgrund der Hamburger Vorgaben durch fehlende Sanktionsmöglichkeiten und institutionelle Alternativen in ihrer Handlungsfähigkeit von vornherein stark eingeschränkt sind.

Bei dem Plädoyer für die Stärkung des Erziehungsgedankens geht es nicht um eine sentimentale Rückwendung zu den längst vergangenen Zeiten einer stärker gesicherten Wertewelt. Konturierte Beziehungserfahrungen und die Auseinandersetzung mit Werten sind vielmehr aufgrund der inneren Entwicklungslogik von Kindern und Jugendlichen unabdingbar (Speck 1991).

Sie stellen eine entscheidende Bedingung dafür dar, dass die innere und äußere Realitätswahrnehmung gestärkt wird und mit eigenen Impulsen, insbesondere aggressiven Wünschen kontrollierter umgegangen werden kann. Sie sind zugleich eine psychologische Bedingung dafür, dass reife Gewissensleistungen entstehen und sich die Selbstwertproblematik zugunsten eines realistischen, wohlwollenden Selbstbildes reduziert.

Dazu nur ein Beispiel: Spaltungsprozesse können nur dadurch aufgelöst werden, dass sich die Erziehenden auch enttäuschten und ablehnenden Reaktionen der Jugendlichen stellen.

Eine weitgehend unbedingte Parteinahme für die Interessen der Jugendlichen trägt nicht dazu bei (Stichwort: „Parteilichkeit"). Indem Differenzen zwischen den Erziehenden und den Jugendlichen nivelliert werden, erhöht sich zugleich die Gefahr, dass sich Spaltungsprozesse noch verstärken. Den nur „guten" Mitarbeitern steht dann die nur „böse" äußere Realität gegenüber - eine für eine psychische Weiterentwicklung überaus unzuträgliche Konstellation.

Dazu ein Beispiel aus einem ambulant betreuten Wohnprojekt. Es belegt die ohnmächtige Position der Betreuer: Heinemann/Peters: a.a.O. (1987, S. 446 f.) führen aus, dass „... natürlich das Betreuungsverhältnis positiv beeinflusst wird durch das Unterlassen ständiger Auseinandersetzungen oder Kontrolle darüber, ob der Jugendliche einer bürgerlichen Erwerbstätigkeit nachgeht, und auch darin, dass die Zumutungen anderer Instanzen abgewehrt werden, wie z. B. die des Jugendrichters, der Arbeit zur Auflage macht oder die des Lehrers, der auf die Einhaltung einer sinnentleerten Schulpflicht drängt. (Etwas völlig anderes ist es, wenn die Jugendlichen selbst etwas wollen!)". Und weiterhin: „... Interventionen, die nicht die Zustimmung des Jugendlichen finden, (bleiben) ohne Effekt, da die üblichen Sanktions- und Gratifikationstechniken nicht funktionieren" - was für die Betreuer die Verneinung und Vermeidung einer gezielten direkten Beeinflussung bedeutet.

Das Wissen darüber, wie Beziehungsprozesse bei gefährdeten Kindern und Jugendlichen gestaltet werden müssen, hat sich in letzter Zeit erheblich erweitert und ist für die zukünftige Arbeit zu nutzen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die psychische Problematik der Betroffenen wahrgenommen und anerkannt wird. (Volkan, V./Ast, G. 1992; Volkan, V./Ast, G. 1994; Copley, B./Forryan, B. 1987).

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Exkurs: Verbindliche Unterbringung (sog. geschlossene Heime)23

Ein besonderes Problemfeld beinhaltet die Frage danach, ob die Möglichkeit bestehen soll, gefährdete Kinder und Jugendliche in sog. geschlossenen Heimen unterzubringen. Diese Frage nimmt in der politischen und öffentlichen Diskussion einen außergewöhnlichen Stellenwert ein; sie ist symbolisch hochbesetzt. In der Folge entsteht der Eindruck, als ginge es (jugend)politisch entscheidend darum, ob der Kampf um eine geschlossene Unterbringung gewonnen oder verloren wird, als sei diese Frage wichtiger als viele andere, die sich im Umgang mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen stellen.

Deshalb ist hier eine thematische Eingrenzung notwendig, die zugleich die Leitlinie skizziert, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen.

Bei der Frage nach einer verbindlichen Unterbringung geht es nicht darum, eine größere Anzahl schwieriger Kinder wegzuschließen. Eine solche Forderung, sofern sie überhaupt erhoben wird, ist aus fachlich-inhaltlichen Gründen nicht vertretbar und deshalb zurückzuweisen. Zu klären ist vielmehr, ob in jedem noch so extremen Einzelfall, in massiv zugespitzten, langanhaltenden Krisen- und Gefährdungssituationen auf eine verbindliche Unterbringung verzichtet werden kann. Das ist die Grundsatzentscheidung, zu der Stellung genommen werden muss.

Dabei stehen sich zwei hohe Werte gegenüber: Auf der einen Seite die Freiheitsrechte der Kinder und Jugendlichen, andererseits eine Fürsorgepflicht der Gesellschaft, die eine umfassende Schutzfunktion dann zu übernehmen hat, wenn die Betroffenen dies selbst nicht mehr tun können. Der Konflikt zwischen diesen beiden Werten lässt sich grundsätzlich nicht auflösen, weder bei einem vollständigen Verzicht auf eine verbindliche Unterbringung noch bei der Anerkennung ihrer Notwendigkeit.

Eine verbindliche Unterbringung wird in Hamburg kompromisslos abgelehnt - obgleich unstrittig ist, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die in besonderen Krisen- und Gefährdungssituationen durch das offene System nicht erreicht werden (vgl. z. B. Bittscheidt, D. 1998).

Das Nachdenken über eine (Wieder)Einführung sog. geschlossener Heime gilt in weiten Teilen der Sozialpädagogik als Ausdruck eines politischen Roll back in längst überwunden geglaubte Zeiten. Denn es handele sich in erster Linie um keine fachliche Frage, sondern eine politische, eine Problematik, die aus ganz anderen als fachlichen Gründen „das Feld sozialer Ratlosigkeit" besetze (Bittscheidt 1998, S. 28). Unmittelbar auf die Hamburger Situation bezogen schreibt Wolf (1991, S. 28) in diesem Zusammenhang: „So bleibt letztlich eben die politische Frage, ob die Heimerziehung im wesentlichen die Bestrafung von Schwierigkeiten verursachenden Kindern durchführen soll oder nicht (Unterstreichung: d. Verf.). Diese Frage kann aber auch nur politisch entschieden werden..." Für das Selbstverständnis der Heimerziehung sei es unabdingbar, auf eine verbindliche Unterbringung zu verzichten: „... solange dieser repressive Kern jeglicher Heimerziehung nicht aufgegeben wird, wird sich die Heimerziehung insgesamt kaum als positive öffentliche Erziehung etablieren können..." (Peters 1990, S. 152).

Der Begriff der verbindlichen Unterbringung spiegelt die theoretischen und praktischen Veränderungen der letzten 10 Jahre wider, die die Arbeit von Einrichtungen mit einer zeitweise geschlossenen Unterbringung auszeichnen. Er akzentuiert im besonderen die angestrebte verbindliche Beziehungsform zwischen Betreuern und Jugendlichen.

Eine entscheidende Rolle spielt bei jeder der beiden Positionen, dass ein weitgehend schuldfreier Umgang mit dieser Personengruppe garantiert werden soll. Einige psychodynamische Überlegungen dazu finden sich bei Ahrbeck (1998).