Die Ursachen für die vorliegende Situation sind vielschichtig

Diese Übersicht zeigt, dass der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Gesamtschülerzahl kontinuierlich angestiegen ist. Diese Entwicklung entspricht dem Trend der bundesweiten Entwicklung: Im Zeitraum von 1995 bis 2003 stieg der Anteil von Schülern mit sonderpädagogischer Förderung im Bundesdurchschnitt von 4,28 Prozent auf 5,56 Prozent.

Die an Thüringer Förderschulen unterrichtete Schülerzahl korreliert nicht mit der sinkenden Entwicklung der Gesamtschülerzahl im Freistaat. Sie ist vielmehr als Antwort auf den steigenden Anteil von Schülern mit Förderbedarf zu verstehen. Alle bisherigen Maßnahmen der Landesregierung (zum Beispiel Weiterentwicklung der Schuleingangsphase, Diagnostikfortbildung der Lehrer usw.) konnten diesen Trend nicht aufhalten.

Die Ursachen für die vorliegende Situation sind vielschichtig. Neben besonderen sozioökonomischen und kulturellen Gründen, von denen in Thüringen wie in anderen neuen Bundesländern ausgegangen werden muss (zum Beispiel hohe Arbeitslosigkeit), kommen folgende Gründe in Betracht:

Ab 1990 wurden in Thüringen unter großer Anstrengung Förderschulen für geistig Behinderte für eine Zielgruppe aufgebaut, die zuvor von schulischer Bildung gänzlich ausgeschlossen war. Die absolute Zahl der Schüler mit diesem Schwerpunkt blieb im Vergleich zur Gesamtzahl Thüringer Schüler in den letzten Jahren nahezu konstant. Diese Schüler besuchen fast ausschließlich entsprechende Förderschulen.

Ab Mitte der 1990iger Jahre wurde in Thüringen eine Umwandlung von Förderschulen für Lernbehinderte in Förderzentren eingeleitet. Wesentliches Merkmal dieser Förderzentren ist, dass diese Schulen für Schüler mit unterschiedlichem Förderschwerpunkt (Schwerpunkt Lernen, Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, Schwerpunkt Sprache u. a.) ausgerichtet sind und die entsprechenden Bildungsgänge/Abschlüsse vorhalten. Schüler mit diesen drei Förderschwerpunkten bilden den Hauptteil der Gruppe von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf insgesamt. Ziel dieser Maßnahme war eine Dezentralisierung des Förderangebots für Schüler mit diesem Bedarf, um die steigende Zahl von Schülern mit Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten möglichst wohnortnah beschulen zu können. Thüringenweit lernen derzeit deshalb Schüler mit Förderbedarf Sprache an 41 Förderzentren und Schüler mit Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung an 44 Förderzentren. Die Entscheidung, in Förderzentren Schüler mit verschiedenartigem Förderbedarf und verschiedenen Bildungsgängen (Grundschule, Regelschule, Lernförderung) zusammenzuführen, hatte mehr Heterogenität unter dem Dach des jeweiligen Förderzentrums zur Folge.

Die Entwicklung von flexiblen und leistungsfähigen Förderzentren fand Akzeptanz und entsprach auch den Forderungen vieler Elternvertreter. Mit diesem Prozess war zwangsläufig eine relative Steigerung der Schülerzahlen in den betreffenden Schulen verbunden. Der Prozess der Umgestaltung der Förderschulen zu Förderzentren mit mehreren Bildungsgängen wurde abgeschlossen, bevor in Thüringen gemeinsamer Unterricht in den bildungspolitischen Fokus genommen werden konnte.

Um weitere Erkenntnisse zu erlangen, hat das Thüringer Kultusministerium die Universität Erfurt mit einer Expertise zur sonderpädagogischen Förderung in Thüringen beauftragt. Von dieser werden detaillierte Aussagen zu der vorhandenen Infrastruktur der sonderpädagogischen Förderung in Thüringen und die Ableitung von Schlussfolgerungen erwartet.

Ziel der Landesregierung ist es, den gemeinsamen Unterricht weiter auszubauen und somit die hohe Zahl der Förderschüler in Thüringen zu senken. Die Ergebnisse werden durch eine 57-prozentige Steigerungsrate innerhalb von sechs Schuljahren belegt (siehe Tabelle). Die Zahl der lernzieldifferent geförderten Schüler im gemeinsamen Unterricht soll vergrößert werden. Dieser Anspruch setzt entsprechende Schulentwicklungsprozesse und veränderte Sichtweisen der Beteiligten sowie eine einzelfallbezogene Gestaltung von Rahmenbedingungen voraus, um den Förderanspruch auch außerhalb der Förderschule zu decken.

Welche Integrationsmaßnahmen wurden eingeleitet bzw. sind vorgesehen?

Mit Inkrafttreten der Thüringer Verordnung zur sonderpädagogischen Förderung vom 6. April 2004 wurde in Thüringen zieldifferenzierter Unterricht für alle Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Rahmen des gemeinsamen Unterrichts möglich. Dies bedeutet, dass Schüler in unterschiedlichen Bildungsgängen (zum Beispiel Grundschule und geistige Entwicklung) in einer Klasse gemeinsam lernen.

1 vgl. Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1994 bis 2003, Dokumentation Nr. 177 des Sekretariats der Kultusministerkonferenz, November 2005; Informationen über den Zeitraum ab 2004 sind von der KMK nicht verfügbar.

Die Einführung des gemeinsamen Unterrichts stellt für die jeweilige Schule ein umfassendes Schulentwicklungsvorhaben dar. Soll gemeinsamer Unterricht gelingen, muss vor allem der Unterricht weiterentwickelt werden. Differenzierung, Individualisierung, unterrichtsimmanente Förderung erfordern offene Unterrichtsformen, andere Organisationsformen des Schulalltages, neue Formen der Zusammenarbeit verschiedener pädagogischer Professionen (Zweilehrersystem), veränderte Haltungen und dergleichen mehr. Daneben sind Ängste und Vorurteile sowohl bei Lehrern, Schulleitern, Mitarbeitern in den Verwaltungen, Eltern als auch Schülern zu bedenken. Insofern muss ein solch umfassender schulischer Entwicklungsprozess, der einen Kulturwandel in der Schule darstellt, in größeren Zeitdimensionen betrachtet werden.

Die Förderzentren sind seit 2003 beauftragt, sich zu Beratungszentren weiterzuentwickeln. Dieser gesetzlich verankerte Auftrag zielt darauf, sonderpädagogische Förderung zu dezentralisieren und sonderpädagogische Kompetenzen zu jedem Kind zu bringen. Sonderpädagogen erhalten damit den Auftrag, die anderen allgemein bildenden Schulen zu unterstützen, ihren Unterricht so zu entwickeln, dass durch Differenzierung und Individualisierung jedes Kind Lernerfolge hat. Hierzu werden Sonderpädagogen verstärkt mit Beratungskompetenz, Wissen zu Unterrichtsentwicklung, insbesondere zu Differenzierung und Individualisierung, zu Lernstandsdiagnosen usw. ausgestattet. Aktuell qualifiziert das 54 Sonderpädagogen Thüringens zu Mobilen Sonderpädagogischen Diensten. Gleichzeitig werden am Fortbildungen zum Thema Gestaltung des gemeinsamen Unterrichts für Grund- und Regelschullehrer angeboten. Das überregionale Unterstützungssystem für Förderschulen wurde im Jahr 2003 zu Landesfachberatern für sonderpädagogische Förderung umgebaut. Der Beratungs- und Unterstützungsauftrag umfasst alle allgemein bildenden beziehungsweise berufsbildenden Schulen.

Mit Beginn des Schuljahres 2004 wurden die Förderzentren beauftragt, mit den anderen allgemein bildenden Schulen in ihrem Einzugsgebiet Kontakt aufzunehmen und die Zusammenarbeit zu intensivieren. Dabei entstanden unterschiedliche Netzwerke und Kooperationsbeziehungen.

Seit dem Schuljahr 2005/2006 gibt es in Thüringen an jedem Schulamt Berater für den gemeinsamen Unterricht. Diese Berater werden an der Universität Erfurt qualifiziert. Ihre Aufgabe ist es, Eltern, Schulen, Schulverwaltungen dabei zu unterstützen, gemeinsamen Unterricht zu installieren. Dabei arbeiten sie in der Regel einzelfallorientiert.

Mit der thüringenweiten Einführung der Schuleingangsphase und dem damit verbundenen Auftrag an Grundschulen, sich für alle einzuschulenden Kinder ihres Einzugsbereiches verantwortlich zu fühlen, wurde eine weitere Maßnahme zur Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts eingeleitet. Schuleingangsphase bedeutet die umfängliche Veränderung des Grundschulunterrichts. Diese Veränderung lässt viel erfolgreicher als der herkömmliche Unterricht den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern zu. Um die Entwicklung zu forcieren, wurde über die Zuweisung von Lehrerwochenstunden zum einen eine Pauschale für sonderpädagogische Ressourcen festgelegt und zum anderen das Transferprojekt Begleitete Schuleingangsphase unter wissenschaftlicher Begleitung begonnen. In diesem Projekt wird versucht, systematisch Grundschulen bei der Entwicklung der Schuleingangsphase zu unterstützen. Dazu wurden Tandems an den Schulämtern gebildet, bestehend aus einem Grundschullehrer und einem Förderschullehrer. Am arbeitet ebenso ein solches Tandem, welches die Fortbildung organisiert, die Projektleitung inne hat und die wissenschaftliche Begleitung unterstützt.

Seit dem Schuljahr 2004/2005 wird für 4,5 Prozent aller Kinder der Schuleingangsphase sonderpädagogischer Förderbedarf in den Schwerpunkten Sprache, Lernen und sozial-emotionale Entwicklung angenommen, unabhängig davon, wo die Kinder lernen und bei wie vielen Kindern tatsächlich ein solcher Förderbedarf diagnostiziert wurde. Für diese 4,5 Prozent der Kinder erhalten die Schulämter Ressourcen in Form von Wochenstunden für Sonderpädagogen, die in Absprache mit den Schulen vergeben werden. Ziel dieser Maßnahme ist zum einen, die hohe Zahl (siehe Frage 6.3) der mit sonderpädagogischem Förderbedarf in diesen Schwerpunkten diagnostizierten Kinder zu reduzieren, indem die Vergabe von Ressourcen und Diagnose voneinander abgekoppelt werden, und zum anderen, die flexible Zuweisung sonderpädagogischer Kompetenz zu ermöglichen.

Erste Erfahrungen mit dieser Maßnahme sind positiv. Sonderpädagogen und Grundschullehrer arbeiten in vielen Schulen eng zusammen und sind auf dem Weg zu einer höheren Unterrichtsqualität.

Auch die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs erfolgt viel bewusster. Im Schuljahr 2005/2006 wurde diese Ressourcenpauschalisierung auch auf alle Kinder der dritten Klassenstufe angewandt und im Schuljahr 2006/2007 auf die vierten Klassen.

Der veränderte Unterricht in der Schuleingangsphase führte an zahlreichen Grundschulen dazu, dass man sich Kindern mit schweren körperlichen Behinderungen, mit Sinnesbehinderungen oder mit geistiger Behinderung öffnete. Einige Schulen bezeichnen sich inzwischen als integrative Grundschulen. Eltern, besonders von begabten Kindern, nehmen diese Schulen sehr gut an, denn hier wird individualisiert und differenziert gearbeitet, was Förderung für jedes Kind bedeutet.

Inzwischen führen die oben beschriebenen Entwicklungen dazu, dass Eltern von Kindern mit Behinderungen, die erfolgreich im gemeinsamen Unterricht an einer Grundschule gelernt haben, nun Regelschulen oder Gymnasien suchen, die sich auch dieser Aufgabe stellen. Dass ein Umdenken beginnt, zeigen die Zahlen zur zieldifferenzierten Integration in Regelschulen. Dennoch wird in den nächsten Jahren verstärkte Anstrengung nötig sein, dieses Umdenken zu beschleunigen. Beispiele dafür sind die enge Zusammenarbeit der zuständigen Fachreferate im Thüringer Kultusministerium, Vorträge und Diskussionen durch Vertreter des für sonderpädagogische Förderung zuständigen Fachreferates in Schulleiterdienstberatungen der Regelschulen, Gymnasien und Gesamtschulen.

Positiv hervorzuheben sind einzelne Entwicklungen in Regelschulen oder Gymnasien, wie die bereits seit zehn Jahren laufende erfolgreiche Integration von sehbehinderten und blinden Kindern im Sophien-Gymnasium Weimar, wo bereits mehrere Schüler mit dieser Behinderung das Abitur erlangten, oder der integrative Ansatz der Jenaplan-Schule Jena beziehungsweise der Regelschule Buttstädt.

Darüber hinaus können folgende Maßnahmen als integrationsfördernd benannt werden:

- die Umstrukturierung der Referate im Thüringer Kultusministerium und hier vor allem Zusammenlegung der Referate Kindertagesstätten, Grundschulen und Förderschulen mit hohen Synergieeffekten

- die gezielte Multiplikation von Informationen bei Förderschultagen und Integrationstagen

- die Informations-Broschüre zur Sonderpädagogischen Förderung in Thüringen mit dem Ziel, Eltern Pädagogen, Verwaltungsmitarbeiter über die Möglichkeiten sonderpädagogischer Förderung zu unterrichten

- die schulaufsichtliche Prüfung in Schulämtern mit hohen Förderschulquoten und gemeinsame Erarbeitung schulamtsspezifischer Entwicklungsstrategien

- die Begleitung und Unterstützung von Einzelprojekten

- die enge Kooperation mit dem Institut für Sonderpädagogik der Universität Erfurt

- die Zusammenarbeit mit den Staatlichen Schulämtern und Abstimmung von gemeinsamen Strategien, zum Beispiel zur Weiterentwicklung der Förderzentren zu Beratungszentren

- die internationale Kooperation über Kooperationsmaßnahme Kleine Grundschule (Deutschland, Österreich, Italien) und über die Arbeitsberatungen der zuständigen Fachreferenten für Sonderpädagogik in den Kultusministerien bzw. Bildungsbehörden (Deutschland, Österreich, Schweiz)

- die integrationspädagogischen Fortbildungsangebote am - die Kooperation der Landesfortbildungsinstitute von Thüringen und Hessen zur Integration

- die Vorbereitung eines Schulversuchs zur Optimierung der Stundenzuweisung für sonderpädagogischen Förderbedarf (OPTIMIST)

Es ist geplant, integrationspädagogische Module auch für den Sekundarbereich anzubieten. In enger Zusammenarbeit mit der Universität Erfurt wird gegenwärtig überlegt, ob und in welcher Form ein Zertifikatsstudiengang Integrationspädagogik für Grund- und Regelschullehrer angeboten werden kann. Neue Strategien und Maßnahmen sollen aber erst nach Vorliegen der Expertise über Sonderpädagogische Förderung in Thüringen erarbeitet werden, da erst auf der Basis dieser Ergebnisse zielgerichtete Interventionen abzuleiten sind.

Wie gestaltet sich die flächendeckende Umsetzung der Schuleingangsphase in Thüringen?

Thüringen kann auf einen langen Entwicklungspfad der Thüringer Schuleingangsphase zurückblicken. Ziel dieses langfristigen Schulentwicklungsvorhabens ist die flächendeckende Einführung der jahrgangsgemischten, flexiblen und integrativen Schuleingangsphase in Thüringen ab dem Jahr 2011.