Krankenhaus

Eine Geschichte der Verdrängung?

Im Raum Thüringen hat der Nationalsozialismus deutliche Spuren seines eklatanten Missbrauchs der Medizin hinterlassen. Es gehört mit zu den Aufgaben der Kommission festzustellen, dass die Aufarbeitung dieser Vergangenheit bisher wenig geglückt erscheint. Das mag damit zusammenhängen, dass die politische Führung der DDR eigenartigerweise ­ trotz der klaren Abgrenzung vom Faschismus ­ kein Interesse an einer Aufdeckung der Tatbestände, an der juristischen Strafverfolgung der Täter oder gar an einer öffentlichen Wiedergutmachung für die Opfer hatte. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Westdeutschland schufen ein Klima, in dem (in beiden Teilen Deutschlands) die Vergangenheitsbewältigung sehr schwierig war. Trotzdem ist es für Thüringen äußerst problematisch, dass in der Vergangenheit die Mediziner, die sich für den Missbrauch durch die Nationalsozialisten hergaben, für ihre Handlungsweisen nicht zur Verantwortung gezogen wurden, sondern ihre Karriere auch innerhalb der sozialistischen Gesellschaft fortsetzen konnten. Das betrifft sowohl die Fragen der Zwangssterilisation als auch die Euthanasiehandlungen. Es geht dabei weniger um Strafgerechtigkeit als um Anerkennung der Opfer, psychologische Hilfe für

Ende des Jahres 1965 stellt das fest, dass in der jugendpsychiatrischen Abteilung Kinderfachabteilung [in Stadtroda] von 1940-1945 140 Kinder (seit Bestehen der Kinderfachabteilung 71 Kinder) verstarben. Als Todesursachen wurden in der Regel Herz- und Kreislaufschwächen angegeben. Ab 1941 waren die Kinder von Margarete Hielscher für den Reichsausschuss begutachtet worden. Für ihre erneut bewiesene Einsatzfreudigkeit erhielt sie 1944 vom Reichsausschuss eine Weihnachtszuwendung von 150,- Reichsmark. In der Männerabteilung verstarben zwischen 1939 und 1945 278 Patienten, in der Frauenabteilung 363 Patientinnen. 126 Frauen und Männer waren aus Jenaer Kliniken, häufig aus der Nervenklinik von Bertold Kihn, überwiesen worden. Die Frauenabteilung leitete von 1940-1942 Rosemarie Albrecht. Die weisen unter ihrer Stationsleitung den Tod von 159 Frauen und elf Mädchen eines Transports aus dem Luisenstift Blankenburg aus. Das sieht es als erwiesen an, dass Stadtroda in die NS-Euthanasie-Verbrechen eingebunden war. Dennoch wird nach einer Entscheidung in der Berliner Hauptabteilung XX der Operative Vorgang Ausmerzer im Mai 1966 durch die Kreisdienststelle des eingestellt. Die Gründe dafür dürften vor allem in den DDR-Karrieren einiger Ärzte aus Stadtroda liegen. P. Reif-Spirek, Später Abschied von einem Mythos. Jussuf Ibrahim und die Stadt Jena, in: A. Leo/P. Reif-Spirek, Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus. Berlin 2001, 21-50; hier: 36.

Die Tendenz ist deutlich: Mit Beginn des Kalten Krieges verringerten sich die Bemühungen um eine juristische Strafverfolgung. Da auch in der Bundesrepublik Deutschland wenig Interesse an diesem Thema bestand, ließ es sich schlecht politisch verwerten und war damit nicht von Nutzen. U. Hoffmann, Das ist wohl ein Stück verdrängt worden. Zum Umgang mit den Euthanasie-Verbrechen in der DDR, in: A. Leo/P. Reif-Spirek, Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus. Berlin 2001, 51-66; hier: 55.

Für Thüringen sind es eben vor allem die Ereignisse um Stadtroda, die ­ so zeigen die Akten des Staatssicherheitsdienstes ­ sehr halbherzig behandelt wurden. Die Mitarbeiter des konzentrierten sich auf folgende Vorgänge: die Aktion Zschadraß (der Abtransport von Patienten aus Stadtroda), das Sterben im psychiatrischen Krankenhaus Stadtroda und den Verbleib eines Sammeltransportes mit Kindern aus dem Anna-Luisen-Stift/Bad Blankenburg. Als verdächtig galten Dr. Gerhard Kloos, nach 1945 Leiter eines Krankenhauses in Göttingen, Dr. Johannes Schenk, bis 1945 Stellvertreter von Dr. Kloos und nun Stellvertreter von Prof. Drechsler, Dr. Margarete Hielscher, bis 1945 Leiterin der Kinderfachabteilung und danach Leiterin der Kinderabteilung in Stadtroda, und Dr. Rosemarie Albrecht, von 1940 bis 1941 Leiterin der Frauenabteilung in Stadtroda und inzwischen Direktorin der HNO-Klinik der Universität Jena. Ebd. 58. die erfahrenen brutalen Konflikte ­ wo sie überhaupt noch möglich ist ­ sowie um eine historische Gerechtigkeit.

Die Behandlung behinderter Menschen im SED-Staat

Die sozialistische Ideologie kannte im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Ideen keine ausdrückliche abwertende Qualifikation der behinderten Menschen. Das Menschenbild des Sozialismus unterscheidet sich in diesem Sinne von dem rassenideologischen Gedankengut des NS-Totalitarismus radikal. Ein Missbrauch der medizinischen Dimensionen lässt sich auch nicht an dem betonten Leistungsideal sozialistischer Kultur festmachen ­ auch wenn dieses Ideal für die behinderten Menschen häufig Ausgrenzung und Missachtung mit sich brachte. Auch die soziale Marktwirtschaft muss immer wieder darum kämpfen, die Extreme des Leistungsdenkens zu zähmen. Dennoch hat es in der DDR zahlreiche Missstände im Umgang mit behinderten Menschen gegeben. Dies gilt insbesondere für Betroffene, die aufgrund ihrer Behinderung auf Hilfsmittel angewiesen waren. Ein in dieser Hinsicht zu verzeichnender Mangel an Hilfsmitteln hatte im Einzelfall für Menschen mit den entsprechenden Behinderungen gravierende Folgen; sie waren in ihrer Teilhabe am Leben dadurch stärker eingeschränkt als andere. Die Versorgung mit Rollstühlen, Elektrorollstühlen oder künstlichen Körperersatzstücken (Prothesen) war nicht zufrieden stellend, oftmals entsprachen die Hilfsmittel nicht dem neuesten Stand der Technik. Weiterhin war die Mobilität von behinderten Menschen aufgrund der nicht barrierefreien Gestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs (Schiene wie Straße gleichermaßen) sehr eingeschränkt. Sonderfahrdienste für behinderte Menschen, so wie sie heute üblich sind, gab es damals ebenfalls nicht.

Selbst wenn es im Herrschaftsbereich der SED keinen systematischen Missbrauch der Psychiatrie zur Abwehr regimekritischer Kräfte wie in der Sowjetunion gegeben hat, reichen die Praxis psychiatrischer Einweisung, die die entsprechenden DDR-Gesetze selbst verletzte, und die gezielte Einsetzung psychologischer Methoden zur Unterdrückung und politischen Gefügigmachung von Menschen an einen die Menschenwürde antastenden Missbrauch heran. Neben den Verletzungen des Einweisungsgesetzes muss hier die psychologische Kampfmethode des genannt werden, die Schaffung einer Atmosphäre der Angst, die Ausgrenzung

Hinsichtlich der notwendigen Aufarbeitung des Umgangs mit behinderten Menschen im NS-Staat wird auf die Empfehlung 16 verwiesen. der freien Träger aus der Behindertenfürsorge und die materielle Vernachlässigung behinderter Menschen in einer Isolierungsmentalität.

a) Verletzung des Einweisungsgesetzes

Die Gesetzgebung der DDR sah zwangsweise Einweisungen psychisch Kranker oder psychisch kranker Straftäter unter genau umschriebenen Bedingungen vor, die im Wesentlichen mit der Gesetzgebung der alten Bundesrepublik korrespondierten. Befristete Einweisungen gegen den Willen eines Klienten mussten die Kriterien einer medizinisch anerkannten psychischen Erkrankung erfüllen und sie waren nur zum Schutz von Leben und Gesundheit des Klienten oder der Vermeidung von Gefahren für andere möglich. Sie waren auf eine Frist von sechs Wochen beschränkt und konnten nur auf Antrag und Grundlage eines fachärztlichen Gutachtens über einen richterlichen Beschluss verlängert werden. Der fehlende Richtervorbehalt für die befristete Einweisung könnte im Sinne einer ärztlichen Schutzmaßnahme verstanden werden, der gerade fachfremde Motivationen abzuwehren im Stande ist. De facto setzt hier ein Missbrauch im Kontext der SED-Diktatur ein, insofern die zu weit gehende Auslegung des DDR-Einweisungsgesetzes dazu geführt hat, politisch unzuverlässige Personen in psychiatrischen Gewahrsam zu nehmen. Für Ost-Berlin scheint dabei zu gelten: Die häufigste Konstellation von Psychiatrisierungen in der DDR aus sachfremden Gründen, die also nicht dem Schutz von Leben oder Gesundheit eines Kranken oder der Abwehr einer ernsten Gefahr für andere Personen oder für das Zusammenleben der Bürger diente, bestanden darin, dass psychisch auffällige, gestörte oder kranke Menschen im zeitlichen und kausalen Zusammenhang mit Staatsfeiertagen, Staatsbesuchen, Parteitagen, Sport- oder Festspielen, Paraden, Wahlen oder ähnlichen in der DDR als bedeutsam bewerteten Ereignissen in die Psychiatrie eingewiesen oder dort festgehalten wurden. 73

In Thüringen erreichte der Missbrauch die Zahl von mindestens 19 Fällen, in denen die Auszahlung einer Kapitalentschädigung auf der Grundlage eines Rehabilitierungsbeschlusses eines Thüringer Landgerichtes oder des Thüringer Oberlandesgerichtes nach dem Paragraph 2 des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes vorgenommen worden ist. In diesen Fällen zeigt sich, dass in Thüringen vor allem systemkritische Aktionen und Haltungen, die versuchte Republikflucht usw. Anlass des Zugriffs politi73

Kommission zur Aufklärung von Missbrauch in der Ost-Berliner Psychiatrie, Abschlussbericht. Vorgelegt im September 1995, 14.