Massenmord

Nicht verfolgt wurden die Anstaltsleiter, die dem Massenmord zugearbeitet hatten. 1941 dienten die hessischen Anstalten dazu, die Patienten für Hadamar bis zur Vergasung aufzubewahren, und alle Direktoren waren auch darin eingeweiht. Man kann es an Hand von Dokumenten belegen, wie die hessischen Ärzte in Berlin eingeführt werden, z. B. Direktor Paul Schieße aus Herborn, Ernst Schneider aus Weilmünster, Ernst Müller vom Kalmenhof und Karl Todt von der Anstalt Scheuern, einer diakonischen Anstalt, die als Zwischenstation für Hadamar dient. Der Teilnehmer Dr. Walter Schmidt, Eichberg, sagte: Volle Verschwiegenheit hat man verlangt, und wir haben unterschrieben.

Die zentral gelenkte Vergasungsaktion endet nach öffentlichen Protesten im August 1941, nicht jedoch die Massentötung von Patienten mittels Verhungernlassens und Vergiftens durch Medikamente, wie z. B. Luminal. Auch in den hessischen Anstalten sterben massenhaft die Kranken.

In Marburg erhöht sich die Sterblichkeit 1940 - also vor den Vergasungen - und dann wieder ab 1942. Dasselbe kann man bei Merxhausen feststellen. In der hessischen Landesheil- und Pflegeheilanstalt Gießen steigt die Sterberate um 500 bis 600 % nach dem Vergasungsstopp. Über die Anstalt Scheuern können wir wenig sagen, weil die Anstalt bis dahin alle die Jahre gemauert hat. Aber wenn man sieht, wer von den Patienten, die dort hingekommen sind, 1945 überlebt hat, muss man vermuten, dass man auch dort dem Sterben nachgeholfen hat.

Das Massensterben ab 1942 ist unzureichend aufgeklärt und manchmal auch unerträglich in den Aussagen. Der Direktor der Anstalt Weilmünster hatte 1946 behauptet: Bei uns ist nicht einer verhungert. 1982 erfuhr ich zufällig von dem damaligen Frankfurter Stadtdekan Walter Adlhoch, der während des Krieges dort katholischer Seelsorger gewesen war, wie elend die Kranken dort verhungert waren.

In Weilmünster war schon 1940 fast jeder dritte Patient gestorben. Nach dem Vergasungsstopp im August 1941 bis Kriegsende steigt die Sterblichkeit auf 55 %. Die Funktion der Anstalt wird vollends deutlich - das ist schon einmal angeklungen -, wenn wir das Schicksal von jeweils 70 Männern und Frauen verfolgen, die Juli/August 1941 von den Rothenburger Anstalten nach Weilmünster verlegt wurden. Von den 140

Rothenburger Patienten sterben neun in Hadamar. Die anderen 131 werden alle in Weilmünster zu Tode gebracht.

Die Anstaltsdirektoren, die dem Massenmord zugearbeitet hatten und in deren Einrichtungen die Patienten massenhaft verstorben waren, blieben im Amt. Und zudem das wollen wir doch nicht vergessen - hatten sie sich an der Zwangssterilisierung ihrer als minderwertig und als lebensunwert diffamierten Patienten beteiligt, ein auch nach den Erkenntnissen der damaligen Zeit wissenschaftlich unsinniger Versuch, psychische Krankheiten beseitigen zu wollen.

Etwa 400.000 Menschen wurden zwangssterilisiert. Viele leben noch unter uns, lebenslänglich seelisch, körperlich und sozial geschädigt. Die Dehumanisierung der Zeit spiegeln die Sterilisierungsgutachten. So lesen wir in einer Sterilisierungsbefürwortung des Direktors der Frankfurter Uni-Nervenklinik - einer Klinik, deren Vergangenheit auch nicht aufgearbeitet wird und, wie ich fürchte, im Moment auch doch mit sehr legendenhaften Versuchen aufgearbeitet werden soll - von Prof. Karl Kleist 1938 über einen 25jährigen Medizinstudenten:

Eine Belastung mit manifesten Erbkrankheiten ist bei K. nicht nachzuweisen. Jedoch muss seine Mutter als deutlich psychopathische Persönlichkeit bezeichnet werden. Außerdem soll soll! - eine Schwester K.s einen neuropathischen, hastigen, etwas fahrigen Eindruck machen.

Dann heißt es weiter über diesen Menschen: Unordentlich in der Kleidung, unsauber und nachlässig, steht in schlapper Haltung herum. (...) Allerlei Manieren und Gewohnheiten ... machen ihn abstoßend und unerträglich.

Abschließendes Urteil: K. leidet an Schizophrenie. Die Voraussetzungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sind gegeben.

Kleist, Beratender Psychiater beim Wehrkreisarzt IX, befürwortete auch die an Folter grenzenden Verfahren mit faradichem Starkstrom gegen verwundete Soldaten, deren Traumata vielfach als Symptome von Hysterikern abgetan wurden. Kleist in einem Bericht 1944: Die am gleichen Tag besichtigte Abteilung der Reichsschulungsburg enthielt 40

Neurotiker, die eine ganze Blütenlese hysterischer Störungen darstellten.

Die Stützen, Komplizen und Mitläufer einer rassistischen Psychiatrie - das ist richtig, nicht erst seit der Nazi-Zeit, sondern alles, was angelegt war, war vor den Nazis da, in der Nazi-Zeit wurde nichts anderes getan, als das umzusetzen, was man vorher schon gedacht hatte -, die Kranke, Fürsorgezöglinge und Behinderte als biologisch und völkisch unerwünscht deklarierten, blieben in Amt und Würden. Sie übergaben sich gegenseitig die Ehrendoktorhüte.

Die Nazi-Zeit hatte Medizinern die einmalige Gelegenheit geboten, sich Patienten bestellen, beforschen und nach der Ermordung ihrer Gehirne bedienen zu können. Einer von ihnen war Professor Julius Hallervorden - vor 1945 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Gehirnforschung und noch heute als Altmeister der internationalen Neuropathologie gefeiert. Hallervorden ist anwesend, als im Oktober 1940 in der Vergasungsanstalt Brandenburg 58 Kinder vergast werden. Er schneidet die Gehirne an Ort und Stelle heraus. 1944 schafft Hallervorden seine Gehirnsammlung - sie heißt heute noch so, das sind mehrere Hundert Gehirne Ermordeter - zunächst nach Dillenburg, wo das für Hirnforschung zuerst unterkommt. Er wird Leiter der neuropathologischen Abteilung des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung in Gießen.

Hallerfordens Assistent, Professor Werner Joachim Eicke, wird Direktor des psychiatrischen Landeskrankenhauses in Marburg-Lahn.

In Marburg untergekommen ist ebenso Professor Werner Villinger, der unzählige Behinderte sterilisieren ließ, sogar ausländische Zöglinge. Zitat Villinger: Wir haben in einem Fall eine Ausnahme gemacht, ein österreichischer Junge aus Braunau, dem

Geburtsort Hitlers. Villinger war nach den Mitarbeiterlisten der Mordzentrale das heißt, er selektierte Kranke für die Gaskammer. Villinger finden wir 1946 in Marburg als Ordinarius und Direktor der Universitätsnervenklinik. Wir finden ihn später als Mitglied im Ausschuß für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestages.

Es ist ein Widersinn, dass die Ermordeten in den Gaskammern nie als Verfolgte des anerkannt worden sind. Aber dass dieser Wahnsinn Realität ist, dass die von den Nazis Vergasten rechtlich nicht Verfolgte des Nazi-Regimes sind, verdanken wir nun mit Gewißheit der Tatsache, dass die Täter eben Ärzte waren, die nach 1945 weiterhin im Dienst blieben und, wie gesagt, hoch dekoriert lebten.

Zum Schluß ein Blick darauf, dass die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie ja überhaupt erst in der Nazi-Zeit gegründet worden war. Die selbst formulierte, nicht von den Nazis diktierte Aufgabe war, Behinderte und Fürsorgezöglinge erbbiologisch zu sichten und zu vernichten. Einer dieser Kinderpsychiater ist Hermann Stutte, der ab 1938 das klinische Jugendheim der Tübinger Nervenklinik, das heißt eine Beobachtungsstation im Netz der Nazi-Fürsorge, leitete. Der Marburger Pädagoge Wolfram Schäfer hat 1952 Krankenakten aus Tübingen ausgewertet und unter anderem festgestellt, dass 1937 eine junge Frau wegen zirkulärem Irreseins in der Tübinger Klinik war. Der Ehemann wünschte die Entlassung, da die Konfirmation der Tochter anstand.

Stutte schlug vor, die Frau kurzzeitig zu beurlauben, man könne ja vom Ehemann eine Erklärung unterschreiben lassen, dass er, sollte seine Frau schwanger werden, mit Schwangerschaftsabbruch plus Sterilisierung einverstanden sei.

Hermann Stutte hat seine Lehrberechtigung 1944 mit einer bis heute verschollenen Habil-Schrift über Schicksal, Persönlichkeit und Sippe ehemaliger Fürsorgezöglinge erlangt. Er ist 1954 Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie geworden, der erste Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie überhaupt. Noch 1956 - man hatte sich sprachlich erst später angepaßt - forderte Stutte in einem Handbuch der Heimerziehung, die besonders infektiöse Kerngruppe chronischer Assozialität möglichst frühzeitig einer geeigneten Sonderbehandlung zuzuführen.

Zum Schluß möchte ich etwas Persönliches sagen: Ich habe 15 Jahre lang vergeblich nach dem Verbleib eines Arztes geforscht, den ich in der DDR wähnte. Es handelt sich um den in Dresden geborenen Regierungsmedizinalrat Dr. Ernst Schmorl. Er hatte 1941 die Leitung der sächsischen Landesheilanstalt Waldheim übernommen, auch eine Tötungsanstalt, und war 1942 in die Anstalt Brandenburg-Görden gekommen, damals die Ausbildungsstätte für Kindermörder. Danach wechselte er an die Heidelberger Universitätsnervenklinik, wo behinderte Kinder zuerst beforscht und später ermordet wurden.

Der Arzt, den ich 15 Jahre lang in der DDR suchte, war in Wirklichkeit am 2. Januar 1951 in Herborn als Oberarzt eingestellt worden. Im Mai 1958 wird Landesobermedizinalrat Schmorl Jugendpsychiater, ausgerechnet in der ehemaligen Mordstätte 1962 geht er in den Ruhestand. 1964 stirbt er an seinem Wohnsitz Wiesbaden. Die Justiz hat ihn nie ermitteln können.

Die Helfershelfer einer rassistischen und mörderischen Psychiatrie blieben im Amt. Die Folgen hatten Behinderte, Fürsorgezöglinge und psychisch Kranke zu tragen, bis heute.