Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 hat der Sozialstaat nicht nur Verfassungsrang erhalten Art

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Hinsichtlich des Umfangs der Sozialleistungen sind die Entwicklungen seit 1949 durch eine massive Expansion zumindest während der ersten knapp drei Jahrzehnte geprägt. In der generellen wohlfahrtsstaatlichen Dynamik unterscheidet sich die Bundesrepublik damit nicht von anderen westlichen Industrienationen. Wohl aber weist der bundesdeutsche Sozialstaat in seinen Strukturmerkmalen, dem Leistungsumfang und den Verteilungslogiken manche Besonderheiten auf.

Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 hat der Sozialstaat nicht nur Verfassungsrang erhalten (Art. 20 Abs. 1 GG). Vielmehr ist ihm gemeinsam mit den anderen Staatsstrukturprinzipien der Demokratie, der Bundesstaatlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit Bestandsschutz für die Geltungsdauer der Verfassung garantiert. Zur Ausgestaltung dieses Verfassungsprinzips gibt das Grundgesetz allerdings nur sehr grobe Orientierung. Im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung hat der Verfassungsgeber auf die Verankerung sozialer Staatsziele weitgehend verzichtet (vgl. Isensee 1980). Damit ist dem Gesetzgeber und im Weiteren auch der richterlichen Gewalt großer Spielraum bei der Umsetzung und Konkretisierung der Sozialstaatlichkeit verblieben.

Gelten die Marksteine der Gesetzgebung und in Verbindung damit der Umfang sozialstaatlicher Transfers als die maßgeblichem Kriterien für die Periodisierung der sozialstaatlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, so lassen sich mit Leisering (2004a) fünf Etappen ausmachen.

In den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland war die Gestaltung der sozialen Ordnung zunächst weitgehend offen. Unterschiedliche Vorstellungen von sozialistischen Modellen bis hin zu liberalen Ordnungsideen wurden diskutiert. Erst mit der Entscheidung für die Fortführung des Bismarckschen Sozialversicherungssystems erfolgte die verschiedentlich als Restauration gekennzeichnete maßgebliche Weichenstellung. An sie schließt sich ab Anfang/Mitte der 1950er-Jahre eine gut zwei Jahrzehnte andauernde Phase des Aufbaus des Sozialstaates an. Wie an der Sozialleistungsquote (Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt) ablesbar, fällt in diese Zeit eine historisch beispiellose Expansion sozialstaatlicher Leistungen (vgl. Abb. 1).

Schon der schiere Umfang sozialer Leistungen markiert einen entscheidenden Unterschied zu den Anfängen der Sozialpolitik und auch zur Situation während der Weimarer Republik.

9 Für eine sehr viel feinere Phaseneinteilung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland vgl. die Gliederung der auf elf Bände angelegten Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland 2001) und die Begründung bei Hockerts 2001. Für knappe Überblicksdarstellungen vgl. etwa Ritter 1991; Schmidt 1998: 75-111.

10 Teilweise finden sich andere Angaben aufgrund von abweichenden Berechnungsgrundlagen; vgl. etwa Schmidt 1998: 154.

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Abb. Die jeweils wichtigsten Verbände werden ­ bei Variationen zwischen den einzelnen Säulen der Sozialversicherung ­ in den Entscheidungsprozess eingebunden und ihre Verhandlungsposition wird institutionalisiert. Diese Entwicklung ist zum einen durch das Wirtschaftswunder, das heißt die wirtschaftlichen Erfolge der noch jungen Bundesrepublik, begünstigt worden, die die Ausweitung der Sozialtransfers erst ermöglicht haben. Als wichtiger noch erweist sich eine sozialpolitische Große Koalition (Nullmeier 2004: 47) aus den beiden großen Parteien, in den ersten Jahren der sozialliberalen Regierung faktisch unter Einschluss der FDP. Allen weltanschaulichen Differenzen zum Trotz und entgegen den teils massiven Konflikten in anderen Politikfeldern erweist sich diese Koalition als bemerkenswert stabil. So wurden sämtliche wichtige Gesetzesprogramme im Bereich der Renten und Rentenversicherung bis zur deutschen Einheit letztlich im Konsens von SPD und CDU/CSU verabschiedet.

Zur programmatischen Zauberformel des Interessenausgleichs avanciert die soziale Marktwirtschaft. Dieses Konzept erlaubt es, mehr oder minder umfassende Sozialprogramme mit der marktwirtschaftlichen Ordnung zu verbinden und eine Vielzahl unterschiedlicher, mitunter gegensätzlicher Interessen zu bündeln. Obwohl die soziale Marktwirtschaft politisch mit Kanzler Erhard in Verbindung gebracht wird, erfolgt ihre Ausformung nur bedingt gemäß seinem wirtschaftspolitischem Credo. Statt der von Erhard angestrebten marktkonformen Produktion sozialer Sicherung über Erwerbseinkommen, Konsum und (Volks-)Vermögen entwickelt sich ein Sozialstaat, dessen Wesensmerkmal korrigierende Eingriffe in Marktmechanismen darstellt. Als wirkungsmächtig erwies sich vor allem die Anpassung der Renten Grundlagen, Entwicklung und Probleme des deutschen Sozialstaates 20 an die Lohn- und Preisentwicklung (dynamische Formel) im Rentengesetz von 1957. Sie gestaltete die Renten im Sinne einer Lebensstandardsicherung im Alter aus.

Eine deutliche Ausweitung erfährt das Sozialbudget nochmals unter der sozialliberalen Koalition. Vom politischen Willen zu gesellschaftlichen Veränderungen und zur Modernisierung getragen, wurden eine dezidiert aktive Arbeitsmarkpolitik begründet, Maßnahmen zur Humanisierung der Arbeitswelt ergriffen und Akzente in der Bildungspolitik und bei der sozialen Infrastruktur gesetzt. In dieser Phase erfolgte zudem eine Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige (Rentenreform 1972). Am Ende der Ausbauphase erreichte das Sozialbudget in Westdeutschland mit über 31 Prozent des Bruttoinlandsprodukts seinen historischen Höchststand.

Die Expansion des bundesdeutschen Sozialstaates findet mit der Ölkrise 1972/73 ihr Ende, die einsetzende Konsolidierungsphase hat ihren Ausgangspunkt also in einem externen Ereignis. In der Folge gewinnen Kostengesichtspunkte in der Sozialpolitik an Bedeutung und es kommt bereits unter Kanzler Schmidt, verstärkt aber in der Ära Kohl zu aus heutiger Sicht wohl eher moderaten Einschnitten beim Leistungsspektrum. Diese sind vor dem Hintergrund ungünstiger ökonomischer Rahmenbedingungen zu sehen: So fallen die Wachstumsraten eher bescheiden aus und die Arbeitslosigkeit wird zu einem Massenphänomen. Insgesamt ist die Sozialpolitik der Jahre 1975 bis 1990 durch eine Gleichzeitigkeit von Kürzungen und selektivem Ausbau bestimmt. Zu Kürzungen kommt es beispielsweise im Gesundheitswesen und beim Leistungsbezug, während die Sozialpolitik bezüglich Familie und Erziehung neue Handlungsfelder erhält. Befördert durch eine familienfreundliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfährt die Kindererziehung bei den Fürsorgeleistungen (Erziehungsgeld)11 wie in der Rentenversicherung (Anrechnung von Erziehungszeiten) auch materielle Anerkennung. Insgesamt bleibt die Sozialleistungsquote in dieser Phase konstant; Ende der 1980er-Jahre sinkt sie sogar geringfügig.

Dieser Trend wird mit der deutschen Einigung unterbrochen, die als Mega-Herausforderung des Rechts-, Wirtschafts- und politischen Systems in sozialpolitischer Hinsicht strukturkonservierend wirkt. Die politischen Leitziele der Integration und der zügigen die ihrerseits auf den Erwartungsdruck in den neuen Ländern zurückgehen, bedingen eine neuerliche Expansion des Sozialstaates. Wesentlichen Anteil daran hat der beinahe vollständige Transfer der Sozialversicherungssysteme nach Ostdeutschland. Die Ausdehnung der wohlfahrtsstaatlichen Programme schlägt sich in Steigerungsraten des Sozialbudgets um 13 Prozent 1992 und jeweils um die fünf Prozent in den vier folgenden Jahren nieder. In Ostdeutschland beläuft sich die Sozialleistungsquote bis zuletzt auf Rekordwerte um die 50 Prozent ­ ein um etwa 20 Prozentpunkte höheres Niveau als in den alten Ländern (vgl. Abb. 2).

Das Erziehungsgeld weist neben seinem Fürsorgecharakter auch Elemente einer Versorgungsleistung auf, ist folglich so eindeutig nicht zuzuordnen.