Vorzeitige Entlassung von Untersuchungsgefangenen

In den vergangenen Jahren ist es wiederholt zu vorzeitigen Entlassungen von Untersuchungsgefangenen gekommen, weil die Gerichte Hauptverhandlungen nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist terminieren konnten.

In den vergangenen Jahren sind in Einzelfällen Untersuchungsgefangene aus der Haft entlassen worden, weil binnen angemessener Frist mit einer Hauptverhandlung gegen sie nicht begonnen werden konnte. Indes müssen diese Einzelfälle vor dem Hintergrund Hunderter von Haftsachen gesehen werden, die die Ermittlungsbehörden jährlich bearbeiten, binnen kurzer Frist zur Anklage bringen und die von den Gerichten fristgerecht abgeurteilt werden.

Die Staatsanwaltschaft führt seit 1990 eine Untersuchungshaftstatistik, die für bestimmte Stichtage (30. Juni und 31. Dezember) die Zahl der in Untersuchungshaft befindlichen Personen sowie die Dauer der Untersuchungshaft ausweist. Aus dieser Statistik ergibt sich, dass sich bis zur Anklageerhebung annähernd 90 Prozent aller Untersuchungshäftlinge nicht länger als drei Monate in Haft befunden haben. Die Zahl derer, die länger als sechs Monate auf die Anklageerhebung warten mußten, liegt im Mittel seit 1990 deutlich unter 2 Prozent, seit 1997 sogar bei weniger als 0,2 Prozent aller Fälle.

Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt.

1. a) Wie viele Untersuchungsgefangene wurden seit dem 1. Januar 1990 vorzeitig aus der Haft entlassen, weil nicht rechtzeitig terminiert werden konnte?

b) Auf welcher rechtlichen Grundlage erfolgte jeweils die Entlassung?

c) Welcher Straftaten wurden diese Personen verdächtigt? (Aufgeschlüsselt nach Delikten.)

d) Welche Haftgründe (§§112, 112a StPO) lagen der Inhaftierung dieser Personen jeweils zugrunde?

Eine statistische Erfassung sämtlicher Fälle von Entlassungen aus der Untersuchungshaft nach ihren Ursachen erfolgt bei den Gerichten, Staatsanwaltschaften und der Landesjustizverwaltung in Hamburg nicht. Systematisch erfaßt werden lediglich die Fälle, in denen das Hanseatische Oberlandesgericht im Rahmen einer Haftprüfung von Amts wegen nach §§121, 122 der Strafprozeßordnung (StPO) die Aufhebung eines Haftbefehls verfügt.

Auf Grundlage der §§121, 122 StPO wurden seit 1. Januar 1990 in 23 Verfahren insgesamt 31 Untersuchungsgefangene entlassen, weil ein Termin zur Hauptverhandlung nicht rechtzeitig anberaumt werden konnte. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten und Haftgründe ergeben sich aus der nachfolgenden Aufstellung:

2. a) Wie viele der vorzeitig entlassenen Untersuchungshäftlinge erschienen später nicht zu ihren Hauptverhandlungen?

b) Aus welchen Gründen erschienen diese Personen nicht zur Hauptverhandlung?

c) Welcher Straftaten waren die nicht zur Hauptverhandlung erschienenen Verdächtigten jeweils beschuldigt? (Aufgeschlüsselt nach Delikten.)

3. a) Wie viele der vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassenen Verdächtigen begingen nach ihrer Entlassung neue Straftaten?

b) Welcher Art waren die von den vorzeitig Entlassenen begangenen Straftaten? (Aufgeschlüsselt nach Delikten.)

4. Welche Anschuldigungen lagen der Inhaftierung der dann vorzeitig entlassenen Gefangenen zugrunde, die nach ihrer Entlassung neue Taten begingen? (Aufgeschlüsselt nach Delikten.)

5. Welche Haftgründe lagen bei den vorzeitig Entlassenen, die nach der Entlassung weitere Taten begingen, jeweils vor?

Erkenntnisse darüber liegen dem Senat für den gesamten Zeitraum nicht vor. Die Beantwortung dieser Fragen setzt eine Auswertung sämtlicher Einzelakten sowie des Bundeszentralregisters beim Generalbundesanwalt voraus. Dies ist in der für die Beantwortung einer Schriftlichen Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht möglich. Es kann jedoch mitgeteilt werden, dass in den Fällen, in denen es im laufenden Jahr zur Aufhebung von Haftbefehlen gemäß §§121, 122 StPO durch das Hanseatische Oberlandesgericht gekommen ist, die Hauptverhandlungen bislang ordnungsgemäß durchgeführt werden konnten.

Die Anzahl der Verfahren, die Tatvorwürfe, die Haftgründe und die Gründe für die Aufhebung des Haftbefehls ergeben sich aus der nachstehenden Aufstellung:

6. Wo liegen nach Auffassung des Senates die Ursachen für das wiederholteVorkommen vorzeitiger Haftentlassungen?

Die Ursachen für die Aufhebung von Haftbefehlen bzw.die Verschonung von Beschuldigten vor Rechtskraft des Urteils sind vielfältig.

Im Rahmen von Haftprüfungen oder Haftbeschwerden auf Antrag des Beschuldigten kommt es in seltenen Ausnahmefällen deshalb zur Aufhebung eines Haftbefehls, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft angesichts der Straferwartung aufgrund des Zeitablaufs unverhältnismäßig wäre. Haftbefehle werden in Haftprüfungsverfahren gelegentlich deshalb aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt, weil die materiellen Voraussetzungen des Haftbefehls (dringender Tatverdacht und Haftgrund) nicht mehr oder nicht mehr im erforderlichen Umfang vorliegen. Dabei spielt die Dauer der Untersuchungshaft vor allem dann eine Rolle, wenn wegen der Anrechenbarkeit der Untersuchungshaft auf die zu erwartende Strafe die (Rest-)Straferwartung für den Beschuldigten so weit gesunken ist, dass ein Fluchtanreiz für den Beschuldigten nicht mehr vorhanden ist.

Soweit das Hanseatische Oberlandesgericht Haftbefehle nach §121, 122 StPO überprüft, stellt deren Aufhebung wegen Fortfalls des dringenden Tatverdachtes oder des Haftgrundes demgegenüber die Ausnahme dar. Das Oberlandesgericht hebt Haftbefehle zumeist deshalb auf, weil binnen angemessener Frist noch kein Urteil ergangen ist bzw. die Hauptverhandlung noch nicht begonnen hat. Gemäß §121 Absatz 1 StPO darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

Verfahrensverzögerungen können dabei in jeder Lage des Verfahrens, gleichermaßen im Verantwortungsbereich der Ermittlungsbehörden wie im Verantwortungsbereich der Gerichte auftreten.

In den Gerichtsentscheidungen werden als Ursache unter anderem genannt:

1. Zu langeWartezeit auf die Ergebnisse ergänzender Ermittlungen (z.B.Zeugenvernehmungen, Auswertung einerTelefonüberwachung, Ergebnisse eines Rechtshilfeersuchens, Beiziehung von Krankenakten).

2. Fehlerhafte Verbindung verschiedener Verfahren unterschiedlicher Schwierigkeit zu einem Komplex statt rascher Aburteilung wegen einzelner, leicht nachweisbarer Taten vorab.

3. Unzureichende Beschleunigung der Ermittlungen im Vertrauen darauf, dass ein lediglich zur „Überhaft" notierter Haftbefehl nicht vollstreckt werden müsse.

4. Fehlende Kopieakten, anhand derer Akteneinsichtsgesuche und Haftbeschwerden zeitgleich mit den laufenden Ermittlungen hätten bearbeitet werden können.

5. Versehentlich unterlassene Kennzeichnung als Haftsache.

6. Zeitweiliger Aktenverlust.

7. Verspäteter Eingang von Gutachten oder mangelhafte Überwachung der Tätigkeit des Gutachters (ärztliche oder psychiatrische Gutachten, DNA-Analysen, Fasergutachten, waffentechnische Gutachten usw.).

8. Zuständigkeitsprobleme (z.B.Anklageerhebung vor dem unzuständigen Gericht oder unberechtigte Verweisung an einen anderen Spruchkörper).

9. Fehlende Beiordnung eines Pflichtverteidigers, nachdem sich Terminprobleme mit dem Wahlverteidiger zeigen.

10. Kein Wechsel des Gutachters bei dessen terminlicher Verhinderung.

11. Aussetzung der Verhandlung bei gesundheitlichen Problemen des Angeklagten statt Fortsetzung der Verhandlung unter ärztlicher Kontrolle.

12. Falsche Berechnung der Sechs-Monats-Fristen bei mehreren Haftbefehlen.

7. Welchen Zusammenhang sieht der Senat zwischen der Zahl vorzeitiger Haftentlassungen und der Personalsituation bei Gerichten und Staatsanwaltschaft?

Die Personalsituation bei Gerichten und Staatsanwaltschaft kann sich auf solche Haftentlassungen auswirken, bei denen Kapazitätsengpässe bei den Strafverfolgungsbehörden und bei den zuständigen Spruchkörpern als Ursache genannt werden. Dagegen sind die sehr viel häufiger genannten organisatorischen Fehleinschätzungen, Rechtsirrtümer oder Prognoseentscheidungen, die sich im nachhinein als unrichtig herausstellen, auch durch eine Veränderung der Personalausstattung nicht sicher zu vermeiden.

8. Sieht der Senat Spielraum für organisatorische Veränderungen bei Gerichten und Staatsanwaltschaft zur schnelleren Bearbeitung von Haftsachen?

9. Welche Maßnahmen hat der Senat getroffen, um vorzeitige Haftentlassungen in Zukunft zu vermeiden? Welche Maßnahmen gedenkt der Senat in Zukunft zu treffen?

Aufgrund der Vielfalt möglicher Ursachen für die Aufhebung von Haftbefehlen durch das Hanseatische Oberlandesgericht ist die zeitnahe und sorgfältige Analyse der Entscheidungsgründe Grundlage jeder organisatorischen Maßnahme der Landesjustizverwaltung.Um dies zu gewährleisten, meldet die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg jeden einschlägigen Fall unter Beifügung der vom Oberlandesgericht geltend gemachten Gründe umgehend der Justizbehörde.Erforderlichenfalls werden von den Präsidien der Gerichte oder vom Leitenden Oberstaatsanwalt ergänzende Berichte zu den einzelnen Fällen angefordert und ausgewertet. Soweit sich dabei strukturelle Defizite zeigen, werden organisatorische Maßnahmen verabredet, die eine Wiederholung ausschließen sollen. Zeigen sich Mängel auf der Ebene der Sachbearbeitung, wird eine Klärung im Wege der Dienstaufsicht herbeigeführt mit dem Ziel, vergleichbare Fehler in Zukunft zu vermeiden.

Zu den in der Vergangenheit ergriffenen Maßnahmen der personellen Verstärkung der Gerichte und der Staatsanwaltschaft Hamburg sowie zur Verwaltungsmodernisierung und Ausstattung mit EDV verweist der Senat auf seine Antworten auf die Große Anfrage Drucksache 14/2275 „Vorzeitige Entlassung von Straftätern aus der Untersuchungshaft", auf die Schriftliche Kleine Anfrage Drucksache 15/2718 „Entlassungen von Straftätern aus der Untersuchungshaft wegen Verfahrensverzögerungen" und auf die Schriftliche Kleine Anfrage Drucksache 15/2761 „Vorzeitige Entlassung aus der Untersuchungshaft".

Die Modernisierung der Staatsanwaltschaften, die in den vergangenen Jahren konsequent vorangetrieben worden ist, trägt weiter zu einer Beschleunigung der Verfahrensabläufe und damit zu einer zügigeren Bearbeitung gerade auch der Haftsachen bei. Der Senat verweist insoweit ergänzend auf seine Antwort auf die Große Anfrage Drucksache 16/2327 „Modernisierung der Staatsanwaltschaften" und auf die Drucksache 16/2482 „Modernisierung der Staatsanwaltschaften".

Um in spezifischen Problemlagen steuernd einzugreifen, sind in jüngerer Zeit unter anderem folgende Maßnahmen ergriffen bzw. fortgesetzt und umgesetzt worden:

a) Alle Haftsachen sind in jedem Dezernat der Staatsanwaltschaft in sogenannte Haftlisten einzutragen, die vom Vorgesetzten bzw. von der Vorgesetzten monatlich kontrolliert werden. Alle Dezernate nehmen in den Haftlisten jeweils monatlich Stellung, inwieweit eine Förderung des Verfahrens möglich war und welche Hindernisse dem Ermittlungsabschluß noch entgegenstehen.

b) Um die Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaft mit dem forensisch-psychiatrischen Gutachterdienst des Universitäts-Krankenhauses Eppendorf zu verbessern, hat der Leitende Oberstaatsanwalt am 12. September 1997 Leitlinien für die Inauftraggabe von Gutachten erlassen. Die Justizbehörde hat den Zeitaspekt der Begutachtung in Haftsachen zudem zum Gegenstand einer dienstlichen Besprechung mit der Leitung des Gutachtendienstes gemacht.

c) Die Staatsanwaltschaft Hamburg, das Landgericht und die Justizbehörde haben schon vor vielen Jahren ein sogenanntes Frühwarnsystem eingerichtet, mit dem die Staatsanwaltschaft dem Landgericht frühzeitig die Anklageerhebung in Haftsachen ankündigt. Die effektive Nutzung dieses Systems wird überwacht und ist Gegenstand fortlaufender dienstlicher Erörterungen zwischen Staatsanwaltschaft, Landgerichtspräsidentin und Justizbehörde.

d) Um eine erhöhte Transparenz der Entscheidungspraxis der Oberlandesgerichte zu erreichen, hat die Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden im Dezember 1996 im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und der Landesjustizverwaltungen eine wissenschaftliche Expertentagung veranstaltet, die sich mit den Problemen oberlandesgerichtlicher Kontrolle langer Untersuchungshaft befaßt hat. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Haftprüfungspraxis des Hanseatischen Oberlandesgerichts aus den Jahren 1990 bis 1996 Hamburg wurde von der Kriminologischen Zentralstelle im Anschluß daran (im Jahre 1998) veröffentlicht. Deren Ergebnisse wurden im Februar 1999 den Gerichten und Staatsanwaltschaften in Hamburg bekanntgemacht.

e) Die fortlaufende Unterrichtung der Gerichte und Staatsanwaltschaften über die Rechtsprechung des Hanseatischen Oberlandesgerichts ist weiterhin sichergestellt. Eine Haftentlassung im Juni 2000 durch das Hanseatische Oberlandesgericht hat die Generalstaatsanwältin erst kürzlich zum Anlaß genommen, die vom Oberlandesgericht entwickelten Rechtsgrundsätze zur Berechnung der SechsMonats-Frist bei Vorliegen verschiedener Haftbefehle unmittelbar allen Dezernaten bekanntzugeben.

f) Die Geschäftsverteilung der Gerichte unterliegt der richterlichen Selbstverwaltung und ist ausschließliche Aufgabe der Präsidien. Der Senat hat sich insoweit einer Bewertung zu enthalten. Das Präsidium des Landgerichts hat jedoch mitgeteilt, dass in Fällen der Überlastung einzelner Spruchkörper Hilfsstrafkammern gebildet werden können, um trotz beschränkter Terminierungsmöglichkeiten einzelner Großer Strafkammern eine zügige Verhandlung aller Haftsachen sicherzustellen.In Schwurgerichtssachen kann im Bedarfsfall zur Sicherstellung einer rechtzeitigen Verhandlung ein Verfahren von der ursprünglich zuständigen Schwurgerichtskammer auf eine andere Schwurgerichtskammer abgeleitet werden.