Inwiefern ist Thüringen vonAnträgen auf Gleichstellung

März 2002 hat folgenden Wortlaut:

In einem Schreiben vom Januar 2002 wandte sich der Deutsche Berufsverband für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e. V. an Parlamentarier des Landtags, um im Wege einer Zusatzqualifizierung die Nachdiplomierung für alle Gesundheits-, Sozial- und Jugendfürsorger und -fürsorgerinnen im Freistaat Thüringen zu erreichen. Dabei beruft sich einerseits auf in Sachsen und Sachsen-Anhalt, wo nach einer entsprechenden Zusatzqualifizierung die sofortige Nachdiplomierung erreicht worden sei. Andererseits wird auf Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern verwiesen, die sich über der Kultusministerkonferenz (KMK) hinweg gesetzt und nach akribischer Kleinarbeit den Ausbildungsumfang der Berufsgruppen von 1950 bis 1990 in der DDR und die Stunden der Zusatzqualifizierung ermittelt hätten.

Ich frage die Landesregierung:

1. Inwiefern ist Thüringen auf Gleichstellung bzw. Nachdiplomierung in den aufgeführten Fachrichtungen betroffen?

2. Wie viele Anträge auf Nachdiplomierung wurden in Thüringen gestellt?

3. In welchem Umfang wurde diesen Anträgen konkret entsprochen?

4. Welche Vorgaben gibt es von der KMK und welche Rechtsbindung haben diese?

5. Auf welche weiteren Grundlagen stützte bzw. stützt sich der Freistaat bei der Entscheidung darüber, ob die Möglichkeit der Nachdiplomierung eingeräumt wurde oder nicht?

6. Welche Bedingungen müssen in Thüringen erfüllt sein, um die Nachdiplomierung zu ermöglichen?

7. Wie beurteilt die Landesregierung ihre Verfahrensweise im Vergleich zu Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern?

8. Wie beurteilt die Landesregierung gemessen am Einigungsgedanken ihre gewählte Verfahrensweise unter dem Gesichtspunkt der formalen Ungleichheit zwischen Ost- infolge des von Partei- und Staatsführung der DDR vollständig reglementierten Bildungszugangs?

23. April 2002

Das Thüringer Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst hat die Kleine Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 15. April 2002 wie folgt beantwortet:

Zu 1.: Entsprechend zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland zur Regelung der Zuständigkeit für die Feststellung der Gleichwertigkeit von in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik erworbenen Bildungsabschlüssen mit Hochschulabschlüssen (Beschluss der Kultusministerkonferenz [KMK] vom 10./11. Oktober 1991) ist für die Feststellung der Gleichwertigkeit eines in der DDR erworbenen Bildungsabschlusses der für das Hochschulwesen zuständige Minister/Senator des vertragschließenden Landes, in dem die Einrichtung gelegen war, zuständig. Für der an den medizinischen Fachschulen bzw. Betriebsakademien des Gesundheits- und Sozialwesens erworbenen Bildungsabschlüssen, welche ihren Sitz auf dem Territorium des heutigen Freistaats Thüringen hatten, ist dementsprechend der Freistaat Thüringen zuständig.

In Bezug auf die Fachschulausbildung von Gesundheits-, Sozial- und Jugendfürsorgerinnen/-fürsorgern ist auf die Besonderheit hinzuweisen, dass es auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen keine Möglichkeit einer Fachschulausbildung für diese Berufe gab. In der ehemaligen DDR gab es nur an der Fachschule für Gesundheits- und Sozialwesen in Potsdam die Möglichkeit einer solchen Ausbildung auf Fachschulniveau (3-jähriges Direktstudium).

Bei der an den medizinischen Fachschulen und an den Betriebsakademien des Gesundheits- und Sozialwesens durchgeführten Ausbildung von Fürsorgerinnen/Fürsorgern (auch auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen) handelte es sich im Gegensatz zu der oben genannten Fachschulausbildung in Potsdam um berufsqualifizierende Bildungsabschlüsse, welche in formaler und inhaltlicher Hinsicht keinem Fachschulstudium entsprachen. Die KMK hatte sich daher ausdrücklich gegen eine Nachdiplomierung der medizinischen Fachschulen, im Gegensatz zu Absolventen anderer Fachschulen, ausgesprochen.

Zu 2.: Bis einschließlich 28. Februar 2002 wurden in Thüringen 802Anträge auf Nachdiplomierung zur Diplom-Sozialarbeiterin (FH)/zum Diplom-Sozialarbeiter (FH) gestellt.

Zu 3.: 613 Antragstellern wurde die staatliche Bezeichnung Diplom-Sozialarbeiterin (FH)/Diplom-Sozialarbeiter (FH) zuerkannt.

Zu 4.: 1. KMK-Beschluss vom 10./11. Oktober 1991 in der Fassung vom 26./27. März 1992: Gleichwertigkeit bei Fach- und Ingenieurschulabschlüssen ist nur gegeben, wenn

a) Abschluss der 10-jährigen Polytechnischen Oberschule,

b) Facharbeiterabschluss,

c) einjährige Berufstätigkeit

d) und 6-semestriges Direktstudium nachgewiesen werden können.

2. Ergebnisniederschrift des KMK-Unterausschusses für Prüfungs- und Studienordnungen vom 18./19. April 1994: Bestätigung der Bewertung der Fürsorgerinnen/Fürsorger im Sinne des KMK-Beschlusses; Feststellung, dass kein Raum für Einzelfallentscheidungen auf der Grundlage von Voten der Gutachterstelle für Deutsches Schul- und Studienwesen besteht. Aufforderung an Thüringen, seine Verwaltungspraxis in Bezug auf Nachdiplomierung von Absolventen der Medizinischen Fachschulen und Betriebsakademien des Gesundheits- und Sozialwesens einzustellen

3. Ergebnisniederschrift der 116. Sitzung des KMK-Unterausschusses für Prüfungs- und Studienordnungen vom 4./5. März 1999: Keine rechtlichen Auswirkungen des Grundsatzurteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 1997 und damit keine Änderung der Beschlusslage der KMK vom 18./19. April 1994, da das Urteil vorrangig auf die formale und strukturelle Vergleichbarkeit abstellt

Die Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen basiert auf Artikel 37 des Einigungsvertrages (EV).

Der Einigungsvertrag enthielt keinen politischen Gestaltungsauftrag für die KMK, die in der ehemaligen DDR erworbenen Bildungsabschlüsse vergleichend zu bewerten. Die Beschlüsse der KMK haben daher keinen normgestaltenden, sondern nur empfehlenden Charakter.

Zu 5.: Die Feststellung der Gleichwertigkeit erfolgt auf der Grundlage des Artikels 37 Abs. 1 EV. Artikel 37 Abs. 1 EV bestimmt, dass die auf dem Gebiet der DDR und die in den anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland abgelegten Prüfungen oder erworbenen Befähigungsnachweise einander gleichstehen und die gleichen Berechtigungen verleihen, wenn sie gleichwertig sind.

Darüber hinaus ist bei der Feststellung der Gleichwertigkeit das Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 1997 6 C 10.97) zur Auslegung des Begriffs Gleichwertigkeit im Sinne von Artikel 37 Abs. 1 EV zu beachten. Danach müssen bestimmte Voraussetzungen für die Feststellung der Gleichwertigkeit vorliegen. Diese sind:

a) es muss sich um einander fachlich angenäherte Ausbildungen handeln;

b) die Bildungseinrichtungen müssen bzw. mussten die gleichen oder zumindest etwa gleichwertige Zulassungsvoraussetzungen fordern;

c) der Umfang der absolvierten Ausbildung muss bzw. musste einen ähnlich weit gefassten Rahmen haben;

d) das Ausbildungsangebot muss bzw. musste niveaugleich strukturiert sein

e) und die Art der Prüfungen sowie der Studienabschluss bzw. Bildungsabschluss müssen in einem vergleichbaren Verfahren erworben sein bzw. erworben werden.

Schließlich enthält die zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Artikel 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages und über die Nachdiplomierung vom 26. Mai 1992, welche auf dem KMK-Beschluss vom 10./11. Oktober 1991 basiert und in dem die KMK eine Bewertung der in der ehemaligen DDR erworbenen Bildungsabschlüsse vorgenommen hat, die maßgeblichen Regelungen zur Nachdiplomierung. Die Thüringer Verordnung zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Artikel 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages und über die Nachdiplomierung wird durch die Verwaltungsvorschrift zum Vollzug der Thüringer Verordnung zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Artikel 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages und über die Nachdiplomierung ergänzt.

Zu 6.: Sofern die oben genannten Rechtsvorschriften bzw. die vom Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Artikels 37 Abs. 1 EV erfüllt sind bzw. für eine Nachdiplomierung nach der zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen im Sinne des Artikel 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages und über die Nachdiplomierung vorliegen, ist eine Nachdiplomierung möglich.

Zu 7.: Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst hielt von Anfang an die restriktive Haltung der KMK im Hinblick auf die teils fundierte (Gesamt-)Ausbildung der Fürsorger/-innen für nicht gerechtfertigt. Um auch dieser Berufsgruppe eine Integration in das Berufsleben zu ermöglichen und soziale Härten soweit als möglich zu vermeiden, wurde die Gutachterstelle für Deutsches Schul- und Studienwesen ersucht, ein Gutachten darüber zu erstellen, unter welchen Voraussetzungen der berufsqualifizierende Abschluss der Gesundheits-, Sozial- und Jugendfürsorgerinnen/fürsorger abweichend von den KMK-Beschlüssen eine Nachdiplomierung rechtfertigen kann. In dem Gutachten vom 10. Februar 1993 führt die Gutachterstelle aus, dass eine Nachdiplomierung unter den drei nachfolgend genannten Bedingungen möglich sei:

a) dreijährige medizinische Fachschulausbildung;

b) zweijährige Weiterbildung zur Gesundheits- bzw. Sozial- oder Jugendfürsorger/-fürsorgerin und

c) mindestens fünfjährige berufliche Tätigkeit auf der Sozialarbeiter/-innen und/oder Sozialpädagogen/-innen Grundlage für die Entscheidung bildeten der Fachschule Potsdam, der medizinischen Fachschulen der DDR und der Höheren Fachschulen für Sozialarbeit in den alten Ländern.

Unter Beachtung der von der Gutachterstelle erarbeiteten Grundsätze sind von Seiten des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Nachdiplomierungen ausgesprochen worden, soweit dies rechtlich vertretbar erschien.

Dabei ist in Einzelfällen, bei einer lediglich zweieinhalbjährigen Ausbildung an einer medizinischen Fachschule, die Zeit einschlägiger Fort- und Weiterbildungslehrgänge mit angerechnet worden. Die in Thüringen ausgeübte Verwaltungspraxis wich bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 1997 von den Beschlüssen der KMK zugunsten der Fürsorger/-innen ab. Sie berücksichtigte dabei in besonderer Weise die Situation dieser Be4 rufsgruppe in der ehemaligen DDR. Unter Abwägung aller für und gegen die Nachdiplomierung sprechenden Gesichtspunkte war die in Thüringen geschaffene Rechtssituation, abweichend von der Praxis der anderen Länder, damit besonders geeignet, den Integrationsgedanken des Einigungsvertrags sach- und interessengerecht umzusetzen.

Die KMK bestätigte durch den zuständigen Unterausschuss für Prüfungs- und Studienordnungen am 18./19. April 1994 die ursprünglich vorgenommene Bewertung von Gesundheits-, Sozial- und Jugendfürsorgerinnen und -fürsorgern und erteilte der Nachdiplomierung erneut eine entschiedene Absage. Thüringen wurde für seine Verwaltungspraxis gerügt.

Die rechtlichen Auswirkungen des Grundsatzurteils vom 10. Dezember 1997 wurden auf der 116. Sitzung des KMKUnterausschusses für Prüfungs- und Studienordnungen am 4./5. März 1999 besprochen. Es bestand Einigkeit darüber, dass auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das vorrangig auf die formale und strukturelle Vergleichbarkeit abstelle, keine Änderung der Beschlusslage der KMK vom 18./19. April 1994 erfordere. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Vertreter Mecklenburg-Vorpommerns erhebliche Schwierigkeiten in seinem Bundesland gesehen hat, wenn die an den medizinischen Fachschulen erworbenen Abschlüsse nachdiplomiert würden.

Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 1997 erfolgt in Thüringen die Prüfung aller Anträge auf Feststellung der Gleichwertigkeit und Nachdiplomierung, eingeschlossen die der Gesundheits-, Sozialund Jugendfürsorgerinnen und -fürsorger, nach den im Urteil genannten Kriterien.

In den anderen neuen Ländern müssen für die Gleichwertigkeitsfeststellung einschließlich der Nachdiplomierung folgende Kriterien, die im Wesentlichen den Kriterien der von den anderen neuen Ländern kritisierten Verwaltungspraxis Thüringens bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts am 12. Dezember 1997 entsprachen, erfüllt werden:

a) Abschluss der zehnklassigen allgemein bildenden Oberschule;

b) Abschluss einer dreijährigen Berufsausbildung zur mittleren medizinischen Fachkraft;

c) Abschluss einer mindestens zweijährigen berufsbegleitenden Zusatzausbildung als Gesundheits-, Sozial- und Jugendfürsorgerin/-fürsorger

d) und Nachweis einer mindestens dreijährigen beruflichen Tätigkeit auf der Sozialarbeiter und/oder Sozialpädagogen.

Zu 8.: 37 EV wird nur die Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen festgestellt.Voraussetzung hierfür ist, dass ein Bildungsabschluss vorliegt. Sofern infolge der von Partei- und Staatsführung der ehemaligen DDR vorgenommenen Reglementierung des Bildungszugangs Nachteile entstanden sind, müsste zur Heilung dieser Nachteile eine eigene gesetzliche Grundlage durch den Gesetzgeber geschaffen werden.

Prof. Dr. Schipanski Ministerin.