Prüfung eines Gewalthintergrundes als mögliche Erkrankungsursache

Die Prüfung eines Gewalthintergrundes als mögliche Erkrankungsursache, auch wenn er nicht auf den ersten Blick, z. B. durch entsprechende Verletzungen, sichtbar erscheint, ist als ein Patientinnenrecht zu definieren. Persönliche Ressourcen und individuelle Bewältigungsstrategien zu fördern ist bei Überlebenden von Gewalt mit einer Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse verbunden, auch wenn sie schon vor vielen Jahren stattgefunden haben.

Bisher gibt es keine verlässlichen Zahlen zur Gewaltprävalenz in Deutschland. Eine entsprechende Studie hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt. Mit Ergebnissen ist 2004 zu rechnen. Eine vorsichtige Gesamtschätzung der Prävalenz, die regionale Studien aus Deutschland sowie Studien aus anderen europäischen Ländern einbezieht, kommt zu dem Ergebnis, dass bis zu 22 % aller Frauen im Verlauf ihres Lebens als Kind oder als Erwachsene geschlechtsbezogene Gewalt in einer Ausprägung erleiden, die ihre Gesundheit beeinträchtigt. Pflegekräfte, Hebammen, und andere im Gesundheitswesen Tätige müssen davon ausgehen, dass eine von fünf Frauen geschlechtsbezogene Gewalt ­ zwar nicht immer aktuell ­ erlebt hat und ihre Beschwerden auch darin eine Ursache haben können und Bohne, 2003).

Die heutige Versorgungssituation im Gesundheitswesen ist dadurch gekennzeichnet, dass das Thema Gewalt noch keinen angemessenen Stellenwert hat. Gewalt und ihre Folgen werden bisher von den im Gesundheitswesen Tätigen jedweder Profession zu wenig als Ursache von Krankheit und Verletzung wahrgenommen. Deswegen erhalten die betroffenen Frauen oft keine leidensgerechte Behandlung und Betreuung.

Gesundheitlichen Folgen im Einzelnen

Obwohl die Folgen von Gewalteinwirkungen sehr vielfältig sein und zu unterschiedlichen, auch chronischen Gesundheitsproblemen führen können, treten folgende Störungen typischerweise vermehrt bei Frauen auf, die Opfer von Gewalt geworden sind: Angstzustände und Depressionen, Schlafstörungen, posttraumatische Belastungsstörung, Beziehungs- und Sexualstörungen, Sucht, chronische Schmerzerkrankungen.

Weiterhin können für die verschiedenen Gewaltformen spezifische Gesundheitsprobleme als Folgen geschlechtsbezogener Gewalt identifiziert werden. Nach sexueller Traumatisierung in der Kindheit werden über das posttraumatische Belastungssyndrom hinaus insbesondere bei lang anhaltenden Traumatisierungen, wie z. B. bei Opfern ritueller Gewalt, dissoziative Störungen bis hin zur multiplen Persönlichkeit beschrieben (Hagemann-White und Bohne, 2003). Besonders kennzeichnend für schwere sexuelle Traumatisierung bei Frauen ist selbstverletzendes Verhalten, siehe auch Kapitel 4.14). Warnzeichen, so genannte red flags, die auf in der Kindheit erlittene sexuelle Gewalt hinweisen, insbesondere wenn mehrere gemeinsam auftreten, sind nach Heise u.a. 19:

· Schwangerschaft unter 14 Jahren,

Zitiert nach Hagemann-White und Bohne, 2003

· vaginale Verletzung oder Blutungen,

· schmerzhaftes Urinieren,

· Unterleibs- oder Beckenschmerzen,

· sexuelle Probleme,

· Krämpfe in den Muskeln um die Öffnung der Scheide,

· Angstzustände, Depressionen, selbstverletzendes Verhalten,

· Schlafstörungen,

· Geschichte von chronischen, unerklärlichen physischen Symptomen,

· Unterleibsuntersuchungen vermeiden oder Schwierigkeiten damit haben,

· Alkohol- oder andere Drogenprobleme,

· sexualisiertes Verhalten und

· Essstörung.

Es ist unbestritten, dass auch minderjährige Jungen von sexueller Gewalt betroffen sind und dass es diesbezüglich Handlungsbedarf gibt. Die Angaben zur Häufigkeit sexueller Gewalt bei Jungen schwanken zwischen 2,1­5,8 % (Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland, 2001). Bezogen auf die zielgruppenspezifische Aufgabenstellung der Enquetekommission muss diesem Untersuchungsbedarf an anderer Stelle nachgekommen werden.

Nach Vergewaltigungen und anderen massiven sexuellen Übergriffen finden sich häufig Verletzungen am ganzen Körper sowie im genitalen Bereich. Außerdem können rezidivierende Harnwegsinfektionen, Störungen der Menstruation und Beeinträchtigung der reproduktiven Gesundheit auftreten (Hagemann-White und Bohne, 2003).

Die Auswirkungen der erlebten Gewalt sind umso gravierender, je jünger das Opfer ist, je länger die Gewalteinwirkung besteht, je mehr Brutalität vom Täter ausgeübt wird, je näher die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Täter und Opfer ist und um so weniger schützende Vertrauensbeziehungen bestehen.

Bei häuslicher Gewalt, verstanden als Misshandlung und sexuelle Gewalt in engen Beziehungen, finden sich häufig als direkte Folgen Stich- und Hiebverletzungen, Schnitt- und Brandwunden, Prellungen, Hämatome und Würgemale. Häufig beschrieben werden Kopf-, Gesichts-, Nacken-, Brust- und Armverletzungen, Frakturen insbesondere des Nasenbeins, Arm- oder Rippenbrüche, Trommelfellverletzungen, Kiefer- und Zahnverletzungen (Hagemann-White und Bohne, 2003). Je nach Art der Verletzungen können bleibende Behinderungen, wie z. B. Einschränkungen der Sehund Hörfähigkeit entstehen (Hagemann-White und Bohne, 2003; siehe auch Kapitel 4.14)

Weitere somatische Beschwerden können Kopf-, Rücken-, Brust- und Unterleibsschmerzen sowie Magen-Darm-Störungen sein (Hagemann-White und Bohne, 2003). Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben, berichten über chronische Anspannung, Angst und Verunsicherung, die sich als Stressreaktionen in psychosomatischen Beschwerdebildern und chronischen Erkrankungen (z.B. Migräne und chroni sche Rückenschmerzen) ausdrücken können. So stellen die von Campbell (Hagemann-White und Bohne, 2003) zusammengefassten Studien einhellig fest, dass diese Frauen signifikant häufiger an Kopfschmerzen und Migräne sowie unter chronischen Nacken-Schulter-Schmerzen leiden.

Von häuslicher Gewalt betroffene Frauen berichten, so das Ergebnis mehrerer Studien, auch signifikant häufiger über Magen-Darm-Probleme (z.B. Appetitverlust und Essstörungen) und diagnostizierte funktionale Magenkrankheiten, die mit chronischem Stress assoziiert werden (Hagemann-White und Bohne, 2003). Diese Beschwerden können während einer akuten gewalttätigen und somit mit Stress verbundenen Beziehung beginnen, können aber auch mit erlebter sexualisierter Gewalt in der Kindheit zusammenhängen.

Als Warnzeichen für häusliche Gewalt werden folgende so genannte red flags formuliert (Hagemann-White und Bohne, 2003):

· chronische Beschwerden, die keine offensichtliche physische Ursache haben,

· Verletzungen, die nicht mit der Erklärung, wie sie entstanden sind, übereinstimmen,

· verschiedene Verletzungen in unterschiedlichem Heilungsstadium,

· ein Partner, der übermäßig aufmerksam ist, kontrolliert und nicht von der Seite der Frau weichen will,

· physische Verletzungen während der Schwangerschaft,

· spätes Beginnen der Schwangerschaftsvorsorge,

· häufige Fehlgeburten,

· häufige Suizidversuche und -gedanken,

· Verzögerungen zwischen Zeitpunkt der Verletzung und Aufnahme der Behandlung,

· chronische Darmstörungen und

· chronische Beckenschmerzen.

Die Wahrscheinlichkeit eines gynäkologischen Leidens war in einer großen repräsentativen US-Erhebung bei misshandelten Frauen dreimal höher als bei der Kontrollgruppe. Besonders belastet sind Frauen, die sowohl körperliche Misshandlung als auch sexuelle Gewalt in der Beziehung erleben. Zusammenfassend stellt Campbell (Hagemann-White und Bohne, 2003) fest: Gynäkologische Probleme bilden den deutlichsten konsistenten, lang andauernden und im Ausmaß stark ausgeprägten Unterschied in der somatischen Gesundheit zwischen misshandelten und nicht misshandelten Frauen überhaupt.

Besonders die reproduktive Gesundheit wird durch erlebte Gewalt bedroht. Gewalterfahrungen können dazu führen, dass Frauen längere Zeit unfruchtbar bleiben oder immer wieder in rascher Folge schwanger werden. Spontane Fehlgeburten, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen können sich einstellen. Die Frauen können außerstande sein, die Mutterschaft innerlich anzunehmen.