NS-Euthanasie

Es ist kaum nachvollziehbar, wie es möglich war, dass in Thüringen auch in Bezug auf den dritten Punkt der Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns für behinderte Menschen Ärzte eine Vorwegnahme der nationalsozialistischen Gesetze praktiziert haben. Die Tötung behinderter Kinder und Erwachsener ist ein brutaler Angriff auf das Leben behinderter Menschen. Auch in Thüringen wurden behinderte und nicht angepasste Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Rahmen der NS-Euthanasie getötet. Im Rahmen der so genannten Aktion T 4 wurden 1940/41 Patienten vor allem psychiatrischer Einrichtungen, aber auch aus Versorgungs- und Siechenheimen in Vergasungsanstalten getötet. Im Rahmen der ebenfalls staatlich organisierten Kindereuthanasie sollten ab August 1939 alle in Privathaushalten lebenden behinderten Kinder und Jugendlichen erfasst, beurteilt und bei zu erwartender Bildungs- und Arbeitsunfähigkeit getötet werden. Nachdem die Vergasungen von Psychiatriepatienten nach Protesten vor allem der Katholischen Kirche gestoppt wurden, sind dezentrale Tötungen in den einzelnen Einrichtungen intensiviert worden. Die staatlich organisierte Ermordung behinderter Kinder und Jugendlicher wurde seit 1940 bis zum Ende der NSDiktatur hingegen kontinuierlich weiterbetrieben.

Während der Arbeit dieser Enquetekommission hatte der Thüringer Landtag vom 15. Oktober bis 19. Dezember 2003 die Möglichkeit, die Ausstellung Überweisung in den Tod - NSKindereuthanasie in Thüringen zeigen zu können.

Bemerkenswert war der zahlreiche Besuch dieser Ausstellung (wurde daraufhin um fünf Wochen bis zum 19.12.2003 verlängert), insbesondere durch Schulklassen; ein Beleg auch dafür, dass der Anregung der Enquetekommission, das Thema Euthanasie im Schulunterricht bei der Wertevermittlung nicht auszusparen, schon jetzt gefolgt wird.

Organisatorische Voraussetzung für die NS-Kindereuthanasie war ein Erlass zur Meldepflicht für missgestaltete usw. Neugeborene vom 18.08.1939. Die erste Kinderfachabteilung wurde 1940 in Görden bei Brandenburg errichtet. Im September 1942 wurde beschlossen, in den Thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda (ab 1943 als Thüringisches Landesfachkrankenhaus bezeichnet) eine Kinderfachabteilung einzurichten. Jedoch wurde bereits zuvor - mindestens seit 1941 - dort Kindereuthanasie betrieben. In Stadtroda verstarben zwischen 1941 und April 1945 mindestens 197 Kinder und Jugendliche.

Im Rahmen laufender Forschungsarbeiten zusammengetragene Zahlen zu T4-Opfern aus Thüringen (bis zum Stopp der Vergasungen im August 1941): Thür. Landesheilanstalten Stadtroda 60 Patienten in Sonnenstein/Pirna vergast Thür. Landesheilanstalten Blankenhain 227 Patienten in Sonnenstein/Pirna vergast; Blankenhain im Herbst 1940 aufgelöst Thür. Landesheil- und Pflegeanstalt Hildburghausen 158 Patienten (Sonnenstein/Pirna) Landesheil- und Pflegeanstalten Pfafferode bei Mühlhausen (Provinz Sachsen) 85 Patienten (Sonnenstein/Pirna) Thür. Versorgungs-, Pflege- und Siechenheime bislang noch unbekannt

Wie viele Patienten im Rahmen der dezentralen Euthanasie in entsprechenden Thüringer Einrichtungen getötet wurden, ist bislang noch nicht bekannt. Es handelt dabei sich wahrscheinlich um mehrere Tausend Opfer.

Ein kurzes Ausstellungsmanuskript und die Rede der Vizepräsidentin des Thüringer Landtags Dr. Klaubert zur Eröffnung dieser Ausstellung sind dem Abschlussbericht als Anlage 15 beigefügt.

Quellen dazu und zu den oben kleingedruckt folgenden Zahlen zu den T4-Opfern aus Thüringen: Informationen aus der o. g. Ausstellung Überweisung in den Tod - NS-Kindereuthanasie und von PD Dr. S. Zimmermann, Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik an der Jena

Im Rahmen der Aktion T4 wurden in den Vergasungsanstalten 70.273 Patienten (Erwachsene, Kinder und Jugendliche) vor allem psychiatrischer Einrichtungen getötet.

Nach Schätzungen wurden durch die dezentralisierte Euthanasie mehr als 150.000 Patienten (vor allem nach Vergasungs-Stopp) getötet, z. B. durch Medikamentenüberdosierung, Nahrungsentzug, auch Verweigerung von entsprechend notwendigen Medikamenten.

Im kirchlichen Anna-Luisen-Stift Bad Blankenburg wurden nach jüngsten Forschungen auch behinderte Kinder und Jugendliche getötet. Zudem verlegte man, während das Stift in der Zeit vom 08.09. bis 27.11.1941 vorübergehend geschlossen wurde, 54 Kinder nach Stadtroda, von denen 26 - 11 Mädchen und 15 Jungen - dort starben. 21 Kinder wurden nach dem 27.11. wieder zurück nach Bad Blankenburg verlegt, 9 von ihnen starben bis Kriegsende.

d) Medizinische Menschenversuche:

Ein Missbrauch der Medizin ganz anderer Art, der weniger die Menschenwürde der behinderten Menschen berührt, aber innerlich damit zusammen hängt, ist das Vordringen von medizinischen Versuchen an Menschen, die dem politischen Regime wehrlos ausgeliefert waren.

Die Verachtung des lebensunwerten Lebens wandelte sich hier zu einem menschenverachtenden Verbrauch menschlicher Gesundheit für vermeintliche Zwecke einer Medizin, die sich die ethische Maßlosigkeit der herrschenden Klasse zu Nutze machte. So wurden zum Beispiel im thüringischen Konzentrationslager Buchenwald Menschenversuche mit Impfstoffen vorgenommen, welche von Vertretern der IG Farben AG, der Wehrmacht und der SS abgesprochen waren. Seit 1942 gab es auf dem Lagergelände bei Weimar eine Versuchsstation des Hygiene-Institutes der Waffen-SS, wo die Versuche bis in das Frühjahr 1945 hinein fortgeführt wurden. Durch die Injektion der Krankheitserreger wurden Häftlinge künstlich infiziert, um an ihnen die Krankheiten und die Impfstoffe zu studieren und zu entwickeln. Sie wurden nicht behandelt, starben nach kurzer Zeit oder wurden genutzt, um als lebendige Biotope für die Erreger (so genannten Passagen) zur Bereithaltung der Erregerstoffe für die Ärzte zu dienen. Laut Tagebuch der Versuchsabteilung liefen von August 1942 bis Oktober 1944 35 Versuchsreihen mit epidemischen Krankheiten. Gesundheit und Leben von über 1100 Menschen wurden dabei zerstört.