Sozialhilfe

Staatsaufgaben und Staatsausgaben im Urteil der Thüringer 39

Antworten möglich (und werden in den Staaten der Erde tatsächlich ganz unterschiedliche Antworten gegeben). Drei Varianten möglicher Aufgabenschwerpunkte des Staates wurden den Thüringern zur Stellungnahme unterbreitet: Der Staat kann Aufgaben als Produzent und Förderer von Gleichheit wahrnehmen, er kann als Beschützer und er kann als Erzieher auftreten.

Der Staat als Produzent von materieller Gleichheit: Dass Staat und Gesellschaft sich unterscheiden, und jedem Bereich eine eigene Lebenssphäre zugeordnet sei, ist altes liberales Gedankengut. Der in die Gesellschaft eingreifende Staat stellt demgegenüber eine neuere Erscheinung dar, die in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts zum Exzess gesteigert wurde. Einer der für den Themenschwerpunkt des vorliegenden THÜRINGEN-MONITORs relevanten Bereiche ist der staatliche Eingriff in die primäre, d. h. die am Markt erzielte Einkommensverteilung. Die Thüringer wurden deshalb gebeten, zu der Behauptung Stellung zu nehmen: Es sollte ein wichtiges Ziel des Staates sein, die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich zu verringern. Dabei wurde vermutet, dass die Thüringer unter anderem als Ergebnis der jahrzehntelangen DDR-Sozialisation mit ihrer rhetorischen Betonung der Gleichheit staatliche Interventionen zur Verringerung von Einkommensunterschieden für nachgerade selbstverständlich halten. Mit den dargestellten Grundentscheidungen zu Freiheit, Gleichheit und Sicherheit wurde folgender Zusammenhang postuliert: Wer Gleichheit und Sicherheit stärker als die Freiheit betont ­ so die Annahme ­ tritt stärker für staatliche Eingriffe zur Herstellung der Gleichheit ein als Personen, die der Freiheit den Vorrang einräumen. Umverteilung sollte schließlich in absteigender Intensität von den Anhängern des Pflichtbewusstseins, der Selbstentfaltung und des Lebensgenusses gefordert werden.

Der Staat als Beschützer: Zwischen der ureigenen und klassischen Staatsaufgabe der Gewährleistung der Sicherheit der Bürger nach innen und außen einerseits und der historisch jüngeren Forderung nach Respektierung ihrer Freiheit andererseits besteht ein ­ auch und gerade im Zeitalter des Terrorismus ­ niemals ganz befriedigend aufzulösendes Spannungsverhältnis. Einerseits ist die Nutzung der Freiheit auf ein bestimmtes Maß an Sicherheit angewiesen. Andererseits bringen staatliche Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit Eingriffe in Freiheitsrechte mit sich. Im Extrem führt maximale Sicherheit zu maximaler Unfreiheit, bedeutet umgekehrt maximale Freiheit maximale Unsicherheit. Die politische Diskussion wird stets erneut um einen annehmbaren Kompromiss zwischen diesen beiden Werten zu ringen haben. Die Thüringer wurden gefragt, ob sie mit einem deutlich verstärkten polizeilichen Eingriff in Grundrechte einverstanden wären, wenn ein Terroranschlag droht. Es war zu vermuten, dass Befragte, die der Sicherheit und, eventuell abgeschwächt, der Gleichheit den Vorrang gegenüber der Freiheit geben, diese Frage deutlich stärker als die Befragten bejahen würden, die die Freiheit stärker betonen. Wer stärker pflichtbewusst ist, so die Vermutung, neigt zu einer stärker konservativen politischen Haltung, was gemeinhin mit stärkerem Sicherheitsbewusstsein assoziiert wird.

Der Staat als Erzieher: Der Hintergrund der Fragen zu diesem Komplex ist deutlich. Auf der einen Seite die Vorstellung vom selbstverantwortlichen und autonomen Bürger, der auch ein Recht auf Torheiten hat, wie etwa auf die, seine Gesundheit zu ruinieren. Dem steht dann gegenüber, dass er nicht nur die immateriellen, sondern auch die materiellen Folgen seiner Unvernunft selbst zu tragen hat. Auf der anderen Seite das völlig andere Menschenbild des sozialen Untertans, der notfalls vor sich selbst geschützt werden muss, so wie ihm auch 20 Formulierung der Statements: (1) Es ist Aufgabe des Staates, seine Bürger daran zu hindern, ihre eigene Gesundheit zu gefährden; (2) Urlaubsflüge ans andere Ende der Welt sollten aus Gründen des Umweltschutzes verteuert werden. Ähnlich ist der Zusammenhang der Frage nach der Verteuerung von Urlaubsflügen zu sehen: Dahinter steckt die Vermutung, dass es überflüssige, weil weite, und eher akzeptabel, weil kurze, Urlaubsflüge gebe. Von Übel, so weiß der Staat, sind beide, die weiten Flüge aber aus Umweltschutzgründen noch mehr als die kurzen. Besser, sie zu verbieten oder wenigstens zu verteuern.

Abb. 17: Gewünschte Staatsaufgaben (in Prozent)

Die Reaktionen auf diese Aussagen sind sehr verschieden (Abb. 17): Zwei finden die Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit, über die beiden anderen sind die Meinungen geteilt. Wie erwartet, lehnen nur winzige Minderheiten eine Verringerung von Einkommensunterschieden als wichtiges Staatsziel ab. Addiert man die Befragten, die völlig oder überwiegend zustimmen, ergibt sich praktisch Einstimmigkeit von nicht weniger als 92 Prozent für staatliche Eingriffe. Die Thüringer erwarten vom Staat nicht nur Schutz und Sicherheit, sondern auch die Herstellung von mindestens relativer materieller Gleichheit. Allerdings richtete sich die Frage auf die Verringerung der Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich, nicht auf ihren vollständigen Ausgleich. Damit konnte sich jeder Befragte eine Reduktion der bestehenden Unterschiede zwischen einem und 99 Prozent vorstellen und dürfte es tatsächlich getan haben. So gesehen wäre eine einfache Sozialhilfe an Menschen in 21 Ironischerweise wäre Letzteres übrigens auch die liberale Lösung: Anreize über Preise statt Verbote.

Staatsaufgaben und Staatsausgaben im Urteil der Thüringer 41 existenzieller Not ebenso von den Antworten gedeckt wie ein utopisch-sozialistisches Programm. Diese Überlegung sollte zur vorsichtigen Interpretation der Befragungsergebnisse Anlass geben. Grundsätzlich ist eine überwältigende Mehrheit (85 Prozent) auch mit dem stärkeren Grundrechtseingriff durch die Polizei einverstanden ­ was bestens zu dem referierten Vorrang von Sicherheit vor Freiheit bei den Befragten passt. Der Auffassung, dass es Aufgabe des Staates sei, seine Bürger daran zu hindern, ihre eigene Gesundheit zu gefährden, und der Idee einer Verteuerung von Langstreckenflügen zum Urlaub in fernen Ländern22 stimmen jeweils knappe Mehrheiten zu.

Abb. 18: Gewünschte Staatsaufgaben nach dem Rang der Freiheit (in Prozent) Zwischen den Antworten auf die vier Aussagen zu Staatsaufgaben bestehen nur geringe statistische Zusammenhänge; dies spricht dafür, dass die thematisierten Aufgabenschwerpunkte, anders als vermutet, eigenständige Dimensionen darstellen. Eine Ausnahme ist der positive Zusammenhang zwischen den Antworten auf die Frage nach dem Grundrechtseingriff bei Terrordrohung und der Verhinderung von Gesundheitsschädigung, was wohl bedeutet, dass hier der Schutzaspekt und nicht der Gesichtspunkt der Erziehung oder Gängelung durch den Staat im Vordergrund stand.

Insgesamt wird also nirgends die Zuständigkeit des Staates für einen der vorgeschlagenen Tätigkeits- und Kompetenzbereiche von einer Mehrheit in Frage gestellt. Allerdings ist der 22 Bei der Stellungnahme dürfte allerdings die Formulierung aus Gründen des Umweltschutzes eine Rolle gespielt haben: Umweltschutz ist für die Deutschen sehr positiv besetzt; ein starker Effekt sozialer Erwünschtheit bei den Antworten ist zu vermuten. Wir halten es für wahrscheinlich, dass die schnöde Begründung zur Erhöhung der Staatseinnahmen sehr andere Antworten erbracht hätte.

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