Wie viele Zwangsaussiedlungen wurden in welchen Aktionen durchgeführt und wann fanden diese

Die von Zwangsaussiedlungen in der ehemaligen DDR betroffenen Personen haben die Willkür des SEDUnrechtsregimes in besonderem Maße zu spüren bekommen. In Thüringen gibt es aufgrund seiner besonderen Lage die meisten Zwangsausgesiedelten. Die rechtliche und verwaltungsmäßige Aufarbeitung des mit der Zwangsaussiedlung verbundenen Unrechts stellt insbesondere auch für das Land Thüringen eine besondere Verpflichtung dar. Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung:

I. Durchführung der Zwangsaussiedlung

1. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung über die Zwangsaussiedlungsmaßnahmen während der SEDDiktatur vor?

2. Wie viele Zwangsaussiedlungen wurden in welchen Aktionen durchgeführt, und wann fanden diese Aktionen statt?

3. Von welchen verantwortlichen Stellen der ehemaligen DDR wurden diese Aktionen angeordnet, und von welchen Stellen wurden diese Aktionen durchgeführt?

4. Wie viele dieser Zwangsaussiedlungen beziehen sich auf das Gebiet des heutigen Landes Thüringen?

5. Wie viele der Betroffenen befinden sich noch im heutigen Land Thüringen?

II. Ahndung der Zwangsaussiedlung

1. Was unternimmt die Landesregierung, um sicherzustellen, dass die Schuldigen an den Zwangsaussiedlungsmaßnahmen und ihre Helfershelfer strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden?

2. Was hat die Landesregierung unternommen, um sicherzustellen, dass im Hinblick auf eine mögliche Verjährung des oft jahrzehntelang zurückliegenden Unrechts die Strafverfolgung erfolgen kann?

3. Gibt es im Bereich der Zwangsaussiedlungen bereits Ermittlungsverfahren? Wenn ja, wie viele und wegen welcher Delikte?

III. Wiedergutmachung der Zwangsaussiedlung

1. Was hat die Landesregierung bislang unternommen, um die Wiedergutmachung des begangenen Unrechts an den Zwangsausgesiedelten zu erreichen?

2. Wie ist der Stand der Gesetzgebung zur Wiedergutmachung dieses Unrechts?

3. Hat die Landesregierung sich dafür eingesetzt, dass die Zwangsausgesiedelten bereits im in Kraft befindlichen ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz Berücksichtigung finden sollten?

4. Welche Berücksichtigung finden die Zwangsausgesiedelten im zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz?

5. Werden die für die Zwangsaussiedlung getroffenen Verwaltungsentscheidungen aufgehoben?

6. Ist für die Zwangsausgesiedelten wegen des mit der Vertreibung verbundenen besonderen Unrechts eine höhere Entschädigung als die Orientierung am 1,3fachen des Einheitswertes von 1935 vorgesehen?

7. Sieht die Landesregierung eine Möglichkeit, dass die Zwangsausgesiedelten wegen des ihnen widerfahrenen erhöhten Unrechts bei der Rückgabe ihres Vermögens von der Vermögensabgabe ausgenommen werden?

8. Welche Wiedergutmachung kommt für im Zusammenhang mit der Zwangsaussiedlung stehende berufliche Nachteile in Betracht?

9. Was hat die Landesregierung unternommen, um neben der strafrechtlichen Bewältigung der Zwangsaussiedlungen im vermögensrechtlichen Bereich die Ansprüche der Zwangsausgesiedelten zu schützen?

10.Sieht die Landesregierung eine Möglichkeit, dass leerstehende und zum Teil verfallende Immobilien der Zwangsausgesiedelten bereits vor der endgültigen Rückgabeentscheidung durch die früheren Besitzer bzw. deren Erben saniert und genutzt werden können?

11.Wie hoch schätzt die Landesregierung die im Zusammenhang mit der Zwangsaussiedlung entstandenen materiellen Schäden?

12.Wie hoch werden die Kosten für die Wiedergutmachung im Bereich der Zwangsaussiedlungen geschätzt?

Das Thüringer Justizministerium hat im Benehmen mit dem Thüringer Ministerium für Soziales und Gesundheit, dem Thüringer Finanzministerium und dem Thüringer Innenministerium die Große Anfrage namens der Landesregierung mit Schreiben vom 9. Juli 1993 wie folgt beantwortet:

I. Durchführung der Zwangsaussiedlung

Zu 1.: Die Partei- und Staatsführung der früheren Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ordnete bereits Anfang der 50iger Jahre die Säuberung von Gemeinden an, die sich in unmittelbarer Nähe der Demarkationslinie bzw. Staatsgrenze zur Bundesrepublik Deutschland befanden. Betroffen waren Personen, die nach dem Verständnis der Machthaber einen Unsicherheitsfaktor für das Grenzregime darstellten. Diese Bürger wurden aus der eingerichteten Sperrzone an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und ins Landesinnere deportiert.

Die Ausweisung wurde angeordnet für

- Ausländer und Staatenlose,

- Personen, die nicht polizeilich gemeldet waren,

- ehemalige Angehörige der SS, unverbesserliche Nazis, ehemalige Ortsbauernführer, Personen, denen unterstellt wurde, dass sie durch ihre reaktionäre Einstellung den Aufbau des Sozialismus hindern, sowie Personen, denen unterstellt wurde, dass sie ihrer Einstellung nach und durch ihre Handlungen eine Gefährdung für die Ordnung und Sicherheit im Grenzgebiet darstellen,

- Personen, die kriminelle Handlungen begangen hatten und denen unterstellt wurde, dass sie erneut straffällig werden,

- Erstzuziehende aus Westdeutschland und Westberlin,

- Rückkehrer aus Westdeutschland und Westberlin, die bis dato noch nicht durch gute Arbeitsleistung ihre Verbundenheit zur DDR unter Beweis gestellt hatten und bei ihrer Eingliederung in das gesellschaftliche Leben große Schwierigkeiten bereitet hatten und

- Personen, die als Grenzgänger aufgefallen waren oder die Arbeit der Grenzpolizei erschwert oder behindert hatten, wobei auf arbeitsscheue und asoziale Elemente, (Personen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr) usw. abgestellt wurde.

Familienangehörige, mit denen die Auszuweisenden in enger Gemeinschaft lebten oder die aufeinander angewiesen waren, wurden ebenfalls zwangsausgesiedelt.

Nicht selten spielten Denunziation, Diffamie und Diskriminierung bei der Auswahl des auszusiedelnden Personenkreises eine Rolle, was der Willkür Tür und Tor öffnete und die Zwangsaussiedlungsaktionen als einen Fall besonders eklatanter politischer Verfolgung erscheinen lassen.

Zwangsaussiedlungen erfolgten grundsätzlich auf dem Verwaltungswege, wobei das Verfahren mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar war. Sie wurden im wesentlichen in zwei groß angelegten Aktionen durchgeführt. Den völlig unvorbereiteten Betroffenen wurde in den frühen Morgenstunden durch Polizeikräfte mündlich mitgeteilt, dass sie das Grenzgebiet unverzüglich zu verlassen hätten. Gleichzeitig begannen Räumkommandos damit, das Notwendigste an beweglichem Vermögen und Hausrat auf bereitgestellte Lastkraftwagen zu verladen. Die Betroffenen selber wurden teilweise mit Personen- oder Lastkraftwagen, teilweise aber auch in Güterwagen der Reichsbahn in die sogenannten Aufnahmekreise transportiert. Dort wurde ihnen vielfach nur notdürftig Wohnraum zur Verfügung gestellt. Geleisteter Widerstand wurde an Ort und Stelle gebrochen. Es kam zu Festnahmen durch die Polizei.

Dem Thüringer Justizministerium liegen zahlreiche Eingaben mit erschütternden Erlebnisberichten vor.

Den Betroffenen wurde in keinem der hier bekannten Fälle mitgeteilt, welche konkreten Gründe für die Zwangsaussiedlung im Einzelfall vorliegen. Eingelegte Beschwerden wurden durch die Staatsorgane abgewiesen.

Die Bevölkerung in den Aufnahmekreisen wurde durch die Propaganda der SED dahingehend informiert, dass es sich bei den Zwangsausgesiedelten um Kriminelle aus dem Grenzgebiet handeln würde. Jahrelange Bemühungen der Betroffenen, wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren, blieben zu DDR-Zeiten in der Regel erfolglos.

Zurückgelassenes Inventar wurde nach der betreffenden Zwangsaussiedlungsaktion durch sogenannte Schätzkommissionen meistens viel zu niedrig bewertet und gegenüber den Betroffenen entschädigt.

Zurückgelassene landwirtschaftlich genutzte Grundstücke und Gebäude sollten nach einer Verordnung vom 17. Juli 1952 (GBl. I S. 615) nach den Vorschriften über die Durchführung der demokratischen Bodenreform behandelt werden. Die betreffenden Grundstücke wurden somit auf Beschluß des Rates des Kreises einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft oder einem Volkseigenen Gut zur unentgeltlichen Nutzung übertragen. Den Zwangsausgesiedelten sollte hingegen mit gleicher Verordnung die Möglichkeit eingeräumt werden, am neuen Wohnort Grundeigentum bis zum Umfang ihres bisherigen landwirtschaftlichen Betriebes zugewiesen zu bekommen. In Ausnahmefällen sollte auch eine Entschädigung in Geld gewährt werden können.