Kapitalgesellschaft

2. Modernisierungstheoretische Ansätze: Aufstand der Desintegrierten Modernisierungstheoretische Ansätze werden mit teils anderer Etikettierung zur Analyse einer breiten Vielfalt sozialer Phänomene herangezogen. Als ihr gemeinsames Merkmal kann gelten, dass Prozesse des technischen Fortschritts, des wirtschaftlichen Wandels und damit verbunden die Ab- oder Auflösung solchermaßen herausgeforderter traditioneller gesellschaftlicher Strukturen und Regelungsmechanismen im Zentrum des Interesses stehen. Dieser Theoriestrang ist schon früh zur Deutung des Rechtsextremismus herangezogen worden. Bereits Mitte der 60er Jahre erkannten Sozialwissenschaftler im strukturellen Wandel der Industriegesellschaften die Voraussetzung für die Entstehung rechtsextremer Orientierungen (Scheuch/Klingemann 1967; eine alternative konflikttheoretische Zuordnung des Ansatzes bei Neureiter 1996:234-236). Ein entsprechendes Potenzial werde dadurch produziert, dass die den Industriegesellschaften eigene Dynamik bei den Individuen zu einem Spannungsverhältnis zwischen den in der frühen Sozialisation internalisierten Werten und der (neuen) gesellschaftlichen Werteordnung führe. Außerdem würden den Individuen beständig die Überprüfung und Anpassung ihrer Orientierungen abverlangt, was einen Teil von ihnen überfordere und dann zu pathologischen Reaktionen etwa im Sinne eines rigiden Denkens oder der autoritären Persönlichkeit führen könne. In der Konsequenz erscheint Rechtsradikalismus (so die damals vorherrschende Terminologie) als normale Pathologie von freiheitlichen Industriegesellschaften (Scheuch/Klingemann 1967:12f.)

Die Popularisierung der modernisierungstheoretischen Deutung des Rechtsextremismus weit über die Grenzen der Fachwelt hinaus erfolgte in den achtziger Jahren durch die Schriften des Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Sein Erklärungsansatz bezog sich (zunächst) auf die Genese des Rechtsextremismus in der als moderne kapitalistische Gesellschaft perzipierten (alten) Bundesrepublik. Als Datenbasis dienten eigene sowohl quantitativ als auch qualitativ angelegte Erhebungen zur Sozialisation von Jugendlichen. Den theoretischen Anknüpfungspunkt boten Becks Ausführungen zur Individualisierung und zur Diversifizierung der Lebensstile.

Heitmeyer fragt nach den gesellschaftlichen Folgen von Individualisierungsprozessen und betrachtet sie als ursächlich für die Herausbildung rechtsextremer Einstellungen und für entsprechend motiviertes Handeln. Die konstatierte Erosion sozialer Milieus und die schwindende Bindungskraft einstmals integrationsfähiger Institutionen (z.B. Familie, Kirche, Gewerkschaften) infolge ökonomischer Veränderungen sowie wachsender beruflicher und sozialer Mobilität mündet aus dieser Sicht in zunehmende Desintegrationserfahrungen. Zumal unter Jugendlichen drückten sich diese in wachsender Handlungsunsicherheit, Ohnmachtserfahrungen und einer zunehmenden Vereinzelung aus. Ein Teil der Betroffenen verarbeite diese Erfahrungen der Verunsicherung mit der Suche nach Gewissheit und Einbindung in ein starkes Kollektiv sowie mit Gewaltbereitschaft. Für derartige Verarbeitungsstrategien böten schließlich rechtsextreme Organisationen so genannte Anschlusskonzepte etwa in Gestalt von Vorurteilen gegen Ausländer, nationalen Überlegenheitsgefühlen und dem Ideologem vom Recht des Stärkeren. Rechtsextremismus entsteht im Ergebnis nicht an den Rändern der Gesellschaft, obwohl er dort zuerst sichtbar sein mag, sondern in ihrer Mitte. Er ist ­ stark vereinfacht formuliert ­ ein Produkt der Grundmechanismen der hochindustrialisierten, durchkapitalisierten Gesellschaft (Heitmeyer 1993:4) und insofern eine Begleiterscheinung der Modernisierung.

In besonderem Maße anfällig für rechtsextremes Denken und Handeln müssten dieser Logik zufolge die Modernisierungsverlierer sein, also die von den Desintegrationsprozessen objektiv am stärksten betroffenen Gruppen. Tatsächlich wird diese Argumentation von Heitmeyer zunächst auch vertreten. Sie erweist sich im empirischen Test interessanter Weise bei einer Erscheinungsform des Rechtsextremismus als erklärungsstark, die der Bielefelder Soziologe gar nicht im Blick gehabt hat: der Verbundenheit mit und der Wahl rechtsextremer Parteien (Falter 1994:157). Verschiedene (durchweg nichtrepräsentative) Jugendstudien bestätigen das Theorem der überproportionalen Neigung der Modernisierungsopfer zum Rechtsextremismus jedoch nicht (z.B. Held et al. 1992). Die Befunde zu den rechtsextremen Gewalttätern zeigen, dass mit den so genannten Schlägern lediglich eine überdies eher schwach politisierte Tätergruppe zu den Modernisierungsverlierern gerechnet werden kann.

In Reaktion auf die seiner Hypothese teils entgegen stehenden Befunde hat Heitmeyer im Kontext einer Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation von 31 Jugendlichen eine Kehrtwende vorgenommen. Danach seien vor allem diejenigen Jugendlichen für Rechtsextremismus anfällig, die, obgleich in den Arbeitsmarkt integriert und in formal intakten Familien aufgewachsen, instrumentalistische Arbeitsbeziehungen und entsprechende Beziehungsmuster verinnerlicht hätten (Heitmeyer 1992a:595-604). Die Ausbildung beider Orientierungen werde wiederum durch Modernisierungsprozesse stimuliert. In der Konsequenz müssten gerade die Modernisierungsgewinner bzw. ein Teil derselben besondere Affinität zu rechtsextremem Denken und Handeln aufweisen.

Zur Erklärung des ostdeutschen Rechtsextremismus bietet sich auf den ersten Blick vor allem der ursprüngliche modernisierungstheoretische Ansatz an. Die Häufung fremdenfeindlicher Einstellungen und rechtsextremistischer Gewalt in den neuen Ländern wäre dann aus dem ostdeutschen Transformationsprozess als einer spezifischen Form der Modernisierung abzuleiten. Konkret müssten demnach die Einheitsverlierer, denen mit dem Ende der DDR und ihres Institutionensystems die materielle Basis und darüber hinaus ihr integrierender Bezugsrahmen (im Sinne DDR-spezifischer Milieus) verloren ging, in besonderer Weise zum Rechtsextremismus neigen. Aus den Reihen der ihrer Orientierung, Berufsperspektive etc. beraubten Jugendlichen müsste sich entsprechend das Gros der Gewalttäter rekurrieren. Hinreichende Daten zur empirischen Überprüfung dieser Kausalbeziehung fehlen soweit ersichtlich noch. Während Meinungsumfragen auf einen Zusammenhang zwischen vereinigungsbedingter Desintegration und rechtsextremen Einstellungen hindeuten, scheint er sich für die fremdenfeindlichen Gewalttaten eher nicht zu bestätigen. Heitmeyer selbst hat sein Analysekonzept nur mit beträchtlichen Einschränkungen auf Ostdeutschland übertragen. An die Seite der vereinigungsbedingten Desintegrations- und Verunsicherungsprozesse trat ­ im Widerspruch zum eigenen Modell ­ eine sozialpsychologische Deutung im Sinne der autoritären Erblast des SED-Regimes (Heitmeyer 1992b).

3. Konzepte der relativen (politischen) Deprivation

Im Zentrum von Konzepten der relativen Deprivation steht die Unzufriedenheit von Personen oder Gruppen, die sich aus dem wahrgenommenen Auseinanderklaffen von eigenen Ansprüchen auf materielle oder immaterielle Güter und deren tatsächlicher Verfügbarkeit ergibt.

Relativ ist der Mangel insofern, als er sich auf Vergleichsgruppen bezieht, wobei es sich häufig um sozial höher stehende Referenzgruppen handelt. Relative Deprivation kann aber auch gegenüber sozial schlechter Gestellten empfunden werden, etwa wenn diese als potenzielle Konkurrenten erscheinen oder ihr Anteil (z.B. an Sozialleistungen etc.) als unzulässig hoch gilt. Eine spezifische Form stellt die politische Unzufriedenheit bzw. die politische Entfremdung dar. Sie tritt auf, wenn Erwartungen gegenüber der Politik ­ dem politischen System und/oder seinen Akteuren (Parteien, Amts- und Mandatsträger) ­ nicht erfüllt bzw. die Leistungen des politischen Systems als unzureichend wahrgenommen werden.

Die relative und politische Deprivation lässt sich im Prinzip zur Erklärung sämtlicher Erscheinungsformen des Rechtsextremismus heranziehen, allerdings bedarf es für das Umschlagen von Unzufriedenheit in Gewalt- oder sonstiges Handeln zusätzlicher Annahmen. Trotz mancher Gemeinsamkeiten mit der Modernisierungstheorie, etwa hinsichtlich der Bedeutung sozialstruktureller Faktoren und Entwicklungen, bestehen mindestens zwei wesentliche Unterschiede: Erstens argumentieren modernisierungstheoretische Erklärungen mit objektiven gesellschaftlichen Entwicklungen wie z. B. Desintegrationsprozessen, während Konzepte der relativen Deprivation von subjektiven Wahrnehmungen ausgehen. So können den Modernisierungsgewinnern Zuzurechnende ihrer eigenen Einschätzung zufolge benachteiligt sein bzw. sich gegenüber anderen Gruppen ungleich behandelt fühlen (Kowalsky/Schroeder 1994). Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass im Rahmen des Konzepts der politischen Deprivation die Entstehung von Ungleichheitsgefühlen nur geringe Aufmerksamkeit erfährt, während zumindest ein Teil der Modernisierungstheorie Deprivation direkt mit systemischen Merkmalen sowie mit politischen Strukturen und Prozessen in Verbindung bringt.

Den ostdeutschen Rechtsextremismus aus kollektiven Empfindungen der Unzufriedenheit und der ungerechten Behandlung zu erklären, scheint insofern nahe zu liegen, als nach der Vereinigung ausweislich verschiedener Umfragen ein beträchtliches Unzufriedenheitspotenzial in den neuen Ländern bestand und auf niedrigerem Niveau bis heute fortbesteht. Die hohen ökonomischen wie politischen Erwartungen, die im Wahljahr 1990 noch zusätzlich stimuliert worden waren, konnten teils nicht erfüllt werden. Zudem provozierte die tendenziell deutlich bessere Lage in der westdeutschen Referenzgesellschaft (höhere Löhne, geringere Arbeitslosigkeit etc.) Gefühle der Benachteiligung. Sie vermögen die kontinuierlich hohe und gegenüber Westdeutschland signifikant stärkere sozioökonomische Ausländerfeindlichkeit (z.B. Ausweisung von Ausländern bei Arbeitsplatzknappheit) ostdeutscher Befragter zu erklären:

Die durch relative Deprivation gegenüber den Westdeutschen hervorgerufene Unzufriedenheit richtet sich gegen diejenigen (schwächeren) Gruppen, die als Konkurrenz um knappe Ressourcen wie Arbeitsplätze oder Sozialleistungen wahrgenommen werden. Gleichzeitig wächst der Druck auf die politischen Entscheidungsträger, die vermeintliche politische Benachteiligung gegenüber den fremden Konkurrenten zu beenden.

Implizit ist damit das Theorem der relativen Deprivation bereits mit einer Sündenbockthese verbunden worden. Damit tritt das grundsätzliche Problem zu Tage, dass das Vorliegen relativer und politischer Deprivation noch keine Aussage darüber erlaubt, gegen wen sich die bestehende Unzufriedenheit richtet bzw. ob sie sich überhaupt artikuliert. Insbesondere für rechtsextremes Protest- und Gewalthandeln ist zu bezweifeln, dass es allein aus der perzipierten Benachteiligung bzw. einem Unzufriedenheitsgefühl hervorgeht. Vielmehr bedarf es zusätzlicher Bedingungen, die etwa in der Form von rechtsextremen Anschlusskonzepten (siehe unter Modernisierungstheorie) oder Wahlangeboten bestehen können. Stehen diese in attraktiver Form zur Verfügung, sind relative und politische Deprivation etwa kombiniert mit einem niedrigen Bildungsniveau eine wesentliche Ursache der Wahl der REP (Hennig 1994) und zumindest mitverursachend für fremdenfeindliche Gewalt. So konstatiert eine Analyse fremdenfeindlicher Straftäter die wichtige Rolle von Vorstellungen von Verteilungs-Ungerechtigkeiten und einer [als] illegitim wahrgenommenen Privilegierung ausländischer Bevölkerungsgruppen durch den Staat (Willems/Würtz/Eckert 1994:75).