Rehabilitation

Auch die stationäre und ambulante psychiatrische Versorgung weist starke Defizite auf, da sie Gewalterfahrungen von Frauen nicht systematisch in ihrer Bedeutung für Erkrankungen, Diagnose, Behandlung und Prognose aufgreift.

Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) bietet unter bestimmten Voraussetzungen anerkannten Gewaltopfern u.a. die Finanzierung medizinischer oder beruflicher Rehabilitation und Entschädigungsleistungen wie z. B. Grund- und Zusatzrente. Um Leistungen aus dem OEG zuerkannt zu bekommen, ist es jedoch notwendig, dass die Schädigungsfolgen des Gewaltopfers kausal auf ein Ereignis direkt zurückgeführt werden können. Detaillierte Befragungen zu dem genauen Tathergang sind daher bislang unersetzlich, da die Aussagen der Gewaltopfer als Beweiserleichterung gelten. Für viele Frauen, die besonders in ihrer Kindheit und Jugend sexueller Gewalt und Misshandlung ausgesetzt waren, stellen die notwendigen detaillierten Schilderungen der Art des Gewalterlebens und der genauen Zeitpunkte eine Retraumatisierung im Rahmen der Begutachtung dar. Dies ist eine erhebliche Barriere für betroffene Frauen, überhaupt einen Antrag zu stellen, um als Opfer im Sinne des OEG anerkannt zu werden.

Die notwendigen Unterstützungsangebote der Frauen- und Mädcheninfrastruktur (Frauennotrufe, -beratungsstellen, Frauenhäuser, Mädchenberatungsstellen, Mädchenhäuser) sind nicht dauerhaft ökonomisch gesichert. Ihre Finanzierung ist von jährlichen Haushaltsentscheidungen abhängig. Dadurch ist eine gleichbleibende flächendeckende Versorgung nicht sicher gewährleistet.

Einer bedarfsgerechten Versorgung von Migrantinnen stehen Sprach- und Kommunikationsbarrieren und mangelnde interkulturelle Kompetenz vieler Behandelnder entgegen (siehe auch Kapitel 4.10). Es fehlt im Gesundheitswesen an qualifizierten Dolmetscherinnen und muttersprachlichen Therapeutinnen. Strukturelle Barrieren für eine notwendige therapeutische Behandlung bergen auch das Bundessozialhilfegesetz und Asylbewerberleistungsgesetz. Manche Flüchtlingsfrauen haben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur Anspruch auf Behandlung akuter Erkrankungen, wodurch eine therapeutische Behandlung von traumatisierenden Gewalterfahrungen, die meist länger zurückliegen, ausgeschlossen ist. Eine Traumatherapie wird zu selten finanziert.

Bei Frauen und Mädchen mit Behinderungen werden Gewaltauswirkungen in den meisten Fällen nicht erkannt und wahrgenommen, da der Fokus der Behandelnden fast immer auf die Behinderung an sich gesetzt wird. In den meisten Rehabilitationseinrichtungen und Krankenhäusern fehlen Erfahrungen und Methoden, um sexualisierte Gewalt unabhängig von der Behinderung zu identifizieren (siehe auch Kapitel 4.4).

Bisher blieb die Situation heute alter Frauen mit sexualisierten Gewalterfahrungen in der gesundheitlichen Versorgung nahezu unberücksichtigt. In der Gerontopsychiatrie, in die Frauen ab 60 Jahren aufgenommen werden, kommt die Diagnose posttraumatisches Belastungssyndrom kaum vor (Fachgespräch, EKPr 13/61, 19.5.2003, S. 83).

Umdenken im Gesundheitswesen gefordert: Handlungsfelder für eine bessere Versorgung von Gewaltopfern

Auch wenn derzeit noch von einer gravierenden gesundheitlichen Unter- und Fehlversorgung gewaltbetroffener Frauen und Mädchen auszugehen ist, findet das Thema Gewalt im Geschlechterverhältnis zunehmend gesundheitspolitische Anerkennung. Diese Chance gilt es aktuell zu nutzen, denn dem Gesundheitssystem kommt eine ganz entscheidende Rolle bei der Prävention von Gewalt zu. Herkömmliche Strukturen unseres Gesundheitswesens, darin verhaftete Denkmodelle, sowie Behandlungsangebote passen nicht auf die gesundheitliche Versorgung von Gewaltopfern. Das beginnt schon damit, dass viele Betroffene nicht von sich aus über die erlittene Gewalt reden, wobei Angst, Scham und mangelndes Vertrauen wesentliche Faktoren sind.

Im Gesundheitssystem Tätige müssen in der Erkenntnis ihrer eigenen Schlüsselrolle und ihrer Interventionsmöglichkeiten gestärkt werden. Die Grenzen dessen, was leisten können und sollten, müssen deutlich werden. Sie sind in festzulegen und weitere Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeigen und anzubieten. Gefragt ist ein interdisziplinäres Umdenken hin zu einer verbesserten Kooperation innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens, insbesondere mit Zufluchts- und Frauenberatungsangeboten. Fachkräfte im Gesundheitswesen brauchen Ermutigung und Unterstützung in ihrer Bereitschaft, sich mit den Problemen der Betroffenen auseinander zu setzen, vermeintliche Opfer anzusprechen, diese gründlich zu untersuchen, Befunde rechtssicher zu dokumentieren und ihnen schließlich akzeptable Wege aus der Situation aufzuzeigen.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Handlungsfelder mit dem Ziel, die gesundheitliche Versorgung gewaltbetroffener Frauen und Mädchen zu verbessern (Hagemann-White und Bohne, 2003).

Gewalterfahrungen als Krankheitsursache abklären

Die Frage nach erlittener Gewaltanwendung ist im Rahmen der Anamnese oder im Behandlungssetting einer ambulanten, stationären und rehabilitativen Versorgung zu stellen. Insbesondere bei akuten Verletzungen, aber auch bei der Behandlung chronischer Beschwerden ist Gewalt als mögliche Ursache abzuklären. Muster für sensible Fragestellungen und respektvolle Behandlung bzw. Trainingsmaterial liegen in Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften englischsprachiger Länder bereits vor.

Gefordert sind hier folgende Berufsgruppen: niedergelassene aller Fachrichtungen, medizinisch und pflegerisch Tätige in der Psychiatrie, ärztliches und pflegerisches Personal in Krankenhäusern (insbesondere in der ersten Hilfe), Hebammen sowie der psychotherapeutischen Beratungsstellen und der Suchtkrankenhilfe. Besondere Aufmerksamkeit gegenüber Zeichen von Gewaltanwendung ist von Hebammen und Pflegekräften in der Schwangerenversorgung gefordert, da in der Schwangerschaft statistisch eine erhöhte Gefahr von Gewalt im Geschlechterverhältnis besteht.

Literaturhinweise und Internetadressen enthält die Studie von Carol Hagemann-White und Sabine Bohne (S. 55­57).

Ob es sich empfiehlt, routinemäßig alle Patientinnen nach Gewalterfahrungen zu fragen (Screeningverfahren) oder nur bei bestimmten Symptomen, Beschwerden und daraus abgeleiteten Verdachtsmomenten, wird kontrovers diskutiert und hängt sicherlich von den Rahmenbedingungen ab. Internationale Erfahrungen und Studien sowie eine jüngste Befragung unter deutschen Patientinnen zeigen, dass Frauen direkt nach Gewalt gefragt werden wollen (Hagemann-White und Bohne, 2003; Brzank, 2003). Screeningfragen stellen sicher, dass möglichst viele Gewalttaten erkannt, aufgedeckt und entsprechend behandelt werden. Sie setzen aber auch voraus, dass die Fragenden sensibilisiert und geschult sind. Informationsdefizite und mangelnde Fortbildung wie fehlende Abrechnungsziffern für längere Gespräche werden allerdings unter hiesigen als größte Barriere identifiziert. Denkbar ist eine schrittweise Einführung des Screeningverfahrens mit zunächst vorbereitender Sensibilisierung. Dazu könnten über bestehende Strukturen wie z. B. Ärztekammern, Berufsverbände und Krankenkassen Fachartikel veröffentlicht und Grundwissen zum Thema sowie Handlungsleitlinien für den Umgang unter Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse der Frauen verbreitet werden. Um längere und umsichtige Gespräche zur Abklärung eines möglichen Gewalthintergrundes für niedergelassene Praxen zu erleichtern, empfiehlt es sich, neue Abrechnungsziffern einzuführen und diese an die Voraussetzung einer Fortbildung zu knüpfen. Dafür sind die kassenärztlichen Vereinigungen zuständig.

Für Migrantinnen wäre die Einrichtung eines Dolmetscherinnen- und Therapeutinnenpools sinnvoll, um eine effiziente gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten.

Das Ethnomedizinische Zentrum in Hannover z. B. hat ein solches Angebot.

Zudem könnte eine Maßnahme der Stadt Wien, wo ein Fonds eingerichtet wurde, aus dem die gesundheitliche Versorgung für Migrantinnen ohne Aufenthaltsstatus gewährleistet wird, beispielgebend für die hiesige Landesregierung sein.

Mädchen werden häufig mit akuten Beschwerden und Schmerzen in ein Krankenhaus eingeliefert und ohne Befund entlassen. Ihre Beschwerden in Zusammenhang mit Gewalterfahrungen zu bringen, geschieht höchst selten. Auch wenn sie darüber berichten, wird ihnen oft nicht geglaubt.

In der Gerontopsychiatrie, in der Altenarbeit und -pflege muss an das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung gedacht werden. Entsprechend müssen diese Zusammenhänge Ausbildungsinhalte werden.

Informationsmaterial bereitstellen und verbreiten Qualifizierte und handhabbare Informationen zu Instrumenten der Gewaltintervention im Gesundheitswesen sind vor allem gefragt in den Bereichen:

· Anamnese, Diagnostik, Therapie und Dokumentation,

· Beratung und Vermittlung an spezialisierte Fachkräfte und Unterstützungseinrichtungen.

Beispiele guter Praxis sind ausreichend vorhanden (Hagemann-White und Bohne, 2003); es gilt, sie weiter zu verbreiten.

In vielen Kreisen, Städten und Gemeinden fehlt es sowohl den Behandelnden im Gesundheitswesen als auch den betroffenen Frauen und Mädchen an Kenntnissen