Kinderheime in DDR-Zeiten

Im Bericht 2009 der Landesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR wird bemängelt, dass die Frage der Entschädigung für Aufenthaltszeiten in Kinderheimen der DDR bisher nicht in Angriff genommen werde, obwohl angenommen werden muss, dass sowohl Einweisungsbegründungen als auch Erziehungsmaßnahmen und die Umstände der Unterbringung in vielen Fällen rechtsstaatswidrig, nicht selten traumatisierend waren oder auch der politischen Verfolgung der Kinder und Jugendlichen oder ihrer Eltern gedient haben. (Seite 3)

Ich frage die Landesregierung:

1. Wie viele Kinder und Jugendliche wurden in Thüringen bzw. in den drei Thüringer Bezirken in den Jahren 1971 bis 1980 sowie 1981 bis 1990 in Kinderheime eingewiesen?

2. Wie lange war die Aufenthaltsdauer? Lassen sich diesbezüglich Gruppen erkennen?

3. Welche Gründe führten zur Einweisung von Kindern und Jugendlichen in Kinderheime? Welchen Anteil an den Einweisungen hatten die einzelnen Einweisungsgründe?

4. Welchen Anteil an den Einweisungen in Kinderheime hatten Einweisungen aus Gründen politischer Repression gegenüber

a) den betreffenden Kindern und Jugendlichen,

b) den Eltern?

5. Wie viele Fälle sind der Landesregierung bekannt, in denen betroffene, ehemals in DDR-Kinderheimen lebende Menschen ihre Einweisung in ein Kinderheim heute als Maßnahme politischer Verfolgung einordnen?

6. Sind der Landesregierung Fälle von Zwangsadoptionen in Thüringen bzw. den drei Thüringer Bezirken zu DDR-Zeiten bekannt? Wenn ja, wie viele und aus welchen Teilen Thüringens?

7. Unterstützt die Landesregierung die Aufklärung der zu DDR-Zeiten erfolgten Zwangsadoptionen in Thüringen und wenn ja, in welcher Form?

8. Welche Kenntnisse hat die Landesregierung von den Zuständen in den Kinderheimen der DDR und wie beurteilt sie diese?

Das Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit hat die Kleine Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 6. August 2010 wie folgt beantwortet:

Zu 1.: Für die drei Bezirke der ehemaligen DDR liegen der Landesregierung keine gesicherten Daten und Erkenntnisse vor. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass aus den Referaten Jugendhilfe/Heimeinweisung der ehemaligen Räte der Bezirke und Kreise die Akten unvollständig überliefert und zum Teil vernichtet worden sind.

Im Rahmen des Neunten Jugendberichts der Bundesregierung wird für die ehemalige DDR mit Stichtag vom 31. März 1989 von insgesamt 602 Heimen (einschließlich der Jugendwerkhöfe und Säuglingsheime des Gesundheitswesens) mit einer Kapazität von 34 610 Plätzen ausgegangen. Belegt waren davon zum o. g. Stichtag 27 847 Plätze (Bundestags-Drucksache 13/70; 1994; Seite 536).

Zu 2.: Hierzu wird auf Frage 1 verwiesen.

Aus den Schilderungen der Betroffenen ist nachvollziehbar, dass sich die Aufenthaltsdauer von wenigen Monaten bis deutlich über zehn Jahre erstreckte - in Einzelfällen vom Säuglingsalter bis zum Abschluss der Berufsausbildung.

Zu 3.: Im Einzelnen liegen der Landesregierung hierzu keine Daten und Erkenntnisse vor.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf erste Analysen zur Heimerziehung in der ehemaligen DDR, auf welche die Bundesregierung im Rahmen des Neunten Jugendberichtes (Bundestags-Drucksache 13/70; 1994) Bezug genommen hat. Darin wurden von den damals in der DDR zuständigen einweisenden Stellen u. a. folgende Gründe für Heimeinweisungen angegeben:

- mangelnde schulische Leistungen, unregelmäßiger Schulbesuch, häufiges unentschuldigtes Fehlen;

- elterliches Fehlverhalten bzw. Unvermögen, Vernachlässigung, Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind, Alkoholmissbrauch, eingeschränkte Erziehungstüchtigkeit;

- Probleme und Konflikte zwischen Kindern/Jugendlichen und Erziehungsberechtigten (vgl. 13/70; 1994; Seite 535).

Weiterhin ist aus den Schilderungen und Berichten Betroffener, welche Akteneinsicht genommen hatten, als Einweisungsgrund häufig die Zugehörigkeit zu Gruppierungen negativer Kinder/Jugendlicher bekannt.

Eine Aufarbeitung und Untersuchung von politischen Repressionen im Zusammenhang mit Heimerziehung und der Heimeinweisungspraxis in der DDR war zum Zeitpunkt der Erstellung des Neunten Jugendberichts im Jahr 1994 noch nicht von zentraler Bedeutung.

Zu 4.: Hierzu liegen der Landesregierung keine Daten und Erkenntnisse vor. Es wird auf Frage 3 verwiesen.

Zu 5.: Der Landesregierung ist bekannt, dass der zuständige Ansprechpartner bei der Beratungsinitiative der Landesbeauftragten des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR bisher über 200 Gespräche mit Betroffenen, welche in ehemaligen Kinderheimen oder Jugendwerkhöfen der DDR-Jugendhilfe eingewiesen worden waren, geführt hat. Darin schildern die Betroffenen die Aufenthalte in den verschiedenen Heimen, welche konsequent dem Erziehungsziel einer sozialistischen Persönlichkeit dienten, zum überwiegenden Teil als Verlust persönlicher Rechte und als einen Angriff auf jede Form der Individualität. Die Aufenthalte wurden nach den Schilderungen der Betroffenen als Umerziehung erlebt, da sie dem Bild einer sozialistischen Persönlichkeit nicht entsprachen. Der erlebte Prozess der Umerziehung war für die Betroffenen mit Entrechtung sowie seelischer und körperlicher Gewalt verbunden. Als besonders belastend wurde nach den Schilderungen der Betroffenen die Anwendung seelischer und körperlicher Gewalt bei der Methode der Kollektiv- bzw. Selbsterziehung empfunden, bei der die Kinder und Jugendlichen - entweder auf Anordnung hin oder mindestens jedoch mit Duldung der Erzieher und des Personals - einander als Peiniger/-innen erleben mussten. Insofern ordnen Heimkinder aus ehemaligen DDRKinderheimen und Jugendwerkhöfen diese Lebensphase eindeutig als eine Form politischer Verfolgung ein.

In diesem Zusammenhang wird auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage 602 der Abgeordneten Koppe und Hitzing (FDP), Drucksache 5/1216, verwiesen.

Zu 6.: Für Thüringen sind keine Fälle von Zwangsadoptionen auf Grund politischer Vergehen der leiblichen Eltern bekannt.

Zu 7.: Auskunftssuchende werden über ihre Rechte und Möglichkeiten durch die Adoptionsvermittlungsstellen der Jugendämter und die Zentrale Adoptionsstelle des Landesjugendamtes Thüringen informiert. Sie erhalten Hilfe bei den von ihnen gewünschten Recherchen, bei der Übermittlung von Informationen und der Anbahnung und Begleitung von Kontakten. Die Adoptionsvermittlungsfachkräfte klären unter Beachtung des Datenschutzes und des Ausforschungs- und Offenbarungsverbots, ob und in welcher Weise Interesse und Bereitschaft zu einer Kontaktaufnahme oder zur Informationsübermittlung bestehen.

Adoptierte selbst können unter Begleitung einer Adoptionsvermittlungsfachkraft Einsicht in ihre Vermittlungsakten nehmen. Die Zentrale Adoptionsstelle Thüringen hält darüber hinaus ein Beratungsangebot vor, in dem juristische, psychologische und sozialpädagogische Kapazität für alle Betroffenen verfügbar ist.

Zu 8.: Die Kenntnisse der Landesregierung basieren zum einen auf den wenigen zum Thema publizierten Forschungsarbeiten, auf Einschätzungen der mit der strafrechtlichen Rehabilitierung betrauten Senate an den Thüringer Landgerichten und zum anderen auf den Schilderungen Betroffener, die sich u. a. an die Beratungsinitiative der Landesbeauftragten des Freistaats Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gewandt haben.

Aus den Schilderungen der Betroffenen zeichnet sich ab, dass demütigende Prozeduren unter menschenunwürdigen Bedingungen in allen ehemaligen Durchgangsheimen (Erfurt, Gera, Schmiedefeld) und in den Spezialkinderheimen stattgefunden haben. Der Aufenthalt in Durchgangsheimen sollte auf wenige Tage beschränkt sein. Aufenthalte über mehrere Wochen und Monate kamen jedoch häufig vor und sind inzwischen verbürgt. Im Übrigen wird auf die Beantwortung der o. g. Kleinen Anfrage 602 (Drucksache 5/1216) verwiesen.

Die Landesregierung unterstützt eine sachliche, differenzierte und offene Auseinandersetzung zu den Vorkommnissen in ehemaligen DDR-Kinderheimen. Sie hat dazu einen Arbeitskreis Misshandlung und Missbrauch in ehemaligen DDR-Kinderheimen und Jugendwerkhöfen unter Federführung des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit initiiert. Im Rahmen dieser Expertenrunde sollen im Interesse der Betroffenen angemessene Formen der Aufarbeitung und der persönlichen Bewältigung des Erlebten gefunden werden. An dieser Stelle ist auch auf die Ergebnisse des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich der Bundesregierung hinzuweisen. Die Vorkommnisse in ehemaligen DDR-Kinderheimen werden in diesem Rahmen ebenfalls thematisiert und behandelt.