1945

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! in 15 Minuten sein ganzes Leben zu erzählen, ist sehr schwer, wie Sie sich sicher denken können, erst recht, wenn es ein Leben wie das unsere gewesen ist. Ich werde es dennoch versuchen.

Ich komme aus Budapest, lebte aber vor dem Krieg in einer Kleinstadt im ungarischen Oberland. Ich bin im Jahre 1929 geboren und stamme aus einem armen jüdischen Elternhaus. Mein Vater war Herrenschneider und konnte in der kleinen ungarischen Stadt, wo wir wohnten, nie genug Arbeit haben, um seine sechsköpfige Familie zu ernähren.

Nachdem die Deutschen am 19. März 1944 auch unsere Stadt besetzten, wurden die antijüdischen Gesetze sofort verschärft. Binnen zwei Wochen trugen wir alle einen gelben Stern an unserer Brust. Es wurde ein Ghetto eingerichtet, wo wir alle hinein mußten. Es verging dort eine schreckliche Zeit. Die SS-Offiziere sowie die ungarischen Gendarme haben uns täglich bedroht, uns zu erschießen, falls wir unser verstecktes Geld und Schmuck, was wir schon längst nicht mehr gehabt haben, nicht abgeben.

Ich war noch nicht 15 Jahre alt, als wir alle Anfang Juni in Viehwaggons eingepfercht und abgeriegelt nach Auschwitz-Birkenau abtransportiert worden waren. Es war eine dreitägige furchtbare Fahrt.

Dort hat man uns sofort von allen unseren Habseligkeiten befreit, die Männer und Frauen separat in Fünferreihe gestellt, und man jagte uns zum Lagereingang. Am Lagereingang stand ein eleganter SS-Offizier, angeblich Dr. Mengele, und mehrere SS-Männer. Der SS-Offizier in weißen Handschuhen wies mit seinem Zeigefinger nach rechts oder links.

Meine Mutter schickte er nach links. Mich schickte er nach rechts. Als ich mich, ein kaum fünfzehnjähriges Kind, an meine Mutter anklammerte, wollte mich ein SS-Mann mit einem Gummiknüppel schlagen. Meine Mutter hatte um mich Angst gehabt und sagte, ich solle nur gehen. Sie wird sich schon zurechtfinden. Wir werden uns mit Sicherheit dann später treffen können. Das war das letzte Mal, an dem ich meine Mutter im Leben gesehen habe.

Meine Schwester habe ich in der großen Menschenmasse verloren und traf sie dann glücklicherweise wieder, als wir schon desinfiziert, kahlgeschoren und nackt in Fünferreihe standen. Wir bekamen ein zerfetztes Kleid ohne Unterwäsche und gingen in eine leere Baracke, die keine Einrichtung hatte und für ungefähr 800 Leute reichen sollte.

Sieben Wochen haben wir unter schrecklichen Umständen im Vernichtungslager Birkenau aushalten müssen. Es fanden zahlreiche Selektionen statt, und ich lebte in ständiger Angst, von meiner Schwester getrennt zu werden. Ich konnte der Vernichtung nur so entkommen, weil ich gelogen habe, ich sei schon zwei Jahre älter, damit über 16, was die untere Grenze einer Selektion zur Arbeit war, wie ich erst später erfuhr.

Ende Juli 1944 fand wieder eine Selektion statt, und wir wurden, etwa 1.000 ungarische jüdische Mädchen und Frauen, ausgewählt. Man steckte uns noch einmal in Viehwaggons, und am 1. August kamen wir in Hessisch Lichtenau an.

Als der Lagerkommandant Willy Schäfer uns - erschöpft wie wir waren - erblickte, sagte er entsetzt, er hätte Arbeitskräfte und nicht Skelette erwartet. Wie werden diese Leute in der Munitionsfabrik arbeiten können?

Wir wurden in den Baracken des Lagervereinshauses in Hessisch Lichtenau einquartiert und bekamen zwei Wochen Schonzeit. Man fütterte uns etwas besser, damit wir wieder zu Kräften kämen.

Im Lager waren die Umstände am Anfang wesentlich besser im Vergleich zu Wir haben uns sehr gefreut, in einer Fabrik zu arbeiten und damit Zeit zu gewinnen, denn dies bedeutete für uns eine eventuelle Chance zum Überleben. Es hat sich aber bald herausgestellt, dass die Munitionsfabrik in Hirschhagen für uns täglich eine Lebensgefahr bedeutete. Unsere Arbeit war sehr schwer und sehr gefährlich.

Wir arbeiteten in drei Schichten und gingen entweder mit dem Zug oder, wenn er nicht kam - und das war immer öfter der Fall -, zu Fuß bis zur Fabrik. Die meisten von uns hatten Holzpantinen, und im Winter klebte uns der Schnee an den Sohlen. Wir wackelten auf unseren Füßen, und die SS-Aufseherinnen jagten uns mit Schlägen bis zur Fabrik, damit wir uns zum Schichtbeginn nicht verspäten sollten.

In der Fabrik haben wir Granaten, Minen und andere Geschosse hergestellt. Unsere Arbeit war, die Sprengstoffmischung herzustellen, in die Granaten zu füllen, auf dem Laufband zusammenzumontieren, die fertigen Geschosse einzuwaggonieren usw.

Ich selbst habe an den verschiedensten Arbeitsphasen teilgenommen. Manchmal schickte man mich zur Vorbereitung, wo die leeren Hülsen zur Füllung vorbereitet wurden. Am meisten habe ich in der Füllstation gearbeitet. Dort mußte ich den in die Granaten gefüllten heißen Sprengstoff mit Messingstäbchen umrühren, damit eine gleichmäßige Abkühlung erfolgt, wodurch im Sprengstoff keine Luftblasen entstehen. Auf der Oberfläche bildete sich eine eisartige harte Schicht. Diese mußte man mit dem Stäbchen sorgfältig aufbrechen und umrühren. Ich habe den bitterlich schmeckenden giftigen Dampf einatmen müssen, das hat mich betäubt, und ich bin oft erst dann zur Besinnung gekommen, als mir der heiße Sprengstoff ins Gesicht spritzte. Dadurch wurde mein Gesicht mit Brandwunden übersät. Meine Haut und Haare haben sich durch den Umgang mit dem Sprengstoff gelb verfärbt. Schutzkleidung hatten wir natürlich auch nicht.

Manchmal mußte ich am Ende des Laufbandes die zusammenmontierten schweren Granaten ergreifen. Dabei habe ich meine Hände schwer verletzt. Ich habe meine vereiterten Wunden immer versteckt, ich wollte mich nicht krank melden, da ich immer Angst vor einer Selektion hatte. Gelegentlich habe ich auch bei der Einwaggonierung teilgenommen.

Unsere Lebensverhältnisse sind mit der Zeit immer schlimmer geworden, besonders nach der Ankunft von Oberscharführer Ernst Zorbach aus Buchenwald. Er folterte uns sowohl körperlich als auch seelisch und hat die ganze SS-Mannschaft gegen uns gehetzt.

In meinem Kinderkopf dachte ich manchmal, ob das überhaupt Menschen sind, die uns sowas antun können. Sie haben ebensolche Augen, Gesichter, Glieder wie die Menschen, benehmen sich aber doch überhaupt nicht menschlich.

Durch schlechte Behandlung und schwere Arbeit waren schon viele von uns derart erschöpft, dass im Oktober 1944 206 Mädchen und Frauen, die die schwere Arbeit in der Fabrik nicht mehr leisten konnten, in den Tod geschickt wurden. Man hat sie zurück nach Auschwitz transportiert und dort vergast. Das haben wir später in der Dokumentation sehen können.

Am 29. März 1945, bevor die Amerikaner Lichtenau erreicht haben, wurde unser Lager evakuiert. Man hat uns wieder in Viehwaggons gepfercht und nach Leipzig geliefert. Eine Woche später, nachdem unser Lager bombardiert wurde, wo viele von uns umgekommen sind, hat man uns auf einen zweiwöchigen Todesmarsch geschickt.

Wir mußten Tag und Nacht marschieren, bekamen kein Essen und ernährten uns von Pflanzen, die wir am Straßenrand gefunden haben. Diejenigen, die nicht weitermarschieren konnten, wurden einfach erschossen. Unsere erbärmliche Kleidung kam während der ganzen Zeit von unserem Körper nicht herunter und verfaulte an uns.

Wir überquerten die Elbe und marschierten, bis uns die russische Armee entgegenkam.

Da die SS-Mannschaft nicht in russische Gefangenschaft fallen wollte, ließen sie uns umkehren, und wir gingen wieder Richtung Leipzig zurück. Am 25. April 1945 wurden wir endlich in Wurzen von den Amerikanern befreit. Wir waren so schwach, dass wir noch 40 Tage in Quarantäne in Sagan verbringen mußten. Nachher machten wir uns auf den Weg nach Hause. Unterwegs mußte ich leider noch eine Weile im Spital von Preßburg bleiben, da ich meine erste Thrombose am Fuß bekommen habe und nicht weiter konnte.

Seitdem habe ich mehrmals Thrombose gehabt. Die Ärzte stellten fest, dass ich eine eigenartige Blutzusammensetzung habe, die ich mir höchstwahrscheinlich in der Munitionsfabrik verschaffte.

Nach Hause angekommen, haben meine Schwester und ich nichts wiedergefunden.

Unsere Wohnung war von fremden Leuten besetzt, kein einziges Stück war wiederzufinden. Wir mußten auch erfahren, dass unser Vater schon im Dezember 1944 in Dachau gestorben ist. Später haben wir aber auch erfahren können, dass unsere älteste Schwester, die in Budapest verheiratet war, dort überleben konnte. So zogen wir zu ihr nach Budapest.

Es hat bei mir sehr lange gedauert, bis ich mich mit der Ermordung unserer Eltern, dem Zerfall unseres Zuhauses abfinden und mir ein neues Heim erschaffen konnte. Es quälen mich noch immer Alpträume, und für eine ganz lange Zeit konnte ich über meine grausame Vergangenheit nicht sprechen. Im Jahre 1986 erfuhr ich von der Existenz der Geschichtswerkstatt in Hessisch Lichtenau. Seitdem wir im Jahre 1987 ein Ehemaligentreffen hatten, sind wir mit den Mitgliedern in ständigem Kontakt. Die haben mich ermutigt, über das, was mit uns geschah, zu sprechen, damit andere davon lernen können.