Mitwirkungsmöglichkeiten der Gefangenen sowie Mechanismen zum Schutz und zur Durchsetzung von Rechten im Thüringer Jugendstrafvollzug

Zu einer erfolgreichen Resozialisierung gehört auch die Wahrnahme eigener Mitwirkungsmöglichkeiten der Gefangenen. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass die Gefangenen im Vollzug nicht in die Rolle von Objekten hoheitlichen Handelns geraten. Im Jugendstrafvollzugsgesetz wie auch im Vollzugsalltag muss es daher wirksame Mechanismen zum Schutz und zur Durchsetzung der persönlichen Rechte der Gefangenen geben.

Wir fragen die Landesregierung:

1. Welche Strukturen und Angebote der Mitwirkung an der Gestaltung des Vollzugsalltags gibt es für die Gefangenen? Wie werden derzeit diese Beteiligungsmöglichkeiten von den Gefangenen genutzt? Welche Unterstützung gibt es von Seiten der Einrichtung, z. B. durch Fachpersonal, um Gefangene für die Wahrnahme solcher Aufgaben zu motivieren und zu befähigen? Welche Fälle gab es seit dem Jahr 2004, in denen die Jugendstrafanstalt (JSA) solche Mitwirkungsaktivitäten behinderte?

2. Welche Unterstützung erhalten Gefangene im Jugendstrafvollzug der jeweiligen JSA?

3. Wie wurde bisher das in § 87 Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetz verankerte Beschwerderecht genutzt? Auf welche Themenbereiche beziehen sich die Beschwerden schwerpunktmäßig? Inwiefern wurde den Beschwerden abgeholfen? Welchen Novellierungsbedarf sieht die Landesregierung bei der Ausgestaltung des Beschwerderechts bzw. anderer Instrumente des Rechtsschutzes?

4. Welche Erfahrungen gibt es nach Kenntnis der Landesregierung in anderen Bundesländern (z. B. Nordrhein-Westfalen) bzw. anderen Staaten mit der Funktion einer unabhängigen Ombudsperson/Jugendstrafvollzugsbeauftragten? Sieht die Landesregierung die Notwendigkeit solcher unabhängiger Anlaufstellen im Jugendstrafvollzug auch für Thüringen?

5. Wie bewertet die Landesregierung die Zulässigkeit des Gebrauchs von Schusswaffen im Jugendstrafvollzug (§ 81 - insbesondere mit Blick auf Festlegungen des Europarates und der UN?

6. In wie vielen Fällen wurden seit Inkrafttreten des Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetzes Maßnahmen nach § 62 (Sicherheit und Ordnung) wie z. B. Einzelhaft verhängt und Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs nach § 76 ff. durchgeführt (bitte differenziert nach Maßnahmen, Einrichtung und Jahr aufschlüsseln)? Welchen gesetzlichen Novellierungsbedarf bzw. praktischen Evaluierungsbedarf sieht die Landesregierung hinsichtlich der genannten Regelungen und Maßnahmen?

7. Zu wie vielen Petitionen aus dem Bereich Jugendstrafvollzugsgesetz hat die Landesregierung seit Inkrafttreten des Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetzes Stellung genommen? Wie vielen dieser Petitionen konnte aus ihrer Sicht abgeholfen werden?

Das Thüringer Justizministerium hat die Kleine Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 6. Mai 2010 wie folgt beantwortet:

Zu 1.: Nach § 107 Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetz soll den Gefangenen ermöglicht werden, an der Verantwortung für Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse teilzunehmen, die sich ihrer Eigenart und Aufgabe der Anstalt nach für ihre Mitwirkung eignen.

Für die Gefangenenmitverantwortung (GMV) der Jugendstrafanstalt Ichtershausen wählt jede der zwölf dort eingerichteten Wohngruppen einen Wohngruppensprecher. Aus der Gruppe der zwölf Wohngruppensprecher werden dann die acht Vertreter der GMV gewählt. Dieses Gremium trifft sich regelmäßig (durchschnittlich alle zwei Monate) mit der Anstaltsleitung. An diesen Besprechungen nehmen grundsätzlich ein Vertreter der Anstaltsleitung, der als GMV-Koordinator eingesetzte Sozialarbeiter sowie die Kontaktbeamten des mittleren allgemeinen Vollzugsdienstes teil. Darüber hinaus werden je nach Themenschwerpunkt weitere Mitarbeiter der Jugendstrafanstalt zu den Versammlungen eingeladen.

Infolge dieser Besprechungen können neue Festlegungen (z. B. in der Hausordnung) getroffen werden.

Dies betrifft vor allem Themen wie die Haftraumgestaltung, den Einkauf, den Besuch oder die Freizeitgestaltung, aber auch den allgemeinen Tagesablauf oder den Ablauf an Feiertagen. Außerdem hat die GMV ein Vorschlagsrecht bei der Zusammenstellung der Speisepläne. Von jeder Sitzung der GMV wird ein Ergebnisprotokoll gefertigt und in den Wohngruppen ausgehängt, so dass sich jeder Gefangene über das Ergebnis der Besprechung informieren kann.

Grundsätzlich besteht seitens der Gefangenen ein reges Interesse an der Mitarbeit in der GMV. Die Wahl der Wohngruppensprecher wird durch den jeweiligen Wohngruppenleiter organisiert und durchgeführt. Die Wahlen sollen das Demokratieverständnis stärken und dienen insoweit gleichzeitig auch als Übungsfeld für demokratisches Abstimmungsverhalten.

In der Zweiganstalt Weimar der Jugendstrafanstalt Ichtershausen besteht die GMV aus drei Gefangenensprechern, die von den Gefangenen der drei Stationen gewählt werden. Die GMV führt ebenso wie in der Stammanstalt turnusmäßige Besprechungen mit dem Zweiganstaltsleiter und gegebenenfalls weiteren Mitarbeitern der Anstalt durch.

Es gab bisher weder in der Stammanstalt noch in der Zweiganstalt Fälle, in denen Mitwirkungsaktivitäten seitens der Anstalt behindert wurden.

Zu 2.: findet sich mehrmals jährlich zu Besprechungen mit in der Jugendstrafanstalt Ichtershausen oder der Zweiganstalt Weimar ein. Im Rahmen dieser regelmäßigen Besprechungen werden die Mitglieder des Anstaltsbeirates fortlaufend und umfassend über die Vollzugsgestaltung und die vollzuglichen Rahmenbedingungen sowie über aktuelle Probleme und besondere Vorkommnisse informiert.

Die Mitglieder des Anstaltsbeirates führen bei ihren Besuchen gelegentlich auch Gespräche mit den Vertretern der GMV. Dabei haben die Vertreter der GMV die Gelegenheit, ihre Anliegen und Vorschläge mit den Mitgliedern des Anstaltsbeirates zu besprechen. Letztmalig fand am 6. Januar 2010 eine GMV-Sitzung unter Beteiligung des Anstaltsbeirates statt.

Darüber hinaus haben alle Gefangenen die Möglichkeit, sich über einen ausschließlich für den Anstaltsbeirat vorgesehenen Briefkasten schriftlich an die Mitglieder des Anstaltsbeirates zu wenden. Auf diese Möglichkeit werden die Gefangenen in der Hausordnung der Jugendstrafanstalt ausdrücklich hingewiesen.

Zu 3.: Das in § 87 Abs. 1 verankerte Beschwerderecht wird von den Gefangenen sehr rege genutzt, wobei es sich zumeist nicht um Beschwerden im engeren Sinne, sondern um Anfragen bzw. Wünsche an die Anstaltsleitung handelt. Die Beschwerden bzw. Wünsche, unter anderem auch zu einem klärenden Gespräch im Sinne von § 87 Abs. 1 beziehen sich schwerpunktmäßig auf Maßnahmen der Vollzugsplanung und -gestaltung, auf den Arbeitseinsatz, auf erzieherische Maßnahmen und Disziplinarmaßnahmen, auf Außenkontakte (z.B. Besuch) sowie auf anstaltsinterne Vorfälle (z. B. Auseinandersetzungen unter Gefangenen). Anträge auf ein Gespräch mit einem Vertreter der Aufsichtsbehörde gemäß § 87 Abs. 2 werden in einem eigens hierfür angelegten Vormerkbuch erfasst. Seit Inkrafttreten des hat sich bislang ein - zwischenzeitlich entlassener - Gefangener für ein Gespräch mit einem Vertreter des Thüringer Justizministeriums vormerken lassen.

In vielen Fällen konnten einvernehmliche Lösungen gefunden werden. Für eine Novellierung des Beschwerderechts wird daher keine Notwendigkeit gesehen.

Zu 4.: Welche konkreten Erfahrungen in anderen Bundesländern mit der Funktion einer unabhängigen Ombudsperson bzw. eines Jugendstrafvollzugsbeauftragten gesammelt worden sind, ist der Landesregierung gegenwärtig nicht bekannt.

Laut Koalitionsvereinbarung von CDU und SPD wird das Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetz innerhalb der nächsten zwei Jahre evaluiert. Auch die Frage der Einrichtung der Funktion einer Ombudsperson/eines Jugendstrafvollzugsbeauftragten wird in diesem Rahmen berücksichtigt werden.

Ferner sehen das Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetz und das Jugendgerichtsgesetz umfassende formlose und förmliche Rechtsbehelfe gegen vollzugliche Maßnahmen vor. Darüber hinaus kann sich der Gefangene mit seinem Anliegen auch an den Bürgerbeauftragten des Freistaats Thüringen oder an den Petitionsausschuss des Thüringer Landtags wenden.

Zu 5.: Die Regelung des § 81 nach der im Jugendstrafvollzug der Gebrauch von Schusswaffen zulässig ist, steht nicht im Widerspruch zu europäischen oder internationalen Vorgaben.

Die Ende 2008 vom Ministerkomitee des Europarats als Empfehlung an die Mitgliedstaaten verabschiedeten Europäischen Regeln über straffällige Jugendliche, die Sanktionen oder Maßnahmen unterworfen sind, sehen in Nr. 92 vor, dass Bedienstete in Vollzugsanstalten, in denen Minderjährige festgehalten werden, keine Waffen tragen dürfen, es sei denn, dass dies aus Anlass eines konkreten Einzelfalls zur Aufrechterhaltung der Sicherheit erforderlich ist. In der amtlichen Begründung heißt es dazu, dass Waffen innerhalb der Anstalt z. B. dann gebraucht werden dürfen, wenn einer unmittelbaren Bedrohung des Lebens der Bediensteten, der Jugendlichen oder Dritter im konkreten Einzelfall nicht auf andere Weise begegnet werden kann.

In Institutionen, in denen außer Minderjährigen auch volljährige Gefangene untergebracht sind, gilt Nr. 69 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, der unter Nummer 69.1 das Tragen von Waffen im Notfall gestattet.

Soweit ersichtlich, gibt es keine spezifischen internationalen Übereinkünfte, die sich mit dem Schusswaffengebrauch im Jugendstrafvollzug befassen. Weiter enthalten auch die allgemeinen Abkommen wie die UNAntifolterkonvention oder die UN-Kinderechtskonvention keine einschlägigen Bestimmungen zum Strafvollzug oder allgemein zum Schusswaffengebrauch.

Der nach dem Thüringer Jugendstrafvollzugsgesetz rechtlich mögliche Einsatz von Schusswaffen besitzt in der Praxis nur eine sehr geringe Bedeutung. Innerhalb des geschlossenen Anstaltsbereiches werden von den Justizvollzugsbediensteten grundsätzlich keine Schusswaffen mitgeführt. Das Mitführen von Schusswaffen wird lediglich in wenigen Ausnahmefällen bei Aus- und Vorführungen von besonders gefährlichen Gefangenen (z. B. Gefangenen, die der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind) angeordnet.