Analphabetismus

Eine einheitliche Definition des Begriffs „Analphabetismus" existiert nicht. Entsprechend schwanken auch die Schätzungen zur Zahl der Analphabeten. Die UNESCO schätzt den Anteil der Analphabeten auf 0,75 bis 3 Prozent der über 15 Jahre alten Bevölkerung in Deutschland. Sie geht dabei vom Begriff des „funktionalen Analphabetismus" aus, wonach Jugendliche und Erwachsene dann als Analphabeten gelten, wenn sie nach dem Ende der Schulzeit den Anforderungen ihrer Lebensumwelt an ihre Schreib- und Lesekenntnisse sowie an ihre Rechenfähigkeit nicht gerecht werden. Eine empirische Fundierung dieser Schätzung fehlt jedoch 1). Ursachen von Analphabetismus bei deutschsprachigen Analphabeten werden in der Forschung meist mit dem familiären und sozialen Umfeld in Verbindung gebracht 2). Betont wird jedoch, dass mangelnde Begabung oder vergleichsweise geringe Intelligenz ­ von Extremfällen abgesehen ­ nicht ursächlich für Analphabetismus seien 3).

Zielgruppen

Um vor diesem Hintergrund einen sachgerechten Handlungsrahmen für die Alphabetisierung zu entwickeln, sind die Zielgruppen zu definieren, die im Rahmen des Alphabetisierungskonzepts von der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung gefördert werden sollen. Es sind dies erwachsene deutschsprachige funktionale Analphabeten, nicht deutschsprachige Analphabeten sowie funktionale Analphabeten mit geistigen und mehrfachen Behinderungen. Diese Personen haben ­ bezogen auf die Lese- und Schreibkompetenzen ­ folgende Defizite:

­ Sie können gedruckte und geschriebene Informationen nicht so verwenden, dass sie im Alltagsleben zurechtkommen, um eigene Ziele zu erreichen und eigenes Wissen sowie individuelle Möglichkeiten zu entwickeln.4)

­ Sie können nicht ausreichend schreiben, weil sie die Buchstaben-Laut-Beziehung nicht herstellen sowie Buchstabenfolgen und Wortstrukturen nicht wiedergeben können 5).

19. 10. 9916. Wahlperiode zu dem Ersuchen der Bürgerschaft vom 14./15./16. Dezember 1998

­ Alphabetisierung ­) Vgl. den Bericht der Bundesregierung zur Bekämpfung des Analphabetismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bundestagsdrucksache 12/5821 vom 1. Oktober 1993, und Antwort des Senats vom 6. Mai 1997 auf die Schriftliche Kleine Anfrage „Analphabetismus in Hamburg", Drucksache 15/7370.) Vgl. Lisa Namgalies u. a.: Stiefkinder des Bildungssystems, Hamburg 1990, S. 10.) Alle sprechen von Leseförderung ­ doch wo bleibt das Schreiben? In: Wer schreibt, der bleibt! ­ Und wer nicht schreibt? Internationaler Kongress in Zusammenarbeit mit der deutschen UNESCO-Kommission in der Ev. Akademie Bad Boll, Stuttgart 1998.

Gefördert werden darüber hinaus Personen, die die lateinische Schrift nicht beherrschen, sondern in einer anderen Schrift alphabetisiert wurden.

Weitere Fördermöglichkeiten

Für weitere Zielgruppen mit vergleichbaren Schwierigkeiten im Bereich des Lesens und Schreibens, die aber den unter Ziffer 2.2 definierten Zielgruppen nicht zuzuordnen sind, bestehen folgende Fördermöglichkeiten außerhalb des in dieser Drucksache dargestellten Förderkonzepts:

­ Junge Erwachsene, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen und Beeinträchtigungen im Sinne der UNESCO-Definition haben, werden schulisch gefördert (vgl. Abschnitt 3).

­ Für Erwachsene mit Defiziten in der Beherrschung der deutschen Orthografie werden im Rahmen der allgemeinen Weiterbildung, z. B. vom Landesbetrieb Hamburger Volkshochschule (VHS), Kurse im Bereich Grundbildung angeboten.

­ Erwachsene, deren Schreib- und Leseschwierigkeiten auf psychische und/oder soziale Beeinträchtigungen zurückgehen und deren Integration in den Arbeitsmarkt infolge dieser Schwierigkeiten beeinträchtigt wird, können in speziellen ganzheitlichen Maßnahmen, z. B. im Rahmen von Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, gefördert werden.

­ Ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden durch den Sprachverband Deutsch für Ausländer von Hamburger Trägern gefördert. 1998 nahmen 69 Personen an entsprechenden Maßnahmen teil. Die Finanzierung erfolgt durch das Bundesministerium für Arbeit. Der Träger AIZAN förderte 26 Teilnehmende in drei Kursen, die Bürgerinitiative Ausländische Arbeitnehmer (BI) 22 Teilnehmende in zwei Kursen und der Verein WIR, Internationales Zentrum, elf Teilnehmende in einem Kurs.

­ Personen, die Anspruch auf Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfen für Behinderte nach §§ 39, 40 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) haben, sollen, soweit möglich, in diesem Rahmen gefördert werden.

­ Ältere Personen werden in ganzheitlich ausgerichteten Weiterbildungsangeboten gefördert, die die spezifischen Lebenssituationen berücksichtigen. In Hamburg sind verschiedene Träger auf die Weiterbildung älterer Menschen spezialisiert.

3. Präventive Maßnahmen zur Verhinderung von Analphabetismus

Die Anforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache sind in nahezu allen Berufsfeldern gestiegen. Entsprechend wurden die Anstrengungen im Bereich des Lesenund Schreibenlernens in der Schule in den zurückliegenden Jahren erheblich verstärkt.

Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen Schulbildung

Als zentrale Maßnahme der Prävention von Analphabetismus ist das Projekt Lesen und Schreiben für alle (PLUS) konzipiert worden. Es hat das Ziel, nach den Grundsätzen von Prävention, Integration und Kooperation Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten beim Schriftspracherwerb so früh wie möglich gezielt zu fördern und ihnen damit die Chance zum erfolgreichen Lernen zu eröffnen. Das Projekt wird seit 1994 vor allem in sozialen Brennpunkten der Stadt mit einer anschließenden Förderung in den Klassen 5 und 6 der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen und bei der Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss durchgeführt. Für das Projekt stehen insgesamt 163 Stellen zur Verfügung. Im Rahmen des Projekts wird ein umfangreiches Fortbildungsprogramm durchgeführt. Seit dem Schuljahr 1993/94 wurden bisher in sechs Jahreskursen insgesamt 319 Lehrkräfte zu Schriftsprachberaterinnen und Schriftsprachberatern fortgebildet. 233 Schulen verfügen inzwischen über entsprechende Fachkräfte.

Teil des PLUS sind die so genannten Außerunterrichtlichen Lernhilfen (AUL) für Kinder mit erheblichen Leseund Rechtschreibschwierigkeiten, die im Unterricht trotz aller Fördermaßnahmen nicht zu beheben sind. Jährlich werden 80 Kinder und Jugendliche in diesem Rahmen durch gezielte Lerntherapien gefördert.

Daneben gibt es Eingliederungshilfen für Schülerinnen und Schüler mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nach §§ 39, 40 BSHG. Einen Rechtsanspruch auf diese Förderung haben zurzeit 130 Schulpflichtige.

Maßnahmen im Rahmen der Berufsvorbereitungsschule

In der Berufsvorbereitungsschule (BVS) wurden für berufsschulpflichtige Schülerinnen und Schüler, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist und deren Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in der deutschen Sprache nicht ausreichen, um mit Erfolg am Unterricht in Regelformen der beruflichen Schulen teilzunehmen, als jeweils zweijährige Maßnahmen ein Berufsvorbereitungsjahr für Migrantinnen und Migranten (BVJM) und das Vorbereitungsjahr für Migrantinnen und Migranten (VJM) eingerichtet. Im Rahmen dieser Maßnahmen werden Schülerinnen und Schüler in Alphabetisierungskursen gefördert.

Es gibt zwei Kursformen: „Alpha" für jugendliche Migrantinnen und Migranten, die in ihrer Herkunftssprache nicht Lesen und Schreiben gelernt haben, und „AlphaLat" für jugendliche Migrantinnen und Migranten, die nicht in lateinischer Schrift alphabetisiert worden sind. Die Kurse sind jeweils mit Berufsorientierung und Berufsvorbereitung verbunden. Im Schuljahr 1998/99 besuchten 251

Schülerinnen und Schüler die Alphabetisierungskurse für jugendliche Migrantinnen und Migranten.

4. Fördermaßnahmen für erwachsene funktionale Analphabeten bis 1998

Die Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung fördert seit 1986 trägerindividuelle Programme und Maßnahmen für erwachsene deutschsprachige Analphabeten, seit 1989 auch Maßnahmen für erwachsene Analphabeten nichtdeutscher Muttersprache und für Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen, z. B. Menschen mit Down-Syndrom oder mit spastischen Behinderungen.

Statistiken, die einen systematischen Vergleich der verschiedenen Maßnahmen erlauben würden, liegen nicht vor. Die Zahl der Teilnehmenden in den geförderten Kursen (jeweils zu Beginn der Kurse) hat sich seit 1995 wie folgt entwickelt:

Die in verschiedenen Stadtteilen durchgeführten Kurse der VHS für deutschsprachige funktionale Analphabeten umfassen Angebote auf allen unter Ziffer 5.2.1 genannten Niveaustufen. Etwa 30 Prozent der Teilnehmenden besuchen die beiden unteren, 60 Prozent die beiden mittleren und 10 Prozent die beiden oberen Niveaustufen. Die Kurse dauern jeweils 13 Wochen mit drei bis vier Wochenstunden. Im Jahr 1998 und im ersten Halbjahr 1999 waren 50 Prozent der Teilnehmenden männlich. 76 Prozent waren zwischen 18 und 50 Jahre alt, 10 Prozent jünger als 18 und 14 Prozent älter als 50 Jahre. Die Teilnehmenden zahlen grundsätzlich Kursentgelte. Im ersten Halbjahr 1999 waren 37 Prozent Vollzahler, 46 Prozent erhielten eine Ermäßigung, da sie Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe oder Arbeitslosengeld bezogen; 7 Prozent waren Auszubildende oder Schülerinnen und Schüler, die die Kurse parallel zu berufsvorbereitenden Maßnahmen besuchten, 10 Prozent wurden als „sonstige Teilnehmende" erfasst.

Im Jahr 1998 nahmen 89 Teilnehmende das Angebot des Vereins zur Förderung der Beruflichen Bildung e.V. wahr, davon 15 Prozent in Vollzeitkursen und 85 Prozent in Teilzeitkursen. 90 Prozent der Teilnehmenden waren zwischen 20 und 50 Jahre alt, 6 Prozent jünger als 20, 4 Prozent älter als 50 Jahre. Die Hälfte waren Männer. 31 Prozent waren erwerbstätig, 56 Prozent bezogen Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe, 13 Prozent hatten sonstige Einkünfte. Es wurde kein Entgelt erhoben. Der Anteil ausländischer Analphabeten ist in den ursprünglich für deutschsprachige funktionale Analphabeten vorgesehenen Kursen kontinuierlich gestiegen und betrug 1997 48 Prozent, 1998 55 Prozent.

Ein speziell für nicht deutschsprachige Analphabeten angelegtes Konzept verfolgt die Arbeitsgemeinschaft Karolinenviertel e.V. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen die ersten drei der unter Ziffer 5.2.1 genannten Niveaustufen. Die Teilnehmenden werden in integrierten Angeboten geschult, und zwar sowohl im Gruppenunterricht als auch im offenen Lernen. Diese Maßnahmen werden durch ein Vertiefungsangebot ergänzt. Die 43 Teilnehmenden der Intensivkurse des Jahres 1998 kamen aus 14 verschiedenen Staaten. 53 Prozent hatten die Schule in ihrem Heimatland bis zu 3 Jahre lang besucht, 21 Prozent über einen Zeitraum von 3 bis 6 Jahren, 26 Prozent länger als 6 Jahre.

48,8 Prozent waren nicht in lateinischer Schrift alphabetisiert.

Der Träger „In Via", Harburg, führte 1998 zwei Kurse mit je 10 Teilnehmenden durch, die Arbeiterwohlfahrt, Billstedt, und der Träger „Agdaz", Steilshoop, je einen Kurs.

Die Träger „INCI", „Internationaler Treffpunkt Wilhelmsburg" und „Gemeinnützige Arbeit St. Pauli" führten je einen Kurs zur Alphabetisierung in türkischer Sprache durch. Alle Kurse finden in Stadtteilen mit hohem Ausländeranteil statt. Die insgesamt 60 Teilnehmenden dieser Kurse waren zwischen 18 und 60 Jahre alt und etwa zu gleichen Teilen Männer und Frauen. Die Teilnehmenden zahlen kein Entgelt.

Das Kursangebot des Vereins „Leben mit Behinderung Hamburg e.V." hat 1998 in 35 Kursen in Teilzeitform 190

Teilnehmende gefördert. Die Kurse finden an drei Standorten mit behindertengerechten Räumen statt. Die Teilnehmenden zahlen 25 DM pro Kurs. 70 Prozent der Teilnehmenden des Jahres 1998 waren zwischen 18 und 50 Jahre alt, 20 Prozent sind zwischen 16 und 18 Jahre, 10 Prozent über 50 Jahre alt. Männer und Frauen waren etwa zu gleichen Anteilen vertreten. Angaben über Einkommensverhältnisse der Teilnehmenden liegen nicht vor.

Angaben über die Fluktuation, den Verbleib der Teilnehmenden nach Abschluss oder Abbruch der Maßnahme und Erfolge der Maßnahmen wurden von der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung bisher nicht systematisch erfasst. Die Alphabetisierungsmaßnahmen wurden seit 1986 trägerindividuell geplant, durchgeführt und gefördert. Mit dem neuen Konzept sollen die Vergleichbarkeit der Trägerangebote in Bezug auf eine standardisierte Ziel- und Leistungsbeschreibung und ein trägerübergreifendes Ergebniscontrolling sowie eine Bewertung der einzelnen Angebote ermöglicht werden.

5. Alphabetisierungskonzept ab 2000

Inhaltliche Ziele Funktionale und andere Analphabeten sollen so lesen und schreiben lernen, dass sie den Anforderungen an die schriftsprachliche Kompetenz im Alltag gewachsen sind.

Sie sollen nach Ablauf des Kurses leicht verständliche Texte und Informationen lesen, Formulare ausfüllen und einfache Texte formulieren können. Nicht deutschsprachige Analphabeten sollen außerdem ausreichend deutsch sprechen lernen, damit sie sich mündlich selbständig orientieren und in einer deutschsprachigen Umgebung verständigen können. Die Alphabetisierung soll den Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Leben in Hamburg nachhaltig erleichtern.

Eckpunkte der künftigen Förderung der Alphabetisierung Erwachsener

Auf der Grundlage der Ergebnisse der OECD-Studie (siehe Fußnote 4), der Ergebnisse des internationalen Kongresses in Zusammenarbeit mit der Deutschen UNESCO-Kommission (siehe Fußnote 5) und der Erfah