Als belastende Migrationshintergründe sind vorrangig Krieg Flucht Folter und Vergewaltigung zu nennen
Die Lebensbedingungen in der Illegalität können zu einem spezifischen Risikoprofil führen, das geprägt wird durch die Folgen genereller Unsicherheit und psychischer und physischer Belastung, die Umstände illegaler Arbeitsbedingungen (Unfall- und Infektionsrisiken, Risiken für sexuell übertragbare Erkrankungen, Gewalt, etc.) und je nach Morbiditätsspektrum der Herkunftsländer durch bereits vorhandene Erkrankungen (z.B. Tuberkulose). Bekannt ist, dass das (Nicht-)Inanspruchnahmeverhalten von Gesundheitsleistungen von illegalen Migrantinnen geprägt ist durch Angst, der Ausländerbehörde gemeldet zu werden. Dies führt dazu, dass Krankheiten oft verschleppt werden, Schwangerschaften nicht ärztlich begleitet werden, Geburten ohne fachgerechte Betreuung erfolgen, ärztliche Untersuchungen der Neugeborenen unterbleiben und insbesondere psychische Erkrankungen unbehandelt bleiben (Lindert, 2003). 4.10.2.2 Gruppenspezifische Belastungen Migrationsgründe wirken auf soziales Wohlbefinden und Gesundheit. Dass Migration als besonders einschneidende und in der Regel belastende Lebenserfahrung Auswirkungen auf die seelische Gesundheit der Betroffenen hat, ist unstrittig. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Migrantinnen je nach ihren spezifischen Migrationserfahrungen häufiger an bestimmten psychischen Störungen und Erkrankungen leiden. Unbestritten ist auch, dass in der Gruppe der Flüchtlinge, Asylbewerberinnen und Frauen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus posttraumatische Belastungsstörungen sehr häufig anzutreffen sind.
Als belastende Migrationshintergründe sind vorrangig Krieg, Flucht, Folter und Vergewaltigung zu nennen. Aber auch Verlust/Trennung von Familie und wichtigen Bezugspersonen sowie soziale Ausgrenzung und Isolation, kulturelle Anpassungsprobleme aufgrund erheblicher kultureller Differenzen zwischen Herkunftsland und Deutschland, fehlende soziale Netzwerke, Sprachbarrieren, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit belasten. Untersuchungen zeigen, dass kultureller Anpassungsdruck am stärksten behandlungsbedürftige Depressionen bei Migrantinnen auslöst. (Kolk, 2000; Özkan, 2003; Borde und Rosendahl, 2003). Traumatisierte Migrantinnen Traumatisierte Migrantinnen teilen eine Reihe von Erfahrungen wie den Verlust der Heimat, das Einleben in eine fremde Kultur, die sprachliche Isolation oder das Erleben einer teils offen gezeigten Ablehnung bis hin zu aggressiven Übergriffen. Die Kumulation dieser unterschiedlich belastenden Erfahrungen in Kombination mit der Gewalterfahrung im Vorfeld und u.U. während des Migrationsprozesses erzeugen eine besonders problematische Lebenssituation mit entsprechenden psychopathogenetischen Auswirkungen. Opfer menschlicher Gewalt, ob durch Kriegseinwirkungen oder durch Verfolgung, Haft, Folter und sexuelle Misshandlung haben neben körperlichen Versehrungen eine fundamentale Zerstörung von Wertvorstellungen und eine ebenso starke Erschütterung des eigenen Selbstbildes erfahren. Diese traumatisierenden Belastungen lösen immer wiederkehrende Störungen und Symptome wie Angstreaktionen, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Aufmerksamkeitsstörungen oder auch schwer kontrollierbare Affektschübe etc. aus, die sehr häufig aber erst An lass einer therapeutischen Hilfestellung werden, wenn so genannte komorbide2
Störungen bei posttraumatischen Belastungsreaktionen auffällig werden. Als solche psychischen oder psychosomatischen Probleme, die bei den Klientinnen ein entsprechendes Hilfeersuchen gegenüber Professionellen auslösen, sind neben Suizidalität, Medikamenten-, Alkohol- und Drogenmissbrauch vor allem auch Somatisierungsstörungen (häufig in Form von chronischen Schmerzzuständen), und erhöhte dissoziative Störungen (körperliche Ausfälle, Ohnmachtsanfälle, Selbstgespräche, Hören von Stimmen bis hin zu Nicht-mehr-sehenkönnen) zu nennen (Abdallah-Steinkopff, 2001). Problematisch ist, dass solche Störungen, wenn sie von den Patientinnen bei den behandelnden (s.u.) vorgestellt werden, häufig nicht mit der Traumatisierung in Verbindung gebracht werden, da die Patientinnen in den seltensten Fällen von sich aus das Trauma (das häufig auch schambesetzt ist oder verdrängt wird) ansprechen. Daher ist es schwierig, den Patientinnen zu einer entsprechenden Behandlung bzw. Therapie zu verhelfen, wenn die behandelnden nicht entsprechend sensibilisiert oder geschult sind.
Diese schweren psychischen Erkrankungen können in den üblichen ambulanten und stationären Versorgungseinrichtungen nicht ausreichend behandelt werden. Hierzu sind spezielle psychotherapeutische, psychosomatische und psychiatrische Hilfsangebote vonnöten, um einen Heilerfolg dieser schwerstbelasteten Migrantinnen zu ermöglichen.
Arbeitsmigrantinnen und Aussiedlerinnen
Bei den beiden anderen großen Migrantinnengruppen, den Arbeitsmigrantinnen und den deutschstämmigen Aussiedlerinnen aus Russland und den ehemaligen Ostblockstaaten, fallen zunächst die Jugendlichen auf, die gegenüber ihren einheimischen Altersgenossinnen überproportional häufig Sucht- und Devianzprobleme zeigen, die nicht zuletzt durch extreme Sprachprobleme, Misserfolge in der Schule sowie eine Diskrepanz zwischen rigidem Erziehungsstil und erlebten sozialen Freiräumen erzeugt werden (Lajios, 1993 und 1998). In der Vergangenheit waren Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu einheimischen Mädchen sehr viel weniger von Suchtproblemen betroffen. Jedoch ändert sich dies zunehmend in dem Sinne, dass schützende familiäre Faktoren sich auflösen und die Suchtgefährdung für Mädchen mit Migrationshintergrund deutlich ansteigt (Weilandt, Rommel und Raven, 2003).
Bei der großen Gruppe der Arbeitsmigrantinnen mittleren Alters fallen besonders mehrfach belastete Frauen auf, die aufgrund ihrer zumeist mäßigen bis schlechten Sprachkenntnisse und angesichts des Mangels an muttersprachlichen und zielgerichteter Beratungsangebote kaum Unterstützung finden.
Bei der Gruppe der älteren Arbeitsmigrantinnen werden in den nächsten Jahren in zunehmendem Umfang geriatrische bzw. gerontopsychiatrische Probleme und Störungen erwartet. U.a. mit dieser Frage beschäftigt sich derzeit die Enquetekommission Situation und Zukunft der Pflege in NRW des Landtags. Im Rahmen ihrer Analyse zu Strukturen, Angebots- und Organisationsformen von Prävention, Gesundheits2
Komorbidität bedeutet das Vorkommen von zwei oder mehr diagnostisch unterscheidbaren Krankheiten nebeneinander bei einer Person. förderung und Rehabilitation für pflegebedürftige Menschen legt sie einen Schwerpunkt auf die Gruppe der älteren (Olbermann, Dietzel-Papakyriakou, 1995; Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, 2002). 4.10.2.3 Mobilisierung von Ressourcen und Integration
Aus der Nennung der Problemlagen und Risikofaktoren kann nicht gefolgert werden, dass Migrantinnen nicht auch über spezifische Ressourcen und Kompetenzen verfügen, die potenzielle gesundheitliche Risiken auffangen (Personen, die auswandern sind eher jung und gesund, so genannter healthy migrant effect). Eine pathologisierende Sichtweise von Gender und Migration kann dazu führen, dass die Chancen und positiven Herausforderungen der Migration gerade auch für junge Frauen nicht gesehen werden. Migrationsgründe und die damit verbundene Lebensperspektive haben einen wesentlichen Einfluss auf die subjektiv empfundene gesundheitsbezogene Lebensqualität von Migrantinnen. Studien belegen (Koch, 2003; Mohammadzadeh, 2003), dass Ressourcen und Potenziale von Migrantinnen erheblich besser in die Aufnahmegesellschaft eingebracht werden können, wenn günstige soziale Bedingungen gegeben sind, die den Migrantinnen Handlungsoptionen und Teilhabechancen eröffnen, die für die Verwirklichung individuell gesetzter Ziele genutzt werden können. Dieser Integrationsprozess geht mit positiven Selbstwert- und Kohärenzgefühlen einher, die gesundheitsfördernd wirken. Deshalb müssen Gesundheitsstatus und gesellschaftliche Integration in engem Zusammenhang gesehen werden.
Integration von Migrantinnen ist gesundheitsfördernd, während misslungene oder mangelhafte Integration in die Aufnahmegesellschaft sich als gesundheitsmindernder Faktor darstellen lässt.
Danach ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich Gesundheitsrisiken für Migrantinnen erhöhen, wenn sich über einen erheblichen Zeitraum Risikofaktoren wie niedrige Schichtzugehörigkeit, sprachlich bedingte Zugangsbarrieren und instabile Lebenslagen manifestieren. Deshalb muss auch unter Berücksichtigung der möglichen Mobilisierung von Ressourcen potenziell von einem erhöhten gesundheitlichen Risiko für Migrantinnen ausgegangen werden.
Gleichzeitig sollten im Rahmen einer gelungenen healthy-Integrationsstrategie eine migrantinnenpopulationsbezogene Risikobewertung bereits bei oder vor Einreise zur Verfügung stehen, die es erlaubt, Gruppen mit niedrigem Risiko und Gruppen mit hohem Risiko zu unterscheiden und entsprechende Interventionsmaßnahmen zielgerichteter auf kommunaler und Länderebene anzubieten. Laut IOM (International Organization for Migration) haben Migrantinnen weltweit übereinstimmend besondere Gesundheitsprobleme im Bereich von:
· psychosozialem Stress,
· genderassoziierten Erkrankungen,
· mit Armut assoziierten Erkrankungen und
· Mutter-Kind-Gesundheit, die zurzeit nur unzureichend von den Gesundheitsdiensten migrantinnenaufnehmender Staaten erfasst werden (IOM Statement, 2003).