Schulstrukturen

Der Erziehungswissenschaftler Carl-Ludwig Furck hat bereits im Jahr 1967 festgehalten, dass es in Deutschland seit langem eine unheilvolle Spaltung in der Schulreformdebatte gibt. Die einen setzen auf innere Schulreform und erklären die Einflüsse struktureller Reform für relativ unbedeutsam, die anderen setzen auf äußere Schulreform und bagatellisieren die Folgen inhaltlicher Veränderungen. Furck besteht darauf, dass beide Prozesse zusammengefasst werden müssen. Er macht darauf aufmerksam,

· dass einerseits innere Schulreform schnell an ihre Grenzen stößt, wenn die äußere Reform ihr nicht folgt,

· dass andererseits eine äußere Reform nur leere Hülsen hervorbringt, wenn sie nicht didaktisch und pädagogisch gefüllt wird.

Der Zusammenhang von äußerer und innerer Schulreform muss bedacht werden, wenn im folgenden Abschnitt im Wesentlichen von Schulstrukturen in Thüringen die Rede sein wird.

Es muss auch die eigenständige Entwicklung in der DDR und danach in den neuen Bundesländern gesehen werden.

Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten wird nicht erst seit PISA und IGLU angenommen, dass gegliederte Schulsysteme, so wie wir sie in Deutschland besitzen, besondere Probleme damit haben, sowohl Bildungsgerechtigkeit als auch die Förderung der Leistungsfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler zu verwirklichen. Zwar zeigt der innerdeutsche Vergleich (PISA-E), dass die Leistungsfähigkeit der Schulen in verschiedenen Bundesländern erheblich schwanken kann (etwa zwischen Bayern und Bremen). Im OECD-Vergleich wurden jedoch in früh gliedernden Systemen im Durchschnitt nicht die Leistungen von Spitzenländern erreicht, die in der Sekundarstufe I integrierte Schulsysteme mit schwacher Selektion und hohem Förderanspruch besitzen.

­ Bedeutung ­ Neben dem Problem des Umgangs mit sprachlicher und kultureller Heterogenität93 in allen Schulformen konzentriert sich die Kritik am deutschen Schulsystem im Wesentlichen auf zwei Bereiche:

[a] auf die Übergangsauslese nach dem 4. Schuljahr ­ also auf die strukturellen Folgen von Leistungsheterogenität sowie

(b) auf die von Bundesland zu Bundesland zwar schwankende, im Durchschnitt aber zu geringe Förderung von Schülerinnen und Schülern im Verlauf der Sekundarstufe I ­ mit der Folge eines deutlichen Zusammenhangs von sozio-kulturellem Hintergrund der Jugendlichen und ihren Leistungen.

Nach einem im Anschluss an PISA-I und PISA-E vorgelegten internationalen Vergleich systemischer Merkmale ­ einbezogen sind die Schullandschaften in Kanada, England, Finnland, Frankreich, den Niederlanden und Schweden

­ kann man davon ausgehen, dass die deutschen Schulen von Entwicklungen erfolgreicher OECD-Länder Anregungen erhalten, die sich auf die Weiterentwicklung des deutschen Schulsystems positiv auswirken können: Bemerkenswert ist... die Einheitlichkeit mancher Prozessmerkmale in den sechs Vergleichsländern: Schulen haben mehr Eigenverantwortung, zugleich werden mehr zentrale Prüfungen als in Deutschland durchgeführt. Es wird früher eingeschult (Ausnahme: Finnland und Schweden) und eine Differenzierung auf unterschiedliche Schulformen wird später vorgenommen als in Deutschland. Die Schüler dieser Länder berichten von mehr Unterstützung durch ihre Lehrer und besuchen seltener Nachhilfeunterricht als deutsche Jugendliche. (...)

Die untersuchten Referenzstaaten weisen allesamt Schulsysteme auf, in denen die Schüler längere Zeit (in der Regel mindestens acht Schuljahre) gemeinsam lernen und in denen eine äußere Leistungsdifferenzierung spät und offenbar auch behutsam erfolgt. Auch wenn dieser konstatierte Sachverhalt keinen Nachweis (schon gar keinen empirisch fundierten) über eine etwaige Leistungsüberlegenheit sozial-integrativ organisierter Schulsysteme gegenüber gegliederten Systemen liefern kann, so lässt sich doch eine begründete Vermutung über diesen Zusammenhang ableiten.

Vgl. oben C.III.2. Sozio-kultureller Rahmen und demographische Entwicklungen.

Arbeitsgruppe a. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre beschrieben. Um den Befund griffig zu formulieren, erfand Peisert96 eine Kunstfigur: das katholische Arbeitermädchen vom Lande. Wer dem katholischen Glauben angehörte, aus einer Arbeiterfamilie stammte, ein Mädchen war und auf dem Lande lebte, wurde im gegliederten Schulsystem der alten Länder in den 1960er und 1970er Jahren trotz guter Leistungen nicht angemessen gefördert. Man musste sich eingestehen: Kinder sozial bevorzugter Schichten schreiten schulisch voran, Kinder benachteiligter Schichten haben unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit keine ausreichenden Chancen.

Viel hat sich seit Mitte der 1970er Jahre bis heute am Bildungsverhalten junger Menschen verändert, unter anderem weil sich das Bildungsangebot veränderte. So wurde z. B. in Thüringen aus pragmatischen Gründen die Regelschule eingeführt, die in sich die Bildungsgänge der Haupt- und der Realschule vereinigt. Zwei Benachteiligungen sind jedoch bis heute geblieben: Wer auf dem Lande lebt, hat schlechtere Bildungschancen, vor allem aber wer aus einem bildungsfernen und/oder einem sozial schwachen Milieu stammt, besitzt im gegliederten Schulsystem Deutschlands geringere Bildungschancen. In jüngeren Untersuchungen zeigt sich, dass heute davon nicht mehr so stark die Mädchen, sondern weitaus mehr die Jungen betroffen sind.

Wiederkehrend wird in einschlägigen Studien ermittelt, dass die Übergangsempfehlungen am Ende der Grundschule nicht nur nach dem Stand der Schulleistungen erfolgen, sondern offenbar von vielen anderen Faktoren abhängen. Von einigen Autoren wird zur Erklärung die mangelnde Diagnosefähigkeit der Lehrkräfte hervorgehoben. In anderen Untersuchungen wird betont, dass die Grundschulprognose über eine Schullaufbahn am Ende des vierten Schuljahres nur einen bedingten Vorhersagewert dafür besitzt, wie sich die Leistungsfähigkeit einer Schülerin bzw. eines Schülers im Laufe der weiteren Schulzeit entwickeln wird. Die

Vgl. Peisert, H.: Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland. München 1967.

Ebd. und Bos, W.; Lankes, E.M.; Prenzel, M.; Walther, G.; Valtin, R. (Hrsg.): Erste Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster 2003.

Vgl. dazu auch Bos, W.; Lankes, E.M.; Prenzel, M.; Walther, G.; Valtin, R. (Hrsg.): IGLU. Einige Länder der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Vergleich. Münster 2004.