Arbeitslosigkeit

Politische Kultur in Thüringen 2002: Politische Einstellungen der Thüringer 62

Deprivation made in East Germany und das Phänomen der Ostalgie Ergänzend zu der vorwiegend ökonomischen Deprivation wird im Thüringen-Monitor 2002 erstmalig versucht, ein spezifisch ostdeutsches Empfinden der Benachteiligung zu messen.

Dabei gilt es zugleich, eine soziale oder sozio-kulturelle Variante der relativen Deprivation statt der bloß ökonomischen zu erfassen. Die Aussage Westdeutsche behandeln Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse erscheint für beide Zwecke besonders geeignet, weil sie auf ein allgemeines Diskriminierungsgefühl gegenüber einer explizit benannten Vergleichsgruppe abhebt: den Westdeutschen. Knapp die Hälfte der Thüringer stimmt dieser Aussage zu, ein Fünftel der Befragten sogar voll und ganz.

Besonders deutliche Zustimmung bekunden Frauen, während unter den Männern die Ablehnung erkennbar überwiegt. Zieht man weitere sozialstrukturelle Variablen heran, so ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei der relativen wirtschaftlichen Deprivation: Eine niedrige formale Bildung, ein unsicherer Arbeitsplatz und Arbeitslosigkeit begünstigen auch ein spezifisch ostdeutsches Gefühl der Diskriminierung. Dementsprechend eng sind die ökonomische und die stärker gesellschaftliche Deprivation made in East Germany miteinander verknüpft.

Fast jeder Zweite, der eine Diskriminierung durch Westdeutsche sieht, ist den im ökonomischen Sinne Deprivierten zuzurechnen ­ das ist ein vier Mal so hoher Prozentsatz wie bei denjenigen, die eine solche Diskriminierung der Ostdeutschen verneinen. Wie der Abbildung 33 zu entnehmen ist, lassen sich entsprechende Zusammenhänge auch für die beiden einzelnen Indikatoren der ökonomischen Deprivation nachweisen, also für die Einschätzung der eigenen finanziellen Situation und für die Bewertung der deutschen Einheit. Letztere stellt ausweislich einer multivariaten Analyse, die Informationen über die Bedeutung jedes Erklärungsfaktors im Vergleich zu anderen liefert, den wichtigsten Bestimmungsfaktor des ostdeutschen Diskriminierungsgefühls dar. Eine eigenständige Wirkung kommt darüber hinaus noch den autoritären Orientierungen zu, auf die in Kapitel III.3.1 näher eingegangen wird.

Abb. Äußert ein Befragter ein starkes ostdeutsches Benachteiligungsgefühl, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass er sich primär als Ostdeutscher versteht ­ und nicht als Thüringer, Deutscher oder Europäer.

Die wahrgenommene Diskriminierung durch Westdeutsche begünstigt nicht allein die Ausbildung eines ostdeutschen Sonderbewusstseins, sie prägt auch die retrospektive Bewertung der DDR. Gewissermaßen schiebt sie sich wie ein rosaroter Schleier vor das ancien regime, dessen Schattenseiten damit in ein freundliches Licht getaucht werden. So billigen drei Viertel der Befragten mit starker ostdeutscher Deprivation der DDR im Nachhinein mehr gute als schlechte Seiten zu; in der Gesamtbevölkerung tut dies nur noch etwa jeder Zweite (48 Prozent im Vergleich zu 56 Prozent 2001). Mit wachsender zeitlicher Distanz zu ihrem im Wahlplebiszit vom März 1990 besiegelten Exitus feiert die DDR anscheinend eine Art Wiederauferstehung: als Gegenbild zu einer als unbefriedigend und enttäuschend erfahrenen gesamtdeutschen Realität.

In dem auf den ersten Blick erstaunlich positiven DDR-Bild der Thüringer sind die verklärenden und (n)ostalgischen Momente nicht zu übersehen.

Sie würden jedoch missinterpretiert, würde man sie ohne weiteres als Ausdruck inhaltlicher Zustimmung zum SEDRegime oder gar als Wunsch nach einer Rückkehr zur DDR verstehen. Dies bedeutet freilich nicht, dass weltanschauliche Aspekte bei der positiven Wahrnehmung des ancien regime ohne Belang wären. Immerhin sind die Nicht-Demokraten unter den Freunden der DDR erheblich stärker vertreten als unter ihren Kritikern. Zudem fällt die Bewertung der DDR auf den linken Punkten der Links-Rechts-Skala weit positiver aus als in der Mitte und rechts davon.

Schließlich finden sich zwar unter den Sympathisanten aller in Thüringen relevanten Parteien DDR-Befürworter, aber die Anteile variieren zwischen 30 Prozent bei der CDU und 80 Prozent bei der PDS. Eine multivariate Auswertung lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass der stärkste Einfluss auf das DDR-Bild von der Deprivation ausgeht. Die Positionierung auf der Links-Rechts-Achse, die Ablehnung der Demokratie und auch der Autoritarismus sind wichtige verstärkende Faktoren mit jeweils eigenständiger Erklärungskraft.

Weshalb die DDR 12 Jahre nach der deutschen Vereinigung so hoch im Kurs steht, lässt sich anhand der voraus gegangenen Thüringen-Monitore, vor allem aber unter Rückgriff auf bundesweite Repräsentativbefragungen beantworten. Ganz offensichtlich wird ihr vor allem anderen die sozialstaatliche Absicherung gut geschrieben. Dass aber auch andere Aspekte wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinzukommen, mag eine Frage aus dem Schwerpunktteil des Thüringen-Monitors illustrieren. Fast vier Fünftel der Befragten bestreiten, dass die Familie heute im Vergleich zur DDR-Zeit an gesellschaftlichem (!) Stellenwert gewonnen hat. Summa summarum bleibt der Arbeiter- und Bauernstaat auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erstaunlich lebendig: in Gestalt von Mentalitätsbeständen, in langen Sozialisationsprozessen verinnerlichten Wertehierarchien und eben als ein gegen die Fährnisse der aktuellen Lebenslage konstruiertes geistiges Refugium.

46 Eine solche ostdeutsche Identität speist sich allerdings jenseits der ökonomischen und der spezifisch ostdeutschen Deprivation auch aus politischen und weltanschaulichen Quellen. So ordnen sich die Ostdeutschen unter allen Identitätsgruppen am weitesten links auf der Links-Rechts-Skala ein. In sozialstruktureller Hinsicht weisen sie zwei Besonderheiten auf: Unter ihnen befinden sich relativ viele Berufstätige und vor allem sind die gut Gebildeten überrepräsentiert. Dies legt die Vermutung nahe, dass ein ostdeutsches Selbstverständnis vor allem für diejenigen attraktiv ist, die im Gefolge des Systemumbruchs einen Statusverlust erlebt haben ­ und zwar auch dann, wenn damit keine finanziellen Nachteile verbunden gewesen sind.

47 So auch für Ostdeutschland insgesamt Neller 2000.

Politische Kultur in Thüringen 2002: Politische Einstellungen der Thüringer 64

2. Politische Orientierungen, Wahrnehmung von Politik und politisches Handeln

Interesse und landespolitisches Grundwissen

Das politische Interesse der Thüringer ist im Jahre 2002 relativ stark ausgeprägt. Beinahe jeder Fünfte gibt an, sein politisches Interesse sei sehr stark, etwa ebenso viele geben wenig oder überhaupt kein politisches Interesse an. Diese Werte sind im Vergleich zu anderen Umfragen verhältnismäßig hoch,48 was vermutlich an der zeitlichen Nähe zur Bundestagswahl 2002 gelegen hat. Frauen sind deutlich weniger an Politik interessiert als Männer, außerdem zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang mit dem Alter der Befragten: Das Interesse steigt mit dem Alter kontinuierlich an, erst bei den über 60-Jährigen geht es wieder leicht zurück. Erwartungsgemäß interessieren sich Befragte mit höherer formaler Bildung sehr viel stärker für Politik als andere.

Abb.sehr stark und stark wurden zusammengefasst.

Analog zur Bildung sind höhere und leitende Angestellte und Beamte deutlich interessierter als einfache und mittlere Angestellte und Beamte, diese wiederum sind etwas stärker interes48 Vgl. Allbus 1998 (Gesamt 7% sehr stark, Ost 7%, West 8%), beinahe gleiche Ergebnisse in Allbus 1996 und Allbus 1994.

49 Diese Zusammenhänge decken sich unter anderem mit den Ergebnissen der Nachwahlstudien von 1994 und 1998 (Maier 2000: 147).